Lateinamerika und der Völkerbund

8. Dezember 2012 | Von | Kategorie: Rezensionen

Thomas Fischer: Die Souveränität der Schwachen. Lateinamerika und der Völkerbund, Stuttgart (Steiner Verlag) 2012, 459 Seiten

Als sich im April 1945 in San Francisco 50 Staaten versammelten, um einen neue Weltorganisation, die Vereinten Nationen, zu gründen, waren zwei Fünftel davon aus Lateinamerika. Sie vermochten ganz erheblich an der Verfassung und den Weichenstellungen der entstehenden UNO mitzuwirken. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, beim ersten Versuch, eine solche weltumspannende Organisation mit dem Ziel der Erhaltung des Weltfriedens zu gründen, waren mehr als ein Drittel der Mitgliedstaaten aus Lateinamerika. Allerdings war der damals ins Leben gerufene Völkerbund, obgleich wesentlich vom US-amerikanischen Präsidenten Wilson vorangetrieben, in vieler Hinsicht eine europäisch dominierte Veranstaltung, insbesondere nachdem die USA sich dem Bund nicht anschlossen. Die stark europäische Ausrichtung der „Société des Nations“ ergab sich schon daraus, dass ihre Gründungsakte Teil des Friedensvertrags von Versailles war, der diesen Krieg beendete.

Was aber suchten und fanden dabei die zahlreichen Staaten Lateinamerikas, die dem Bund beitraten? Darauf gibt das Buch von Thomas Fischer ausführlich Auskunft. Wie er detailliert zeigt, war die Stellung der lateinamerikanischen Staaten (mit Ausnahme Brasiliens) durch die während des Krieges eingenommene neutrale Haltung geschwächt. Sie mussten erst um Aufnahme nachsuchen und wurden von den Großmächten klar auf eine zweitrangige Position verwiesen. Dennoch sahen sie in der internationalen Organisation, gerade auch nach dem vom amerikanischen Kongress beschlossenen Fernbleiben der USA, eine Chance, sich international neu zu positionieren und aus dem Schatten der USA wirtschaftlich und politisch stärker herauszutreten. Einige Staaten vor allem in Mittelamerika und der Karibik waren ja sogar militärisch unter direkter Kontrolle der USA. Einige lateinamerikanische Diktatoren setzen durch den Beitritt ihres Landes auf erhöhtes internationales Ansehen. Und nicht zuletzt war die vom Völkerbund erwartete – und teilweise ja auch verwirklichte – Einrichtung internationaler Schiedsinstitutionen eine in großen Teilen der lateinamerikanischen Diplomatie seit langem verwurzelte Idee.

Ähnlich wie später mit großem Nachdruck in der UNO setzten sich einige lateinamerikanische Vertreter – letztlich vergeblich – auch für eine „demokratische“ Gestaltung des Völkerbunds ein, also für die Gleichberechtigung aller Mitglieder und für ein gleiches Beitrittsrecht aller Staaten. Der Völkerbund blieb eine europazentrierte Institution, in der die Großmachtinteressen der beiden Siegermächte Frankreich und vor allem Großbritannien dominierten. Umso merkwürdiger nahm sich der Artikel 21 der Satzung aus, in dem die Regionaldoktrin eines Staates anerkannt wurde, der gar kein Mitgliedsland war, nämlich die von den USA schon im frühen 19. Jahrhundert formulierte Monroe-Doktrin. Damit war es den Europäern leicht gemacht, lateinamerikanische Belange als gewissermaßen außerhalb der Zuständigkeit des Völkerbunds zu betrachten.

Die Anerkennung der Monroe-Doktrin, der Fischer ein ganzes Kapitel widmet, verweist, wie der Autor zu Recht betont, auf das ungelöste Problem des Verhältnisses von regionalen Interessenslagen und Zusammenschlüssen zu dem internationalen Anspruch des Völkerbunds. Die Panamerikanische Union, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten, und die erst 1945 durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS/OEA) abgelöst wurde, war während der Völkerbundszeit auch das Forum, in dem die lateinamerikanischen Staaten versuchten, sich allmählich der Vormundschaft der USA – und damit der von den USA zumindest bis 1933 angewandten Interpretation der Monroe-Doktrin als Rechtfertigung ihrer Dominanz – zu entledigen. Fischer geht immer mal wieder auf das Verhältnis der Panamerikanischen Union bzw. des lateinamerikanischen Regionalismus zum Völkerbund ein, widmet der Frage jedoch leider keinen systematischen Zugang. Dies ist auch deswegen bedauerlich, weil gerade die fehlende Klärung von regionaler und globaler Staatenorganisation zu einem wichtigen Lernprozess der lateinamerikanischen Diplomatie geführt hat, der sich dann in der panamerikanischen Konferenz von Chapultepec und der im gleichen Jahr 1945 nur wenige Monate später stattfindenden Gründungskonferenz der UNO in San Francisco in einer sehr entschiedenen gemeinsamen Haltung der lateinamerikanischen Staaten für eine Verankerung regionaler Organisationen in der neuen Weltorganisation niederschlug. Die durch den Rückzug der meisten lateinamerikanischen Staaten aus dem Völkerbund ab 1936 nahegelegte Beschränkung der Studie auf diesen Zeitraum hat einen intensiveren Blick auf diese Spätfolgen wohl verhindert.

Eine weitere Einengung der Studie ist ebenfalls zu bedauern. Fischers Blick ist ausschließlich auf die außenpolitischen Funktionen des Völkerbunds (und soweit einbezogen, auch der Panamerikanischen Union) als Regulator zwischenstaatlicher Beziehungen gerichtet. Der Konfliktregelung in Grenzkriegen ist zu Recht ein ganzes Kapitel gewidmet, war doch der – jedenfalls nicht ganz erfolglose – Versuch des Völkerbunds, im verheerenden Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien eine Lösung zu finden, eine gewichtige Ausnahme von der sonstigen Vernachlässigung Lateinamerikas durch den Bund, und darüber hinaus überhaupt eines der wenigen Beispiele für die Einschaltung des Völkerbunds in einem großen internationalen Konflikt. Doch sowohl die Panamerikanische Union wie der Völkerbund haben wichtige, und jedenfalls erfolgreichere Anstrengungen auch bei der Entwicklung internationaler Kooperation in wichtigen Fragen wie der Gesundheit, der Kommunikation, der Kultur und ansatzweise sogar der Menschenrechte geleistet. Fischer selbst hat anderswo etwa über die Bemühungen des Völkerbunds, den Frauenhandel zwischen Europa und Südamerika (vor allem Argentinien) zu bekämpfen, berichtet. Oder man denke an die Rolle lateinamerikanischer Staaten in der ILO, wo es ein Geben und Nehmen gab, das wichtig für die Entwicklung einer sozialen Gesetzgebung in Lateinamerika war (Venezuela z.B. hat 1936 als erstes Land überhaupt die ILO für die Ausarbeitung eines reformierten Arbeitsgesetzbuchs in Anspruch genommen) oder im Hygienekomitee, dem Vorläufer der Weltgesundheitsorganisation. Bemerkenswert waren auch die Beiträge lateinamerikanischer Juristen bei der Entwicklung der Jurisprudenz des Internationalen Gerichtshofs, der vom Völkerbund geschaffen und 1945 direkt von der UNO übernommen wurde. Ein Blick auf die Rolle Lateinamerikas bei der Herausbildung solcher internationaler Initiativen und Organisationen, von denen einige bis heute bestehen, brächte ohne Zweifel Gewinn für ein breiteres Verständnis nicht nur der Rolle Lateinamerikas sondern auch des Völkerbunds selbst.

Auf dem so eingeschränkten Gebiet stellt Fischers Studie zweifellos als erste derart umfassend die schwierige Rolle der lateinamerikanischen Staaten bei diesem ersten Versuch einer politischen Weltgemeinschaft dar und wird wohl noch länger als Referenzwerk dienen. Angesichts der von ihm präsentierten Fülle an Detailinformation über Ereignisse und Personen, die heute nur noch Spezialisten geläufig sind, wird der Wert des Buches leider durch das Fehlen eines Index eingeschränkt, eine verlegerische Entscheidung, die angesichts des Verkaufspreises des Buches nicht nachvollziehbar ist. Eine Bereicherung sind dafür die zeitgenössischen Karikaturen, die sehr anschaulich machen, welche Art von Kritik die Öffentlichkeit verschiedenster Länder an den allgemein als unzureichend empfundenen Bemühungen des Völkerbunds hatte.

Rainer Huhle

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