von Rainer Huhle
H. V. Evatt 1945 in San Francisco auf der UNO-Gründungskonferenz
UN Photo/Rosenberg
Am 10. Dezember 1948 fast um Mitternacht gab der Präsident der UNO-Vollversammlung im Palais de Chaillot in Paris das Ergebnis der Abstimmung über den Gesamttext der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekannt. 48 Staaten hatten mit Ja gestimmt, acht hatten sich enthalten. Er beglückwünschte die Delegierten zu ihrem Votum und merkte an, dass dies zweifellos ein historischer Beschluss gewesen sei, der aber nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer verbindlichen Menschenrechtsordnung in der Welt sein könne, dem weitere folgen müssten. Aber auch so würden „Millionen von Menschen, Männer, Frauen und Kinder aus aller Welt sich auf die Erklärung beziehen und Hilfe, Orientierung und Inspiration in ihr finden.“ Der Präsident, Herbert Vere Evatt aus Australien, ließ dann noch einige weitere Resolutionen abstimmen, darunter eine, in der die weltweite Verbreitung dieser Menschenrechtserklärung beschlossen wurde, sowie einen ersten Schritt in Richtung dieser verbindlichen Menschenrechtsordnung, nämlich den Beschluss, dass sich die UNO als nächstes an die Ausarbeitung eines völkerrechtlichen Menschenrechtsvertrags und an Maßnahmen zur konkreten Umsetzung der Menschenrechte machen werde. Inzwischen war Mitternacht vorbei, und um 00.10 des 11. Dezember schloss Evatt die historische Sitzung.
Doc Evatt, wie alle Welt seinerzeit von ihm sprach, blieb bis heute der einzige Australier, der je zum Präsidenten der Generalversammlung gewählt wurde. Doch nicht dies ist sein wesentliches Verdienst. Evatt war seit 1941 Außenminister in der damaligen Labor-Regierung, nachdem er sein bisheriges Berufsleben vor allem als Anwalt und Richter verbracht hatte. In beiden Rollen hatte er eine konsequent liberale Rechtsauffassung bewiesen, bisweilen auch in spektakulären Fällen, wie z.B. als er 1934 den weltweit gejagten kommunistischen Reporter Egon Erwin Kisch vor der Deportation aus Australien bewahrte.
Schon in seiner ersten Rede als Außenminister vor dem australischen Parlament im November 1941 bezog sich Evatt positiv auf die Four-Freedoms-Rede Präsident Roosevelts vom Januar und auf die Atlantik-Charta vom August des gleichen Jahres, also auf die damals wichtigsten Proklamationen einer neuen, menschenrechtlich orientierten Nachkriegsordnung. Zu dieser neuen Ordnung gehörte für Evatt aber vor allem auch eine gleichmäßigere Beteiligung aller Staaten an ihrer Gestaltung. Australien, flächenmäßig ein ganzer Kontinent, wurde unter Evatts Führung schon während des Krieges zu einem lautstarken Sprecher der „kleinen Nationen“. Evatt unterstützte die Bemühungen der Großmächte um eine neue, robustere Weltorganisation zur Friedenssicherung, begrüßte in diesem Sinn auch die Vereinbarungen der Großmächte 1944 in Dumbarton Oaks, kritisierte aber die Gestaltung des Vetorechts und die zu geringe Rolle der Generalversammlung in diesem Entwurf. Zu den Mechanismen, die er dabei schon früh als Korrektiv zur Macht der Großmächte ins Spiel brachte, gehörte ein Internationaler Gerichtshof, der ja dann auch auf der UN-Gründungskonferenz beschlossen wurde.
Ein weiteres zentrales Anliegen Australiens – formuliert von Evans – war die Erhaltung eines reformierten Treuhandsystems innerhalb der neuen Weltorganisation. Evatt wollte zwar „Entwicklung und Wohlstand“ als Ziel der Treuhandschaft über Kolonialgebiete festgeschrieben sehen, keineswegs aber die Unabhängigkeit dieser Gebiete. Australien hatte selbst solche Gebiete im Pazifik, darunter ehemalige deutsche Kolonien, und Evatt vertrat diese Interessen. Ende Mai 1945 telegrafierte er von der UN-Gründungskonferenz in San Francisco triumphierend nach Canberra, dass vier für Australien wesentliche Punkte bereits gesichert seien, darunter das Mandatssystem. „Dies wird unsere Rechte in Neu-Guinea vollständig sichern.“
Evatt (2. von links) diskutiert mit Harold Stassen
UN Photo/Mili
In San Francisco wurde Evatt trotz seiner Verteidigung des Treuhandsystems als Leiter der australischen Delegation zu einem der bekanntesten – und jedenfalls außerhalb der Großmächte auch populärsten – Delegierten, zum informellen Sprecher der „kleinen Staaten“. Die peruanische Delegation, die sich ebenfalls sehr für die Interessen der kleinen Staaten stark machte, brachte sogar einen Antrag ein, Evatt als „Champion of the small powers“ zu ehren. Und auch der amerikanische Verhandlungsführer Edward Stettinius, der zusammen mit seinem Kollegen Harold Stassen, in der Delegation der USA zuständig für die Frage der Treuhandgebiete, in den Augen vieler sein großer Gegenspieler war, erklärte später, dass niemand mehr als Evatt zum Gelingen der Konferenz beigetragen habe.
Australien und zahlreichen anderen „kleinen Staaten“ ist es hauptsächlich zu danken, dass die Menschenrechte, anders als in dem Entwurf von Dumbarton Oaks, in der UN-Charta unmissverständlich als Ziel der Vereinten Nationen verankert wurden. Auf Evatts Initiative ging u.a. der Artikel 56 der Charta zurück, der die Mitglieder der UNO auf die in Art. 55 aufgeführten Ziele verpflichtet, darunter „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“.
Zu den menschenrechtlichen Themen, die Evatt bereits bei der UN-Gründung auf die internationale Bühne brachte, gehörten nicht zuletzt die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Obwohl sie von Präsident Roosevelt bereits in seinen „Four Freedoms“ deutlich auf die Tagesordnung gesetzt waren, gehörten sie im Verständnis vieler Juristen nicht zu den Fragen, die völkerrechtlich, also auch nicht im Rahmen der Menschenrechte zu lösen seien. Artikel 55 der UN-Charta nennt unter den von den Vereinten Nationen zu fördernden Zielen auch „Verbesserung des Lebensstandards“ und – heute konsequent übersehen – „Vollbeschäftigung“. Australien hatte entscheidenden Anteil daran, dass die sozialen Fragen in der UNO den hohen Rang einnehmen, den ihnen die Charta schließlich zubilligte. Schon auf der ersten Plenarsitzung der Konferenz von San Francisco trug Australien die von Evatt formulierte These vor, dass Frieden und Sicherheit als Ziele der Vereinten Nationen nur auf der Grundlage wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit zu erreichen seien. Ebenfalls schon auf dieser ersten Sitzung warb Australien für das, was bald als “Australian Pledge” bekannt wurde, nämlich die schließlich in Art. 56 verankerte Selbstverpflichtung der UNO-Mitglieder auf die sozialen und menschenrechtlichen Prinzipien der Organisation, die auch ganz unabhängig von der Sicherheitsfrage ein eigenständiges Ziel sein müssten. Daher forderte Australien, dass der bereits vorgesehene Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) ein Hauptorgan der UNO werden solle. Die Umsetzung dieses Vorschlags in der UN-Charta hatte weitreichende Konsequenzen für das gesamte System. Unter anderem war sie Grundlage dafür, dass in der Charta bei der Einrichtung des ECOSOC auch bereits die Menschenrechtskommission als Organ des ECOSOC Erwähnung fand (aus der inzwischen als „Menschenrechtsrat“ ein weiteres Hauptorgan geworden ist).
Diese australischen Vorstöße reflektieren deutlich die von Evatt innerhalb der australischen Regierung und vor allem der Labor-Partei damals entwickelten Konzepte. Die Betonung der sozialen Menschenrechte vor allem als Arbeiterrechte entsprach völlig der Politik der Labor-Regierung. Australien war in der 18-köpfigen Menschenrechtskommission, die die Allgemeine Erklärung ausarbeitete, durch Colonel Hodgson bzw. Botschafter John D. L. Hood vertreten. Evatt als Delegationsleiter bei den UN und meinungsstarker Außenminister dürfte jedoch die Linien ihrer Interventionen bestimmt haben. Vollbeschäftigung als Ziel der UNO durchzusetzen, entgegen heftigem Widerstand, wie Evatt selbst anmerkte, zielte vor allem auch auf die innenpolitischen Debatten in Australien.
Ausführlicher als in den Debatten um die Allgemeine Erklärung erläuterte Australien seine Position einige Monate später, als es auf der 5. Sitzung der Menschenrechtskommission um die Formulierung des Menschenrechtspakts ging (damals ging man noch von einem einzigen Menschenrechtsabkommen mit allen Menschenrechten, analog zur Allgemeinen Erklärung, aus). Die australischen Anträge enthielten einige progressive Elemente, die über den schließlich vereinbarten Text hinausgingen. So sollte das Recht auf Arbeit ausdrücklich für alle Bewohner eines Landes, nicht nur für die Staatsbürger gelten. Außerdem verlangte Australien als Konsequenz des Rechts auf fairen Lohn die Festsetzung staatlicher Mindestlöhne, sofern die Tarifpartner nicht selbst ausreichende Löhne vereinbarten.
Dass das australische Engagement für soziale und wirtschaftliche Rechte sich aus der Programmatik der Labor Party speiste, führte aber auch zu Dissonanzen mit der menschenrechtlichen Konzeption dieser Rechte innerhalb der Menschenrechtskommission. So argumentierten Australien (und auch Neuseeland) z.B. gegen die Bestimmung des Art. 20(2) der AEMR, wonach niemand gezwungen werden darf, einer Vereinigung anzugehören. Diese aus liberalem Geist gespeiste Bestimmung stand im Gegensatz zu der damals nicht nur in Australien verbreiteten Praxis der „closed shops“ in den Arbeitsbeziehungen, bei der sich mächtige Gewerkschaften und Unternehmer darauf einigten, dass nur Mitglieder bestimmter Gewerkschaften eingestellt würden. Aus dem gleichen Grund war Australien auch gegen die Bestimmung von Art. 23(4), der das Recht zur Bildung von und zum Beitritt zu Gewerkschaften in einer Weise sicherstellt, die mit dem „closed shop“-Prinzip ebenfalls schlecht zu vereinbaren ist. Die Freiheit, Gewerkschaften zu bilden, sei ohne Zweifel wichtig für Länder, wo sei nicht existierten, so der australische Delegierte Mitte November 1948 im Dritten Ausschuss, in Staaten jedoch wie Australien, wo es ein seit 50 Jahren ein fest etabliertes System von Gewerkschaften gebe, gehe es eher um das Recht, Gewerkschaften beizutreten.
Ein großes Anliegen Evatts und aller australischen Delegierten war die Frage, wie die beschlossenen Menschenrechte auch international durchzusetzen wären. Australien schlug bereits im April 1948 in der Menschenrechtskommission die Errichtung eines Menschenrechtsgerichtshofs (Court of Human Rights) als wichtige Maßnahme zur Durchsetzung (implementation) der Menschenrechte vor. Auf der fünften Sitzung der Menschenrechtskommission legte Australien dann sogar ein komplettes Statut für einen solchen Menschenrechtsgerichtshof vor. Die Idee war zu kühn, erst in den letzten Jahren wurde sie wieder stärker in die Diskussion gebracht. Statt eines Menschenrechtsgerichtshofs entstanden die Überwachsungsausschüsse zu den verschiedenen Menschenrechtsverträgen.
„Doc Evatt“ war von Beginn an Leiter der australischen Delegation zur Generalversammlung der Vereinten Nationen. Doch 1949 verlor die Labor Party die Wahlen, und Evatts weitere politische Karriere verlief auf Seiten der Opposition. 1951 wurde er Parteiführer von Labor, und noch im gleichen Jahr führte er eine Kampagne gegen das von der neuen Regierung angesichts des Koreakriegs angestrengte Referendum zum Verbot der Kommunistischen Partei an. Er kämpfte mit aller Energie gegen diesen „deutlichen Schritt zum Polizeistaat“ und hatte, entgegen den Erwartungen und gegen den auch in Australien spürbaren McCarthyismus Erfolg. In einer seiner Presseerklärungen während der Kampagne machte er deutlich, was für ihn die internationalen Lehren aus den NS-Verbrechen für die Menschenrechte waren. „Zuerst die Roten, dann die Juden, dann die Gewerkschaften, dann die Sozialdemokraten, dann die Katholische Zentrumspartei, und schließlich die katholischen und lutherischen Kirchen,“ schrieb er in Anlehnung an Martin Niemöller. „Es ist der alte totalitäre Weg, der Weg, der zu den Schrecken von Bergen-Belsen führte, der Millionen von Menschenleben im Zweiten Weltkrieg kostete und unerhörte Opfer von unseren Völkern im Kampf gegen Hitler, Mussolini und Japan forderte.“
Der politische Preis für diesen Einsatz war im konservativen Australien der fünfziger Jahre trotz des Erfolgs hoch. 1960 verließ Evatt, nachdem sich die Partei während seiner Amtszeit gespalten hatte, die parteipolitische Arena und kehrte in den Justizdienst zurück, wo er als Oberster Richter des Staates New South Wales in Sidney noch an wichtigen Entscheidungen zugunsten der Bürgerrechte beteiligt war. Nach längerer Krankheit starb er am 2. November 1965.