Kerstin Marienburg: Die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse im II. Weltkrieg. Die Diskussion um die Bestrafung der Kriegsverbrecher im II. Weltkrieg sowie die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesses – insbesondere des Nürnberger Prozesses – in den Kriegsjahren durch die Alliierten

2. März 2009 | Von | Kategorie: Rezensionen

Hamburg (Verlag Dr. Kovac) 2008, 1236 Seiten, ISBN 103-8300-3377

Was diese umfangreiche Studie leisten will, das steht im Titel. Mehr verraten auch die wenigen Paragrafen der Einleitung nicht. Dafür begrüßt den Leser gleich ein umfangreiches und gut gegliedertes Inhaltsverzeichnis, dem zu entnehmen ist, dass das Werk in drei Teile gegliedert ist: Ein erster, relativ kurzer, bringt eine Übersicht über die Entwicklung des internationalen Strafrechts seit dem Wiener Kongress. Diese knapp hundert Seiten bringen wenig Neues, mit einiger Ausführlichkeit werden die Ansätze zu internationalen Strafbestimmungen am Ende des Ersten Weltkriegs und in der Zeit des Völkerbunds dargestellt, wobei die Autorin betont, dass aus den internationalen Friedensbemühungen einschließlich des Briand-Kellog-Pakts keine persönliche strafrechtliche Verantwortung von Staatsmännern abzuleiten sei.

Der fast 600 Seiten lange Zweite Teil zeichnet die „politischen Bemühungen während des II. Weltkriegs zur Vorbereitung der Bestrafung von Kriegsverbrechen“ im Einzelnen nach. Dieser Titel macht eine doppelte Einengung im Fokus der Fragestellung deutlich, die leider nicht begründet wird. Zum einen ist nur von Kriegsverbrechen die Rede, im Nürnberger Prozess, in den Diskussionen vor und während des Krieges, und erst recht in der Nachgeschichte des Verfahrens, war aber, begründet in der besonderen Qualität der NS-Verbrechen, immer auch von politischen Massenverbrechen die Rede, die über den herkömmlichen Begriff von Kriegsverbrechen hinaus gingen, egal ob man sie „atrocities“, Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit oder anders nannte. Und zweitens ist diese Diskussion naturgemäß nicht an den zeitlichen Rahmen des Krieges gebunden, eine so enge Einschränkung erscheint daher wenig sinnvoll. Zwar geht Marienburg im ersten Teil kurz auf die seit dem Ersten Weltkrieg anhaltende völkerrechtliche Diskussion um diese nicht an Kriegshandlungen geknüpften Großverbrechen ein, doch ergibt sich daraus keine sinnvolle Verbindung zu dem im zweiten und dritten Teil Dargestellten.

Der Zweite Teil wird so im Grund zu einer dokumentierten Auflistung der Vorgeschichte des Nürnberger Prozesses, wobei die Autorin allerdings über die vorhandenen Quellenwerke, vor allem von Bradley Smith und Arieh Kochavi wenig Neues hinaus beiträgt. Text für Text, Dokument für Dokument werden uns Stücke dieser komplizierten, widersprüchlichen und diskontinuierlichen Entwicklung in strenger Chronologie vorgestellt. Immerhin folgt dem am Ende eine siebenseitige Zusammenfassung, die diese Entwicklung etwas strukturiert (mit teils durchaus diskussionswürdigen Einschätzungen) und mit einigen Thesen, die die relative Orientierungslosigkeit vor allem der Großmächte in der Frage der Bestrafung der Kriegsverbrecher deutlich machen. Obgleich wenig originell, ist die Lektüre dieser Ergebniszusammenfassung insofern eine Wohltat, als sie die einzige Stelle im Buch ist, wo die Autorin einen solchen Versuch in nennenswerter Weise unternimmt.

Zu Recht räumt Marienburg in dieser Darstellung der Entwicklung der alliierten Pläne für die Bestrafung der NS-Verbrecher u.a. dem so genannten „Morgenthau-Plan“ ein langes Kapitel ein, war der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau Jr. doch einer der führenden Köpfe der Fraktion der „Falken“ hinsichtlich der Pläne für die Nachkriegspolitik. Diese Position hatte in und außerhalb der USA eine breite Anhängerschaft, die in den USA z.B. in der „Society for the Prevention of World War III“ eine Plattform besaß, zu der zumindest zeitweise auch Persönlichkeiten wie Eleanor Roosevelt, Sumner Welles oder Eugene Rostow gehörten. Nach Umfragen, die Marienburg selbst anführt, war fast die Hälfte der Amerikaner dafür, die NS-Verbrecher ohne weiteres Verfahren zu erschießen. Warum Marienburg Morgenthaus Haltung aus seiner Familiengeschichte und damit seiner jüdischen Abstammung glaubt herzuleiten zu müssen, ist daher nicht nachvollziehbar. Zumal wenn sie bei der Darstellung von Henry Morgenthau Senior sogleich betont, dass er in den USA reich geworden sei und daran die Behauptung anschließt, er habe sich einen Botschafterposten in der Türkei (gemeint ist das Osmanische Reich) durch Geld erkauft, während sie mit keinem Wort die historische Rolle Morgenthaus bei der Denunzierung des Genozids an den Armeniern 1915 und der Massenvertreibung der Griechen erwähnt. Stattdessen macht sie bei dem Botschafter vor allem „deutschfeindliche Ideen“ aus, die dann offenbar auf den Sohn vererbt wurden. Wenn Politik so einfach wäre“¦

Der dritte Teil des Werkes – fast die Hälfte des Umfangs – ist der Präsentation von Positionen hauptsächlich akademischer Rechtsgelehrter gewidmet, die sich direkt oder am Rande mit der Frage beschäftigt haben, wie Kriegsverbrechen geahndet werden sollten. Dabei erweist sich die Abgrenzung zu den als „politische Diskussion“ charakterisierten Dokumenten des zweiten Teils nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Während zum Beispiel die Stellungnahmen einiger linker Exilorganisationen in diesem „akademischen“ Dritten Teil erscheinen, stehen Erklärungen etwa des American Jewish Congress, die die Bestrafung der Nazi-Täter wegen der Verbrechen an den Juden forderten, im „politischen“ Zweiten Teil. Eine Entscheidung, die bestenfalls beliebig ist, vielleicht aber auch damit zu tun hat, dass die Autorin die Stellungnahme des AJC als gänzlich uninformierte und irreale Position „der jüdischen Interessenvertretung“ abqualifiziert, in einem Absatz, der auch sprachlich zu den missratensten des Werkes gehört.

Ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen „politischen“ und „akademischen“ Texten und zugleich auch der strengen zeitlichen Begrenzung der aufgenommenen Arbeiten auf den Tag bis zu Eröffnung des IMT stellt das Werk von Egon Schwelb dar. Dieser tschechische Staatsrechtler, der 1939 mit britischer Hilfe aus Gestapohaft in Prag nach London übersiedeln konnte, war einer der wichtigsten Akteure in der United Nations War Crimes Commission, deren Arbeit Marienburg im Zweiten Teil wiederholt zu Recht breiten Raum einräumt. Ab März 1945 war er Mitglied des Sekretariats der Commission, zuständig für die Rechtsabteilung und damit für die Erarbeitung der rechtspolitischen Grundlagen der Arbeit der Kommission. Er schrieb auch große Teile des Abschlussberichts der UNWCC, worin er sich vor allem mit den materiellrechtlichen Fragen der internationalen Strafgerichtsbarkeit so fundiert wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit auseinandersetzt. Zwar wurde der Bericht erst 1948 veröffentlicht, doch sind längere Passagen darin fast textgleich mit zwei Artikeln, die Schwelb bereits 1946 im British Yearbook of International Law veröffentlichte. Er fasste darin zusammen, was er in den Jahren zuvor in der UNWCC vertreten hatte, aber eben in offizieller Funktion, nicht als akademischer Publizist. Durch diesen Umstand gelangt er nicht ins Zeitfenster der Arbeit von Marienburg, obgleich er zweifellos ein weit einflussreicherer Autor war als viele der im Dritten Teil von Marienburgs Buch aufgeführten.

Die Arbeiten dieses Dritten Teils sind wie auch im Zweiten Teil chronologisch angeordnet und werden in unterschiedlicher Ausführlichkeit referiert. Da die wenigsten der Autoren heute noch geläufig sind, stellt die Verfasserin dankenswerter Weise in einigen Fällen – leider nicht in allen – kurze biografische Abrisse voran, die erlauben, die vorgetragenen Vorschläge besser einzuordnen. Unter den referierten Texten und Autoren sind einige interessante Ausgrabungen, in der Fülle belegen sie vor allem, wie intensiv die Diskussion mit der Frage der Kriegsverbrechen bereits seit Beginn der vierziger Jahre geführt wurde. Wie verlässlich die Zusammenfassung der enormen Zahl von Texten ist, kann schwer beurteilt werden. Generell ist die Autorin dann sehr kritisch in ihrer Bewertung der Texte, wenn sie nicht streng juristisch argumentieren, was allerdings die – unbeantwortete – Frage aufwirft, nach welchen Kriterien die Autorin dann die relativ wenigen nicht-akademischen Texte in die Sammlung aufgenommen hat. Bei dem Buch des amerikanischen Rechtsanwalts Louis Nizer mit dem reißerischen Titel „What to do with Germany?“ von 1944, führt Marienburg ausführlich dessen polemisch zeitgebundene Diktion als „einseitig und verzerrt“ vor und wirft ihm mangelnde Wissenschaftlichkeit vor, die nun erkennbar nicht der Zweck des Buches war. In ihrem Zorn über das im Krieg entstandene, in vielen Schlussfolgerungen dann doch recht maßvolle Buch, vergisst die Autorin dann durchaus selbst wissenschaftliche Genauigkeit, etwa wenn sie berichtet, dass Nizer vorgeschlagen habe, 150.000 Deutsche „unverzüglich hinzurichten“. Im Original steht hier „Death penalties should be sought against each of them.“ Das ist zwar immer noch starker Tobak, aber für eine Juristin, zumal wenn sie einen Autor referiert, dem sie mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwirft, sollte der Unterschied zwischen einer Massenerschießung und dem Verlangen nach einer rechtsförmig verhängten Todesstrafe doch erkennbar und notierenswert sein. Solche wiederholten Ausfälle, wenn es um die Darstellung „antideutscher“ Positionen geht, wecken doch ein gewisses Misstrauen gegen die Objektivität der Darstellung insgesamt. Dass schließlich bei einem derart umfangreichen Werk auch Tipp- und Grammatikfehler vorkommen, darf weder verwundern noch stören. Allerdings ist ihre Zahl so beträchtlich, dass sie doch lästig, und gelegentlich auch sinnstörend werden, etwa wenn einem als Fachmann für Kriminologie bekannten Autor eine „kriminologische Sucht“ nachgesagt wird, wo wohl einfach eine Sicht gemeint war.

Die ganze französische Strafrechtsschule, die sich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden für eine internationale Strafgerichtsbarkeit für politische Massenverbrechen aussprach, wird nahezu vollständig ignoriert. Kein Text von Pella, Donnedieu de Vabre, Dumas, Politis, De La Pradelle, Aroneanu usw. findet Eingang in die umfangreiche Perlenkette akademischer Positionen in Teil III der Arbeit. Lediglich im knappen ersten Kapitel wird kurz auf die Bedeutung der französischen Tradition eingegangen, wenn auch ausschließlich auf eine einzige Sekundärquelle (Jeschek) gestützt.

Nichts desto trotz ist diese Arbeit eine schier unerschöpfliche Fundgrube, einfach wegen der Fülle des zusammengetragenen Materials. Auf die Autorin als Interpretin dieser umfangreichen Quellen wird man allerdings vergeblich bauen. Von den erwähnten gelegentlich schiefen Darstellungen abgesehen, verzichtet sie fast vollständig auf eine analytische Durchdringung und historische Einordnung der zahlreichen referierten Texte des dritten Hauptteils. Er präsentiert sich als gewaltiger Steinbruch, in dem der eifrige Leser immer wieder auf interessante Funde stößt. Doch ein Gesamtbild der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage der Bestrafung der Kriegsverbrecher entsteht so leider nicht einmal in Ansätzen.

von Rainer Huhle

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