Berlin/Hamburg (Assoziation A) 2009, 422 Seiten — Münster (Verlag Westfälisches Dampfboot) 2008, 217 Seiten
Als hätten sie es geahnt, dass über 60 Jahre nach den Verbrechen der Nazis der ehemalige KZ-Scherge John Demjanjuk erneut der USA verwiesen wird, um diesmal vor einem deutschen Gericht zu stehen, haben Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss den Fall in ihrem Vorwort aufgegriffen, als Beispiel für die Notwendigkeit und Möglichkeit internationaler und weltweiter Rechtsprechung in Fällen von Verbrechen gegen die Menschheit. Das amerikanische Urteil von 1985, das damals die Auslieferung Demjanjuks nach Israel verfügte, hat in der Tat die rechtspolitische Bedeutung seiner Entscheidung klar gesehen und sich dabei, wie so viele Urteile vorher, auch auf die Nürnberger Prinzipien berufen, die eine Verurteilung solcher Verbrechen gegen die Menschheit unabhängig von den besonderen Umständen ihrer Begehung fordern. Insofern erinnern die Herausgeber des umfangreichen Bandes „Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit“ zu Recht daran, dass dieser Kampf gegen die Straflosigkeit von Makroverbrechen seinen Anfang in dem Entsetzen über die Gräuel während des Zweiten Weltkriegs hatte.
Doch während diese wegweisenden Ansätze in Europa bald im Kalten Krieg einfroren, erlebten sie an entlegenen Orten der Weltgeschichte einige Jahrzehnte später eine bemerkenswerte Renaissance. Der Begriff der „Straflosigkeit“, der im deutschen noch immer ein bisschen unbeholfen klingt, kam ab den siebziger Jahren aus Lateinamerika als „impunidad“ in die internationale rechtspolitische Diskussion. Die zahlreichen Militärdiktaturen auf dem Kontinent schärften, ohne es zu wollen, das Bewusstsein dafür, dass die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschheit selbst ein Verbrechen ist, weil sie die Erniedrigung und Verfolgung der Opfer permanent weiter führt, weil sie die Täter nicht zur Rechenschaft zieht und somit die Möglichkeit neuer Verbrechen offen lässt, und schließlich weil sie elementare Begriffe von Gerechtigkeit unterhöhlt, ohne die keine Gesellschaft auskommt.
Schmolze/Rauchfuss haben im Rahmen ihrer Arbeit in der „Medizinischen Flüchtlingshilfe“ in Bochum in dem Projekt „Gerechtigkeit heilt“ über Jahre hinweg die politischen Debatten und Kämpfe ebenso wie die juristischen und institutionellen Entwicklungen um die Aufarbeitung vergangener Verbrechen und den Kampf gegen die Straflosigkeit in einer langen Reihe von Ländern intensiv verfolgt. Insgesamt zwölf Länderbeispiele stellen sie in ihrem Buch vor, davon fünf aus Lateinamerika, drei aus Afrika, zwei aus Asien und zwei aus dem ehemaligen Jugoslawien. Manche dieser Beispiele sind relativ bekannt und viel diskutiert, wie z.B. Chile, Südafrika oder Ruanda. Andere, wie etwa Paraguay oder Ost-Timor wurden in der breiteren Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen. Einige Ereignisse wie etwa die im Kosovo sind wegen ihrer zeitlichen Nähe noch stärker im Bewusstsein, andere wie die Diktatur in Argentinien scheinen schon der Geschichte anzugehören. Schmolze/Rauchfuss behandeln sie alle mit der gleichen Gründlichkeit, und das zu Recht. Die Lektüre etwa der Kapitel über Chile und Argentinien macht deutlich, dass auch in solchen Ländern, über deren Vergangenheitspolitik und strafrechtliche Aufarbeitung inzwischen eine enorme Fülle an Literatur vorliegt, keineswegs alle Etappen dieser Kämpfe gleichermaßen im Blickfeld sind. Es ist das große Verdienst dieses Bandes, dass er in den zwischen zwanzig und sechzig Seiten starken Ländermonografien mit großer Genauigkeit jeweils die Grundlinien der politischen, gesellschaftlichen und juristischen Entwicklung der „transitional justice“ nachzeichnet. Der Band wird so zu einem wahren Handbuch der Vergangenheitsarbeit, zu einem zuverlässigen und aufschlussreichen Nachschlagewerk auch für die Leser, die in der Thematik zu hause sind. Umso mehr vermisst man übrigens einen Namens- und Sachindex, der auch Querverbindungen in der Lektüre der einzelnen Kapitel erleichtern würde. Erfreulich ist die klare Sprache der Autoren (bis auf die Jugoslawien-Kapitel, die von Boris Kanzleiter stammen, sind alle Beiträge von Schmolze/Rauchfuss), die engagiert Stellung beziehen, ohne deswegen in einseitige Darstellungen zu verfallen. Ein Buch, dem man nur wünschen kann, dass es eine breite Leserschaft findet, auch wenn der verdienstvolle Verlag „Assoziation A“, der schon so manches wichtige Buch abseits des Zirkus der Großverlage platziert hat, nicht über die entsprechenden Werbeetats verfügt.
Ganz auf Lateinamerika konzentriert sich naturgemäß das neue „Jahrbuch Lateinamerika“, das einen verwandten Schwerpunkt von sehr unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Der Kampf gegen die Straflosigkeit ist immer auch ein Kampf um die Erinnerung, diese Einsicht zieht sich durch das ganze Buch von Schmolze/Rauchfuss, und sie wird in erinnerung macht gegenwart expliziert in einem Beitrag der Berliner Politologin Ruth Stanley, die am Beispiel des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs aufzeigt, wie gerichtliche Wahrheitsfindung auch außergerichtliche Folgen für die Verankerung gesellschaftlich wirksamer Erinnerung hat. Man könnte hinzufügen, dass dieses Gericht sogar häufig direkt Denkmäler, Erinnerungsplaketten u.ä. für die Opfer in seinen Urteilen verfügt. Die Erinnerung, die damit wach gehalten wird, ist Teil eines sich herausbildenden historischen Gedächtnisses, das noch umkämpft ist. Indem der Gerichthof hier Stellung bezieht, leistet er zugleich einen wichtigen Beitrag zur moralischen Rehabilitierung der Opfer.
Wie sehr um bestimmte sensible Orte der Erinnerung gestritten werden muss, macht Annete Nana Heidhues am Beispiel Argentiniens deutlich. Wenn ehemalige Folterstätten und andere Orte der Repression zur Erinnerung an die dort gequälten und ermordeten Opfer dienen sollen, dann müssen diese Orte zunächst der Verfügung der Täter bzw. der Institutionen, von denen aus sie agiert haben, entrissen werden. Der Kampf um Orte wie die ESMA oder das Gefängnis „El Olimpo“ in Buenos Aires, den Heidhues exemplarisch diskutiert, ist insofern ein Gradmesser für den Fortschritt, den die Gesellschaft in der Überwindung der repressiven Strukturen aus der Zeit der Diktatur insgesamt macht. Ohne die in Argentinien in den letzten Jahren stark vorangekommene strafrechtliche Aufarbeitung der Diktatur wäre auch die Erinnerungsarbeit nicht vorangekommen.
Diesen Zusammenhang macht wohl kaum eine andere Gruppe so deutlich wie die H.I.J.O.S. in Argentinien, also der oft eher lose Zusammenschluss von Angehörigen der nachfolgenden Generationen der unmittelbaren Opfer der Diktatur. In einem weiteren spannenden Beitrag des Bandes stellen Anne Becker und Olga Burkert die Philosophie und die Aktionsformen der H.I.J.O.S. vor. In einer ihrer wichtigsten Aktionsformen, den „escraches“ tragen sie die Erinnerung gewissermaßen mitten in die Gegenwart hinein. Gemäß ihrem Motto „SI NO HAY JUSTICIA HAY ESCRACHE“ klagen sie die ausbleibende juristische Bestrafung bestimmter Täter, oder das Versagen bestimmter Institutionen, durch die Markierung von deren aktuellem Wohn- oder Amtssitz an. Ein solches „Escrache“ umschließt eine Vielzahl von möglichen Aktionsformen, vom Straßenfest vor dem Haus des straflosen Täters über das Auswechseln von Straßenschildern und das Anbringen von Graffiti bis hin zu systematischer Arbeit in der Nachbarschaft. Becker/Burkert haben die Aktionen der H.I.J.O.S. in Argentinien mit denen der gleichnamigen H.I.J.O.S. in Mexiko verglichen. Das Ergebnis ist sehr aufschlussreich, für beide Länder. Der Vergleich wirft ein erhellendes Licht auf eine Reihe von Voraussetzungen, die in Argentinien als selbstverständlich angenommen wurden, in Mexiko aber fehlen. So können sich die Aktionen der H.I.J.O.S. in Argentinien auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen, der ihre Aktionen im Prinzip als moralisch und politisch gerechtfertigt trägt, selbst wenn einzelne Aktionsformen auf Kritik stoßen. Die Ablehnung der Diktatur wird heute in Argentinien von einer breiten Mehrheit getragen. In Mexiko gab es nie eine vergleichbar klare Frontstellung, das Regime, das zahlreiche politischen Morde, Folter und „Verschwindenlassen“ zu verantworten hat, hatte zugleich eine breite Massenbasis und wusste sich nicht zuletzt außenpolitisch als progressiv darzustellen. Die verschiedenen Guerilla-Organisationen, aus deren Reihen viele Opfer kommen, für die heute von H.I.J.O.S. Gerechtigkeit und Erinnerung gefordert werden, hatten außerhalb kleiner regionaler Verankerungen kaum Anhang, ja waren in der breiten Bevölkerung unbekannt. Anders als ihre argentinischen Namensgeber müssen die H.I.J.O.S. in Mexiko daher überhaupt erst ein Bewusstsein für ihr Anliegen schaffen. Die in Argentinien entwickelten Aktionsformen sind dafür aber, so eines der Ergebnisse der Autorinnen, wenig geeignet.
Solche differenzierenden Einblicke in die Schwierigkeiten der Arbeit für die Erinnerung und gegen die Straflosigkeit sind wichtig, nicht nur für ein besseres Verständnis, sondern auch für eine bessere Zusammenarbeit und wechselseitige Reflektion. Wie schwierig das sein kann, lässt sich dem Beitrag von Lars Frühsorge über Erinnerungskulturen indigener Gemeinden in Guatemala nach dem Ende des Bürgerkriegs entnehmen. Hier überlagern sich Konfliktlinien aus dem Bürgerkrieg, die oft weit in die Vergangenheit reichende Wurzeln haben, religiöse Interpretationsmuster, gesellschaftliche Umbrüche durch den Krieg und Transformationen traditioneller Gemeindeorganisation auch seither in kaum zu generalisierender Weise.
Neben diesen und einigen weiteren Aufsätzen zur Erinnerungskultur in Bezug auf vergangene Epochen politischer Gewalt, enthält der Band auch einige Beiträge, die stärker auf die Instrumentalisierung der Vergangenheit für aktuelle politische Zwecke zielen. Dass „68“ und „Che Guevara“ natürlich auch in Lateinamerika zu fest verankerten „Erinnerungsorten“ geworden sind, das entfaltet anschaulich Anne Huffschmid, während sich Karin Gabbert die verschiedenen – durchaus widersprüchlichen – Facetten des neuen Kults um Simón Bolívar (nicht nur in Venezuela) vornimmt. Ganz außerhalb des Themenschwerpunkts finden sich noch aktuelle Berichte über Kuba (Bert Hoffmann) und das international erstaunlich wenig beachtete politische Experiment unter der Präsidentschaft Correas in Ecuador (taz-Korrespondent Gerhard Dilger). Insgesamt gehört dieser mittlerweile 32. Band des Jahrbuchs Lateinamerika zu den besonders gelungenen. Man kann offenbar auch in die Jahre kommen ohne dabei alt zu werden“¦
von Rainer Huhle