Vermeulen, Marthe Lot: Enforced Disappearance. Determining State Responsibility under the International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance, Cambridge/Antwerpen/Portland (Intersentia) 2012, 543 Seiten
Das Internationale Abkommen gegen das gewaltsame Verschwindenlassen ist erst seit Dezember 2010 in Kraft. Gleichwohl hat es bereits lebhaftes akademisches Interesse hervorgerufen, so schon kurz nach seiner Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung in der wegweisenden Studie „The Struggle against Enforced Disappearance and the 2007 United Nations Convention“ von Tullio Scovazzi und Gabriella Citroni (Leiden/Boston 2007) sowie in der Dissertation von Lisa Ott: Enforced Disappearance in International Law, (Cambridge, Antwerpen, Portland-Intersentia 2011 – s. die Rezension auf https://www.menschenrechte.org/lang/de/rezensionen/lisa-ott-enforced-disappearance-in-international-law). Nun hat die holländische Juristin Marthe Lot Vermeulen eine weitere, sehr umfangreiche, Studie über die Konvention vorgelegt, die sie aus dem spezifischen Blickwinkel der in ihr niedergelegten Staatenpflichten untersucht. Da die Konvention aber gerade dazu in erster Linie dient, diese Pflichten ausführlich festzulegen, ist das Buch eine weitgehend vollständige Einführung in das Vertragswerk.
Der Aufbau des Buches ist trotz des ausführlichen Inhaltsverzeichnisses kompliziert nachzuvollziehen und führt auch zu einer Reihe von Redundanzen. Im ersten Teil legt die Autorin, nach einer Einführung in die Geschichte und den Kontext der Verschwundenen-Konvention, zunächst die wesentlichen in ihr enthaltenen Normen dar. Notgedrungen nimmt sie damit Vieles vorweg, was in den folgenden Kapiteln dann theoretisch begründet wird. Im ersten Theorie-Kapitel geht es um Staatenverantwortlichkeit und Staatenpflichten (beide Termini werden nicht konsequent auseinandergehalten). Dabei identifiziert Vermeulen sieben Staatenpflichten als wesentlich: Die Pflichten zur Respektierung, zur Prävention, zur Untersuchung, zur (gerichtlichen) Verfolgung, zur Bestrafung, zur Entschädigung und zum Schutz. Im folgenden Kapitel geht es dann um die Auswirkungen gewaltsamen Verschwindenlassens auf die direkten und indirekten Opfer, die gewissermaßen das Objekt der vorher theoretisch und fallrechtlich hergeleiteten Staatenpflichten darstellen. Hier greift die Autorin daher auch auf empirische Untersuchungen und Aussagen vor Menschenrechtsgerichtshöfen zurück, die sie dann in fünf Hauptursachen menschlichen Leids aufgrund von Verschwindenlassen zusammenfasst: Das eigentliche Verschwundensein aufgrund staatlicher Informationsverweigerung; das Verweigern staatlicher Kooperation bei der Suche; die faktische oder sogar de jure Straflosigkeit; die anhaltende Gefährdung bei der eigenen Suche durch die Angehörigen; die Schwierigkeiten, ein „normales Leben“ zu führen.
Im – längeren – zweiten Teil des Buches nimmt die Autorin die theoretischen Parameter des ersten Teils wieder auf und bezieht sie auf das Case Law der wesentlichen drei Instanzen, die bislang Entscheidungen dazu getroffen haben: der UN-Menschenrechtsausschuss, der Inter-Amerikanische Menschenrechtsgerichtshof und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof. Vom Ausschuss der Verschwundenen-Konvention liegen ja noch keine entsprechenden Stellungnahmen vor. Daraus ergibt sich eine methodische Schwierigkeit, die zwar durchaus fruchtbar sein kann, von der Autorin aber nicht deutlich genug genannt wird. Das Case Law der genannten Organe bezieht sich nicht auf die Verschwundenen-Konvention, sondern auf ihre jeweils eigene Rechtsgrundlage, also den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Amerikanische Menschenrechtskonvention und die Interamerikanische Konvention gegen das Verschwindenlassen, sowie die Europäische Menschenrechtskonvention. Diese unterscheiden sich aber untereinander und gegenüber der UN-Konvention in einer Reihe von Details. Die sehr ausführliche Diskussion des bisherigen Case Laws ist gleichwohl insofern nützlich, als Vermeulen sie recht konsequent unter dem Gesichtspunkt führt, welche Pflichten den Staaten daraus für den Schutz der Opfer und die Prävention erwachsen. Die UN-Konvention ist zwar ein eigenständiges Instrument, das in mancher Hinsicht deutlich über die Definitionen und Regelungen der genannten anderen Rechtsgrundlagen hinausgeht. Gleichwohl, das arbeitet Vermeulen gut heraus, haben die drei genannten Organe bei der Vielzahl ihrer Fälle zahlreiche wichtige Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen der Bewertung des Verschwindenlassens und der Konsequenzen für den Schutz der Opfer entwickelt, die zweifellos auch für die Interpretation der neuen Konvention relevant sein werden. Auch der wohlinformierte Rekurs der Autorin auf die Travaux Préparatoires der Konvention macht das deutlich.
In dem 60 Seiten langen abschließenden Kapitel der Arbeit bindet Vermeulen dann die Ergebnisse der beiden großen Hauptabschnitte in gelungener Weise auf die UN-Konvention zurück, indem sie aus ihren theoretischen Überlegungen und der ausführlichen Diskussion des Case Law noch einmal zu jeder von ihr als wesentlich betrachteten Staatenpflichten entsprechende Empfehlungen zur Interpretation des Konventionstextes entwickelt. Auf dieser Basis gelangt sie auch zu plausiblen Ergebnissen bei Fragen, die in der Konvention unzureichend geklärt sind, wie z.B. der Rolle der Militärjustiz. So ist der Autorin, trotz einer im Ansatz problematischen und teilweise verwirrenden Anlage der ganzen Arbeit ein Buch mit einer großen Fülle wichtiger Hinweise zum Verständnis der Gesamtproblematik des Verschwindenlassens als eigenständigem Verbrechen und zum Potential der UN-Konvention gelungen, das eine wichtige Bereicherung der bereits in erstaunlicher Breite vorliegenden wissenschaftlichen Literatur zum Thema darstellt.
Rainer Huhle