von Rainer Huhle
Im September 1948, acht Monate nach Gandhis gewaltsamem Tod, veröffentlichte Hansa Mehta einen kleinen Essay unter dem Titel “Reminiscences of Gandhi”. Als sie ihn auf dem Totenbett sah, schrieb sie, habe sein Gesicht keine Spur von seinem gewaltsamen Ende getragen. „Es war wunderbar ruhig und heiter.“
Ein gutes halbes Jahr später war Hansa Mehta in New York mit Eleanor Roosevelt zum Mittagessen verabredet. In ihrem Tagebuch hielt die ehemalige Vorsitzende der Menschenrechtskommission fest: „Diese Inderin mit der leisen Stimme hat ein außerordentlich schönes Gesicht. Seine Züge drücken deutlich ihre Sanftmut und ihre aufrichtige Sorge um ihre Mitmenschen aus. Frau Mehta strahlt eine stille Geduld und Kraft aus.“
Hansa Mehta mit Gandhi
Nicht nur die Paarung von Sanftmut und Stärke verbindet Hansa Mehta mit Gandhi. Die indische Pädagogin und Sozialarbeiterin war seit dem großen Salzmarsch von 1930 eine aktive Mitstreiterin in Gandhis Kampagnen zivilen Ungehorsams gegen die britische Herrschaft in Indien gewesen und blieb ihm bis zu seinem Tod verbunden. 1930 trat sie in die damals illegale Kongresspartei ein und wurde bald zur Vorsitzenden von deren Bombayer Komitee gewählt. Damit war es nun ihre Aufgabe, viele der Märsche, Sitzstreiks und sonstigen Aktionen zivilen Ungehorsams zu organisieren und dabei an vorderster Stelle dabei zu sein. Und zum ersten Mal für drei Monate ins Gefängnis zu gehen.
Einen besonderen Anteil nahm Hansa Mehta an den Bemühungen, die Bewegung der „Unberührbaren“ (heute allgemein als Dalit bezeichnet, Gandhi nannte sie „Harijan“) mit der Kongresspartei zusammen zu bringen. Mehta selbst stammte aus einer Brahmanenfamilie und hatte bei ihrer Heirat mit Jivraj Narayan Mehta, der einer „niederen“ Kaste angehörte und ebenfalls ein aktiver Angehöriger der Gandhi-Bewegung war, selbst erlebt, wie brutal das Kastenwesen war. Ihre engere Familie stand zwar hinter ihr, aber sie wurde praktisch aus der Gemeinde ausgestoßen, in der es sogar Protestmärsche gegen diese Heirat gab.
Bereits seit den frühen zwanziger Jahren war Hansa Mehta in der indischen Frauenbewegung engagiert. Sie war eine der ersten Frauen in ihrem Heimatstaat Gujarat überhaupt, die zur Universität zugelassen wurden und einen akademischen Abschluss erreichten. 1927 nahm sie an der ersten Gesamtindischen Frauenkonferenz (All India Women’s Conference) teil, deren Präsidentin sie später werden sollte. Als Pädagogin und Sozialarbeiterin wurde sie schon 1926 in die Schulaufsichtsbehörde von Bombay berufen. Eine Kandidatur zum Regionalparlament von Bombay für einen der beiden für Frauen reservierten Sitz lehnte sie ab, da die All India Women’s Conference solche Quotierungen grundsätzlich ablehnte. Als sich in den dreißiger Jahren für einige Zeit die politische Situation entspannte und die Kongresspartei an Wahlen teilnehmen konnte, kandidierte sie erfolgreich für die Kongresspartei und arbeitete als Staatssekretärin im Erziehungs- und Gesundheitsministerium. Dabei setzte sie sich vor allem für eine breitere, berufsorientierte Ausbildung im höheren Schulwesen ein. Anders als bei ihrer Entscheidung gegen eine Kandidatur auf quotierten Parlamentssitzen setzte sie im Erziehungsministerium eine 50/50-Quote für Männer und Frauen in der Lehrerausbildung durch. In Erziehungsfragen widersprach sie auch Gandhis bisweilen rückwärtsgewandten Ansichten deutlich.
Der Zweite Weltkrieg stellte die Kongresspartei und vor allem die pazifistische Gandhibewegung vor eine schwierige Herausforderung, die auch zu Abspaltungen führte: Sollte man gegen die von Großbritannien verfügte Mobilisierung auch Indiens für einen Krieg, mit dem das indische Volk nichts zu tun hatte, mobilisieren oder gar, wie es eine Minderheit um den zeitweiligen Parteivorsitzenden Bose tat, sich mit den Gegnern Großbritanniens verbünden? Oder sollte man den Kampf gegen die Nationalsozialisten unterstützen? Hansa Mehta nahm zunächst an den von Gandhi als Kompromiss vorgeschlagenen begrenzten kleinen Aktivitäten gegen den Krieg teil, was ihr 1941 schon wieder fünf Monate Gefängnis einbrachte. Bald nach ihrer Freilassung rief Gandhi die „Quit India“-Kampagne aus, die nach heftigen Auseinandersetzungen schließlich zur Unabhängigkeit nach dem Ende des Weltkriegs führte. Die meisten Mitglieder der Bewegung und der Kongresspartei, Gandhi und Nehru eingeschlossen, wurden verhaftet, und Hansa Mehta und die übrigen frei Gebliebenen hatten alle Hände voll zu tun, sich um die Gefangenenhilfe zu kümmern.
1945 wurde Hansa Mehta zur Präsidentin der All India Women’s Conference (AIWC) gewählt und gehörte damit zum Kreis derer, mit denen die Briten die Bedingungen der Unabhängigkeit aushandelten. Im Juli 1946 verabschiedete die AIWC unter ihrer Präsidentschaft „The Indian Woman’s Charter of Rights and Duties“, ein bis heute immer wieder zitiertes Pionierdokument der internationalen Bewegung für die Menschenrechte der Frauen. Auch mit Blick auf das Wahlrecht des künftigen unabhängigen indischen Staats sprach sie sich entschieden gegen quotierte Parlamentssitze für Frauen aus. Ohne Quote wurde Mehta in die Verfassungsgebende Versammlung des künftigen unabhängigen Staats gewählt. Dort setzte sie sich – durchaus gegen heftigen Widerstand konservativer Abgeordneter – für die Verankerung der Menschenrechte ein. Nach der Unabhängigkeit im August 1945 wurde Mehta wie die übrigen Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung automatisch Mitglied des ersten indischen Parlaments.
Ende 1946 entsandte die indische Regierung (Indien war, obgleich noch gar nicht richtig unabhängig, bereits ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen) sie als Vertreterin in den UN-Ausschuss über die Lage der Frauen (damals noch ein Unterausschuss der Menschenrechtskommission). Wenig später bereits wechselte sie in die Menschenrechtskommission selbst, wo sie von Anfang an eine aktive Rolle spielte. Einer ihrer ersten Erfolge war, den Status des Frauenausschusses zu heben und aus ihm einen selbständigen, der Menschenrechtskommission gleichgestellten Ausschuss zu machen.
Neben Eleanor Roosevelt war Hansa Mehta die einzige Frau in der 18-köpfigen Menschenrechtskommission. Während aber Eleanor Roosevelt aus dem Weißen Haus in die UNO kam, brachte Mehta Hansa ihre Erfahrung aus dem Frauenausschuss in die Kommission ein, und sie verstand sich ganz offensichtlich auch als Vertreterin der dort bereits von Frauen wie Bodil Begtrup, Jessie Street oder Minerva Bernardino entwickelten Positionen. Sie erreichte auch schon auf der ersten Sitzung einen Konsens darüber, dass in allen die Frauen betreffenden Fragen die Vertreterinnen der Frauenkommission beigezogen werden sollten.
Schon im Januar legte sie als Vertreterin Indiens der Kommission auch einen „General Act of the United Nations Assembly“ vor, der nichts weniger war, als eine aufs Wesentlichste kondensierte Menschenrechtserklärung. Hierin wurden die Rechte bereits konsequent als die von „every human being“ bezeichnet. Entgegen der Meinung von Eleanor Roosevelt überzeugte sie die Kommission davon, dass die Formulierung allgemeiner Menschenrechte einer Sprache bedürfe, die nicht einmal den Anschein erweckte, dass Frauen nicht in absolut gleicher Weise die Menschenrechte zustünden. Hansa Mehtas Hartnäckigkeit, unterstützt u.a. von den sowjetischen Delegierten, war es, die in der Kommission aus „All men are born free and equal“ das „All human beings are born free and equal” machte, und aus “everyman“ „everyone“.
Hansa Mehta mit E. Roosevelt
UN Photo/Marvin Bolotsky
Auch in anderen wesentlichen Fragen fand Eleanor Roosevelt in der sanftmütigen Hansa Mehta einen standfesten Widerpart. Mehta gehörte zu den Mitgliedern der Kommission, die es logisch fanden, dass die einzige damals existierende Körperschaft in den Vereinten Nationen, die explizit dem Schutz der Menschenrechte verpflichtet war, diesen auch umfassend und konsequent wahrnehmen müsse. So stritt sie sie vehement, wenn auch letztlich vergeblich dafür, dass die Kommission auch Einzelfallbeschwerden über Menschenrechtsverletzungen entgegennehmen müsse, oder zumindest alle beim Generalsekretariat eingehenden – und es waren durchaus viele – sehen müsse. Die Formulierung eines starken Petitionsrechts, wie sie sie Mitte 1948 noch einmal vorschlug, schien ihr da eine geeignete Maßnahme. Das von ihr vorgeschlagenen „Standing Committee of Experts“ wurde in anderer Gestalt erst in Form des Menschenrechtsausschusses des Zivilpakts verwirklicht.
Generell setzte sie sich, unterstützt vor allem vom britischen Delegierten für starke Maßnahmen der „Implementierung“ also Durchsetzung der Menschenrechte durch die UN-Organe ein. Schon in dem „General Act“ hatte Indien vorgeschlagen, dass der Sicherheitsrat sich mit allen Menschenrechtsverletzungen befassen und gegebenenfalls Abhilfe schaffen solle. In der Kommission wurde sie Ende 1947 zur Vorsitzenden der Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur „Implementierung“ gewählt. Sie machte sich insbesondere für die Schaffung eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs stark und gehörte zu der Gruppe von Delegierten, die lange dafür kämpften, dass die Kommission nicht nur eine Menschenrechtserklärung, sondern auch einen rechtsverbindlichen Vertrag erarbeitete.
In all diesen Fragen vertraten Eleanor Roosevelt und Hansa Mehta unterschiedliche Positionen, doch in einer zumindest stimmten sie überein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Als Vertreterin eines der ärmsten Länder der Welt befand Hansa Mehta, dass die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte so flexibel formuliert sein müssten, dass sie Staaten wie Indien nicht vor unlösbare Probleme stellten.
Nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung engagierte sich Hansa Mehta verstärkt wieder in ihrer Heimat. Ab 1949 widmete sie sich als Vizerektorin mit aller Kraft dem Aufbau einer Universität in ihrer Heimatstadt Baroda, wo sie mehrere neuartige Fakultäten, darunter eine für Sozialarbeit gründete. Dazu kamen eine Reihe weiterer Funktionen im indischen Erziehungswesen. Von 1958 bis 1960 gehörte sie dem Exekutivrat der UNESCO an und setzte sich auch dort wieder besonders für das Recht auf gute Erziehung auch für Mädchen ein. In den sechziger Jahren verbrachte sie drei Jahre in England, als ihr Mann dort indischer Botschafter war. Sofort stürzte sie sich in die Arbeit, um die Situation der indischen Immigranten, vor allem der oft analphabetischen Frauen in England zu verbessern.
In ihrer Arbeit als Abgeordnete, Regierungsbeamte, Verfassungsgeberin in Indien und als UN-Delegierte bewies Hansa Mehta ein großes Gespür für die Bedeutung der rechtlichen Komponente in den Menschenrechten, um diese wirklich durchzusetzen. Die Leidenschaft, die ihr langes Leben durchzog, gehörte aber zweifellos der Pädagogik und der Verbesserung der sozialen Verhältnisse oder in den Worten Eleanor Roosevelts der „aufrichtigen Sorge um ihre Mitmenschen“ – und der Literatur. Sie schrieb viele Kinderbücher und übersetzte Literatur aus dem Englischen in ihre Muttersprache Gujarati. Sie liebte Indien und die indische Kultur, setzte sich dafür ein, war aber alles andere als eine Nationalistin. Kritische Distanz gehörte zu ihrem Verständnis von Liebe. Auch über Gandhi schrieb sie, dass sie ihn bewunderte und viel von ihm lernte, aber nicht alles richtig fand, was er tat – und dass auch Gandhi heute anders und gewiss kein „Gandhianer“ wäre. Selbständig denken sei gefordert, nicht blinde Verehrung.
Indien wurde im Mai 2011 zum wiederholten Mal in den UN-Menschenrechtsrat gewählt, mit überwältigender Mehrheit. Bei der Bewerbung um seinen Sitz berief sich Indien auf seine „symbiotische Beziehung“ zu den Vereinten Nationen und erwähnte mit Stolz die besondere Rolle, die „Dr. Hansa Mehta, eine Sozialarbeiterin im Geiste Gandhis“ bei der Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gespielt habe. Ob Hansa Mehta mit dieser Werbekampagne einverstanden gewesen wäre? Ganz gewiss wäre es ihr unerträglich, dass in weltweiten Erhebungen die Lage der indischen Frauen im internationalen Vergleich als katastrophal eingestuft wird.