von Rainer Huhle
Henri Laugier und E. Roosevelt
UN-Photo # 129519
Der Arzt, Biologe und Bildungs- und Wissenschaftspolitiker Henri Laugier bekleidete einen der angesehensten Posten im französischen Wissenschaftsbetrieb, als 1939 Hitler den Zweiten Weltkrieg begann und Frankreich überfiel. Er war Direktor des CNRS, des großen nationalen Forschungsverbands Frankreichs, vergleichbar vielleicht den Max-Planck-Instituten in Deutschland. Doch als Marschall Pétain die Macht ergriff und seine Regierung in Vichy als willfähriges Instrument der NS-Herrschaft und -Ideologie etablierte, zögerte er nicht, warf die Karriere hin und ging ins Exil.
Während aber etwa René Cassin und andere Beamte der letzten freien französischen Regierung sich sogleich der von De Gaulle zusammengerufenen „Regierung des Freien Frankreich“ anschlossen, folgte Laugier zunächst 1940 einem Ruf an die Universität Montreal. Neben seiner intensiven naturwissenschaftlichen Forschungsarbeit dort übernahm er eine zentrale Rolle in der französischen Exilgemeinde in Nordamerika und bei der Unterstützung französischer Forscher im nordamerikanischen Exil. Im Juli 1943 folgte Laugier schließlich der Aufforderung De Gaulles und ging in das eben dem Vichy-Regime entrissene Algerien, um dort das Erziehungswesen neu aufzubauen. 1944 übertrug man ihm die Aufgabe, die auswärtige Kultur- und Wissenschaftspolitik Frankreichs neu aufzubauen.
Doch schon zwei Jahre später führte ihn sein Weg zurück nach Nordamerika. Kaum im Amt, berief der norwegische erste Generalsekretär der UNO Trygve Lie ihn Anfang 1946 zum „Untergeneralsekretär“ für soziale Fragen (einer seiner Untergebenen war übrigens der heute weit bekanntere Stéphane Hessel.) Damit war Laugier auch für den Aufbau des Menschenrechtsschutzsystems im Rahmen der neuen Organisation zuständig. Zusammen mit seinem kanadischen Freund und Mitstreiter John Peters Humphrey, den er zum Leiter der neu gegründeten Menschenrechtsabteilung (Division of Human Rights) beim Generalsekretariat berief, schuf er die administrativen Voraussetzungen und die fachlichen Grundlagen für die Arbeit der Menschenrechtskommission. Gleichzeitig gab er, als erfahrener Wissenschafts- und Bildungplaner, wichtige Impulse bei der Gründung der UNESCO, der WHO.
Schon in seiner Ansprache an die lediglich sechs anwesenden Delegierten zur Eröffnung der ersten Sitzung der Menschenrechtskommission (der später so genannten „Kernkommission“ am Montag den 29. April um drei Uhr nachmittags beschwor Laugier eindringlich „die Schatten all der Soldaten, Seeleute und Flieger, all der Kämpfer des zivilen Widerstands, die auf den Kampfplätzen der Welt für Recht und Freiheit gefallen sind“. Und als er dann im Januar 1947 die erste Sitzung der regulären Menschenrechtskommission einberief, schlug er ähnliche Töne an. Die Kommission müsse, so Laugier, „auf dem Feld des Friedens den Kampf fortführen, den die freie Menschheit auf dem Schlachtfeld ausgefochten hatte, [nämlich] die Rechte und die Würde der Menschheit gegen Angriffe zu verteidigen und ein machtvolles Instrument zur Anerkennung der Menschenrechte zu schaffen.“ Er beschwor die Erinnerung an „jene tiefe Nacht, in der zig Millionen Menschen gestorben sind, damit die Menschenrechte leben.“ Große Worte für einen nüchtern denkenden, naturwissenschaftlich geprägten Mann, die die tiefen emotionalen und spirituellen Wurzeln bezeugen, aus denen die Gegner des Faschismus ihre Überzeugung und ihr Engagement für die Menschenrechte zogen.
Doch Laugier, schon im französischen Widerstand einer der unabhängigsten Köpfe, ließ sich von schönen Worten nicht blenden. Nachdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die er mit auf den Weg gebracht hatte, glücklich durch die langen Instanzen der UNO-Maschinerie passiert und feierlich verkündet war, rief er sofort in Erinnerung, was alles noch zu tun war. Laugier war zutiefst von der moralischen und politischen Notwendigkeit der Menschenrechte überzeugt und glaubte daran, dass sie in der UNO eine tragende Rolle zu spielen hätten. So sehr er die wichtige Rolle der Menschenrechte in der UN-Charta würdigte, so sehr besorgte ihn das ungeklärte Verhältnis dort zwischen Menschenrechtsschutz und dem Prinzip der Staatensouveränität. Auch als Untergeneralsekretär nahm er sich die Freiheit, auch öffentlich gegen den Primat der Staatensouveränität in der UNO gegenüber dem Menschenrechtsschutz zu reden.
Er knüpfte damit wiederum an Positionen an, die er bereits während des Krieges bezogen hatte. Bereits 1942 hatte Laugier in diesem Sinn eine bemerkenswerte Kritik an einem Dokument geäußert, das gemeinhin als Schlüssel für die Proklamierung eine friedlichen und menschenrechtlich geprägten Nachkriegsordnung gilt: Die von Präsident Roosevelt und Premierminister Churchill im August 1941 unterzeichnete „Atlantik-Charta“. Punkt 3 dieses nur acht knappe Punkte langen Dokuments lautete:
„[Die USA und Großbritannien] achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.“
Dieser Absatz sollte noch – sehr zum Ärger Churchills – eine bedeutende Rolle in der antikolonialen Bewegung spielen. Aber Laugier las etwas anderes heraus, nämlich dass hier den Völkern auch die Freiheit zugestanden werde, sich ein Nazi-, ein faschistisches oder sonst ein totalitäres Regime zu geben. Und das sei nicht nur eine Riesenenttäuschung für die Kämpfer, die jeden Tag an der Front ihr Leben opferten, sondern auch ein Desaster für die Welt. Mehrfach verlangte Laugier nach einer Abänderung der Charta in diesem Punkt.
Wie kaum ein anderer in der UNO erkannte und beförderte Laugier auch die unverzichtbare Rolle von NGOs, nicht zuletzt auch der Gewerkschaften, im entstehenden UN-System als notwendigem Korrektiv gegen die Übermacht der staatlichen Diplomatie. Ohne eine starke Kontrolle durch zivilgesellschaftliche Organisationen, betonte er, fielen die Staaten hinter das Erreichte zurück. Und ohne direkte Beschwerdemöglichkeiten von Opfern von Menschenrechtsverletzungen an die UNO bliebe das gerade erst entstehende Schutzsystem, so Laugier schon 1950, eine Farce.
Das war zugleich eine Kritik daran, dass die Menschenrechtskommission es abgelehnt hatte, Einzelfallbeschwerden anzunehmen, während andererseits noch kein internationaler Menschenrechtsgerichthofs und auch noch keine Verträge mit Beschwerdeinstanzen bestanden. Wie viele andere, aber besonders deutlich und von hoher Position aus, verlangte Laugier eine rasche Einigung über die zweite Stufe des Menschenrechtswerks in der UNO nach der Allgemeinen Erklärung, eben den Abschluss eines rechtsverbindlichen internationalen Vertrags über die Menschenrechte. 1950 zeigten die Staaten, die eben noch ohne Gegenstimme die Menschenrechtserklärung verabschiedet hatten, jedoch wenig Lust, sich weiter zu binden. Laugier sah sogar die Gefahr, dass sich die Staaten auf ein schlecht verfasstes, verwässertes Vertragswerk einigen und damit der Menschenrechtserklärung die enorme moralische Autorität rauben könnten, die sie bereits damals genoss. Auch diese Kritik äußerte Laugier nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in einer dann auch gedruckten Rede bei einem Empfang, den er Nicht-Regierungsorganisationen im Rahmen der Menschenrechtskommission 1950 gab.
1951 schließlich, wohl auch enttäuscht von der Rolle der UNO im Koreakrieg und ihrer Unfähigkeit, sich gegenüber dem Kalten Krieg der Großmächte als unabhängige Weltorganisation zu behaupten, verließ der das Generalsekretariat nach Auslaufen seines Vertrags. Von 1952 bis 1958 konzentrierte er sich als Mitglied des Exekutivrats der UNESCO wieder seinem angestammten Gebiet, der Kultur- Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Danach, er war bereits siebzig, widmete er sich bis zu seinem Tod wieder bildungs- und forschungspolitischen Aufgaben in Frankreich. Politisch blieb er seinen internationalistischen, menschenrechtlichen und friedenspolitischen Ansichten treu. Als während des Algerienkriegs die extreme Rechte immer mehr Macht in Frankreich gewann, schloss er sich mit anderen ehemaligen Widerstandskämpfern dem radikal-demokratischen „Club Jean Moulin“ an, der u.a. gegen die Folter kämpfte. In der hitzigen Debatte um den Algerienkrieg schloss er sich, obgleich Mitglied der Sozialistischen Partei, seinem einstigen Weggefährten De Gaulle an, dem allein er die Beendigung des Krieges zutraute. Nach dem Krieg nahm er sich die Freiheit, dessen autoritäre Tendenzen zu kritisieren. Unabhängiges Denken blieb bis zuletzt sein Credo.
Anders als sein Landsmann René Cassin suchte Laugier nie das Rampenlicht, und so ist er heute, obwohl von allen Zeitgenossen als Schlüsselfigur bei der Errichtung des UN-Menschenrechtsschutzsystems anerkannt, kein bekannter Name in der Geschichte der Menschenrechte – zu Unrecht.