Ein kleiner Lichtfunke in einer Welt von Dunkelheit: Judenrettungen in Hitlerdeutschland
Petra Bonavita: Mit falschem Pass und Zyankali: Retter und Gerettete aus Frankfurt am Main in der NS-Zeit. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009, 189 Seiten, 19,80 Euro.
Viel schuldbewusstes Schweigen herrschte nach 1945 zur Ermordung der Juden. Im Windschatten dieses Schweigens ging ein Thema unter, das Petra Bonavita exemplarisch für Frankfurt am Main jetzt untersucht hat: die Rettungen verfolgter Juden während der NS-Zeit. In Deutschland tauchten nach Abschluss der großen Deportationen 1942 etwa 12.000 Juden unter, von denen ca. 5.000 überlebten. Sie überlebten im Land oder konnten ins Ausland flüchten. Die Geschichten dieser Rettungen sind unbekannt oder nur in Bruchstücken veröffentlicht (so in Valentins Sengers Autobiografie) Mit falschem Pass und Zyankali erzählt fast ausnahmslos zum ersten Mal diese Rettungsgeschichten. Von 200 bekannten Fällen bringt das Buch eine Auswahl von 70 Rettungsgeschichten. Schwerpunkt sind die Jahre 1942-1945. Für die SS war es nach den großen Deportationen ein Restposten, der abgearbeitet werden musste, für die Betroffenen ein Versteckspiel auf Leben und Tod.
Jakob Sprenger, Gauleiter von Hessen-Nassau, wollte seinen Gau früher, als es das Reichssicherheitshauptamt in Berlin verlangte, „judenfrei“ haben. Ende 1942 wies er den Leiter der Frankfurter Gestapo an, sich der letzten jüdischen Einwohner im Bereich seiner Zuständigkeit zu entledigen und „zusätzlich jeden Monat 100 jüdische Mischlinge I. Grades und jüdische Mischehepartner in die Konzentrationslager abzuschieben“. Einer seiner eifrigsten Gehilfen war der Frankfurter Gestapo-Beamte Heinrich Baab. Mit konstruierten Klagen beantragte er Schutzhaftbefehle, und nach drei Monaten folgte die Deportation.
Das Buch beschreibt, wie diese Retter und Geretteten zueinander kamen. An jeder Fluchtaktion waren mehrere, mitunter Dutzende von Menschen beteiligt, vom Handwerker bis zum Grafiker, der Dokumente fälschte, oder der Kriminalbeamte, der einen Wink gab, wann die Gestapo eine ihrer Verhaftungsaktionen plante. Seit Beginn der vierziger Jahre half ein unsichtbares Netzwerk von Rettern. Der Arzt Dr. Fritz Kahl in Frankfurt-Bockenheim und der Pfarrer Heinz Welke von der Bekennenden Kirche (Frankfurt) waren die aktivsten Helfer. Das Netzwerk durfte kein sichtbares Zentrum, kein Profil haben. Es lebte von der Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patienten, Pfarrer und Gemeinde. Hier galt die Schweigepflicht, Verfolgte konnten sich anvertrauen, ohne Denunziationen befürchten zu müssen. Dramatisch ist der Fall von Robert Eisenstädt. Er floh aus dem Vernichtungslager Majdanek und schlug sich Mitte 1942 bis nach Frankfurt durch. Welke und Kahl hatten nun einen Augenzeugen für die Vergasungen, von denen sie bereits wussten. Eisenstädts Flucht in die Schweiz musste um jeden Preis klappen, er und seine Braut wurden sorgfältig vorbereitet. Bei der Braut musste eine sichtbare Schwangerschaft vorliegen, damit die Schweiz das Paar nicht zurück schickte. Eisenstädt wurde mit Gipsverband am Bein und Narben im Gesicht präpariert. Er sollte als Soldat auf Fronturlaub durchgehen, denn junge Männer, die Deserteure hätten sein können, fielen bei unerwarteten Kontrollen sofort auf. Erst dann begann die Flucht über die grüne Grenze in die Schweiz.
Mitunter half eine „Pfarrhauskette“ der evangelisch-reformierten Gemeinde (Pfarrer Kurt Müller) in Baden-Württemberg, über die die Verfolgten unter ständiger Angst vor Kontrollen etappenweise von Pfarrhaus zu Pfarrhaus flohen. Zu den Untergrundmethoden gehörten dutzendfache Umzüge, falsch ausgefüllte Fragebögen, gefälschte „Kennkarten“ und erschlichene „Postausweise“. Ein Dauerproblem waren die Lebensmittelkarten, die die Untergetauchten nicht besaßen, denn das Frankfurter Ernährungsamt arbeitete der Gestapo zu. Es gab bestechliche Gestapo-Beamte und solche, die Jüdinnen zum Sex zwangen und als Gegenleistung die Familie nicht auf die nächste Deportationsliste setzten; es gab Ärzte, die Gefährdete für transportunfähig schrieben.
Eine untergetauchte Jüdin wurde zur Fluchtvorbereitung mehrmals nachts geweckt und nach ihrem Namen gefragt, und sie musste im Halbschlaf den Decknamen sagen. Identität wurde zu einer Frage technischer Veränderbarkeit. In der Mehrzahl der Fälle funktionierte das Netzwerk mit seinen gut eingespielten Untergrundtechniken. Das Buch enthält auch Beispiele missglückter Rettungen.
Alte und kranke Juden hätten die Strapazen der Flucht nicht überstanden. Sie wurden deportiert. Im Elsass versuchten Retter mehrere Nächte hintereinander, einer ängstlichen und unbeholfenen Frau zu helfen, auf einen fahrenden Güterzug zu springen, bis es endlich gelang. Der Grenzübertritt war der heikelste Punkt der Flucht. In der Schweiz musste auf der anderen Seite der Grenze jemand sein, der die Flüchtlinge in Empfang nahm, denn die Schweizer Grenzer wollten Fluchthelferorganisationen aushebeln. Für derartige Gefahrenmomente hatte eine Frau Zyankali im Dutt und ein Mann eine Pistole in der Tasche. Die Niederlande, in denen Juden Unterschlupf gefunden hatten, erwiesen sich nach deren Besetzung als Falle, und neue Wege mussten überlegt werden. Eine Frau ging mit ihrer Tochter nach Deutschland zurück.
Die Bombardierungen erlaubten es vielen Untergetauchten, sich als „ausgebombt“ zu melden und in der Masse der Wohnungslosen unterzutauchen. Für viele der in Deutschland versteckten Juden waren sie der Beginn der Befreiung. Wenn ihre Gebäude zerbombt waren, musste die Gestapo sich reorganisieren. Das Meldewesen des Hitlerstaates bekam Lücken. Das Chaos des letzten Kriegsjahres erwies sich als hilfreich. Die Frankfurter Gestapo arbeitete dennoch unbeirrt weiter. Noch im Februar 1945 ging der letzte große Deportationszug aus Frankfurt in das Konzentrationslager Theresienstadt.
Das Buch endet mit der Geschichte vor allem der RetterInnen nach 1945. Sie sprachen nicht über ihre Taten. Sie hatten ihre menschliche Pflicht getan und wollten schon gar nicht als Helden gefeiert werden. Was sie getan haben, waren Rettungen um der Rettung willen, ohne den Blick auf später zu würdigende Verdienste und unter höchstem persönlichem Einsatz. Die Angst, die auch sie durchlebt hatten, die Erinnerung an ihre dauernde Verletzlichkeit fanden keine Wörter und kein Podium, und was sie zu erzählen gehabt hätten, hätte in der restaurativen Adenauerzeit falsche Reaktionen hervorgerufen. Sie verweigerten sich der Rolle des guten Deutschen in einer Gesellschaft, die ihnen auch nach dem Krieg zu erkennen gab, dass sie als Vaterlandsverräter galten. Es gab aber ohnehin keine Anerkennung, die der tagtäglichen Lebensgefahr gerecht geworden wäre. Sie schwiegen auch in ihren Familien. Hier treffen sich die Scham der Retter und die der Überlebenden. Pfarrer Welke machte Friedensarbeit, half Deserteuren, die nicht in den Algerienkrieg wollten. Der Arzt Dr. Fritz Kahl und seine Ehefrau Margarete wurden 2006 posthum von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Die Geretteten waren damit beschäftigt, sich ein neues Leben und eine neue Identität aufzubauen, nachdem die Nazis ihnen den gelben Stern aufgezwungen und die Retter ihn wieder abgetrennt hatten.
Petra Bonavita bricht dieses wechselseitige Schweigen. Ihr Buch lässt ahnen, wie schwierig die Recherche war. Die Arbeit an der Erinnerung muss sich auch gegen die Scham der Überlebenden durchsetzen.
Auschwitz fällt als Schatten über das ganze Buch. Es erliegt nicht der Versuchung, den Massenmord durch in gutes Licht gesetzte Heldentaten einzelner Retter auch nur im Mindesten zu konterkarieren. Mit falschem Pass und Zyankali ist aktuell. Das Buch gibt reale Beispiele der Zivilcourage, die durch die heutigen Sonntagsreden geistert. Es ist verständlich geschrieben, ohne zu vereinfachen, wo die Zusammenhänge komplex sind. Das gibt dem Buch einen didaktischen Wert. Die Rampe in Auschwitz ist weit weg von der heutigen Generation, und die Frage: was hättest du dort gemacht? hat für die Heutigen ihren Sinn verloren. Der Konflikt eines Menschen, vor dessen Tür eine gefährdete Person steht, ist auch heute vermittelbar.
von Dieter Maier