Robert Falco – französischer Richter im Nürnberger Prozess

2. April 2013 | Von | Kategorie: Rezensionen

Robert Falco : Juge à Nuremberg – Souvenirs inédits du procès des criminels nazis, illustrations de Jeanne Falco, préface d’Annette Wieviorka, introduction de Guillaume Mouralis, Nancy : Éditions Arbre Bleu 2012[1]

Der Prozess gegen Hermann Göring, Rudolf Heß und die anderen NS-Hauptkriegsverbrecher, der 1945/46 in Nürnberg stattfand, war das Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit. Die vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges, die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, besetzten Gericht und Anklagebehörde zu gleichen Teilen und waren so gemeinsam dafür verantwortlich, dass in Nürnberg zum ersten Mal in der Geschichte internationales Strafrecht angewendet wurde. In der Rückschau ist dieser Umstand jedoch verblasst und der internationale Charakter des Prozesses hat insgesamt wenig Beachtung gefunden. Da die USA die treibende Kraft bei der Vorbereitung waren und der Prozess in der amerikanischen Besatzungszone stattfand, hat das Interesse von Historikern und Juristen vielmehr vor allem dem amerikanischen Anteil gegolten. Das trifft auf den Großteil der wissenschaftlichen Untersuchungen zu, aber auch auf die Memoirenliteratur zu Nürnberg. Es waren in erster Linie Angehörige der amerikanischen Delegation, allen voran Telford Taylor und Gustave Gilbert, die im Laufe der Zeit ihre Erinnerungen veröffentlicht und den heutigen Blick auf die Ereignisse in Nürnberg maßgeblich beeinflusst haben.[2]

Memoiren von Vertretern der anderen drei Länder sind dagegen kaum bekannt, wie es am Beispiel Frankreich ersichtlich ist. Als einziger Bericht eines hochrangigen französischen Prozessteilnehmers galt bislang ein Kapitel in den Memoiren Edgar Faures, der in Nürnberg als stellvertretender Chefankläger seines Landes fungierte.[3] Mit der Veröffentlichung der Erinnerungen Robert Falcos kommt nun ein weiterer, bemerkenswerter Text hinzu, dessen historische Bedeutung bei der Lektüre schnell klar wird.

Robert Falco war der stellvertretende französische Richter im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Bei Kriegsende Richter am „Cour de cassation“, dem obersten Gerichtshof Frankreichs, hatte er sich für eine Tätigkeit am Internationalen Militärgerichtshof beworben, dessen Schaffung die Alliierten für den Hauptkriegsverbrecherprozess zu diesem Zeitpunkt planten. Das Justizministeriumschickte Falco zunächst als französischen Vertreter zur Londoner Konferenz, auf der im Sommer 1945 der Prozess vorbereitet und das Statut für den Gerichtshof ausgearbeitet wurden. Nach den Londoner Verhandlungen erfolgte Falcos Ernennung zum stellvertretenden Richter. Dadurch war Falco im Gegensatz zu seinem Landsmann Henri Donnedieu de Vabres bei der Urteilsfindung in Nürnberg zwar selbst nicht stimmberechtigt, nahm aber an allen Besprechungen des Richterkollegiums teil und verfolgte den gesamten Prozess von der Richterbank aus mit. Dies ist umso bemerkenswerter, da Falco damit als einziger Vertreter seines Landes die Vorbereitung und den Ablauf des gesamten Prozesses persönlich miterlebte. Seine tagebuchartig gegliederten Erinnerungen, die offensichtlich auf von ihm angefertigten Notizen basieren, behandeln diesen gesamten Zeitraum, von den Vorbereitungen in London angefangen bis hin zur seiner Abreise aus Nürnberg nach der Urteilsverkündung. Illustriert wird der Bericht durch Zeichnungen, die Jeanne Falco, die ihren Mann nach Nürnberg begleitete, von diversen Prozessteilnehmern anfertigte. Vorangestellt sind ihm außerdem ein Vorwort Annette Wieviorkas, die Autorin einer der wenigen französischen Untersuchungen zum Nürnberger Prozess ist[4], und eine Einführung, in der Guillaume Mouralis den historischen Rahmen und den aktuellen Forschungsstand erläutert.

Falcos Erinnerungen sind in insgesamt 14 Kapitel untergliedert, in denen der Verfasser chronologisch die einzelnen Prozessphasen beschreibt und seine persönlichen Eindrücke wiedergibt. Viel Aufmerksamkeit widmet er den Angeklagten. Von diesen enthält sein Bericht eine Reihe von Charakterisierungen und auch die einzelnen Verteidigungsstrategien stellt Falco heraus. Mit klarem Unverständnis beschreibt er beispielsweise das Verhalten des angeklagten Gestapochefs Ernst Kaltenbrunner, der trotz einer erdrückenden Beweislast gegen seine Person auch nur jegliches Wissen von den Massenmorden in den deutschen Konzentrationslagern leugnete. Für die schwierige Situation von Kaltenbrunners Anwalt Kurt Kauffmann, den das Verhalten seines Mandanten merklich in Verlegenheit brachte, empfindet Falco dagegen sichtliches Bedauern. Aber er richtet den Blick auch auf die anderen Richter und die Vertreter der Anklagebehörde. Das beste Verhältnis hatte Falco zu den Spitzen der britischen Delegation, und so zeugen die Kommentare über David Maxwell Fyfe und die anderen Repräsentanten Londons von Achtung und Respekt. Alles in allem macht den besonderen Reiz dieser anschaulichen Schilderungen zweifellos der bisher weitgehend unbekannte Blickwinkel aus, aus dem sie erfolgen.

Darüber hinaus erhält der Leser ein Bild vom Leben der Mitglieder der französischen Delegation in Nürnberg und ihren alltäglichen Nöten. Hier fällt vor allem der Mangel an finanziellen Mitteln und jeglicher weiteren Ausstattung auf, mit dem die französische Delegation zu kämpfen hatte und der in krassem Gegensatz zu den Möglichkeiten ihrer amerikanischen Kollegen stand. Schon bei Falcos Anreise nach Nürnberg wird dieser Gegensatz deutlich: Als Falco sich Ende Oktober 1945 zusammen mit seiner Frau von Paris aus auf den Weg machte, mussten die beiden den Zug nehmen, der aber nur bis Frankfurt fuhr. Da aufgrund von Mangel an Transportmitteln von französischer Seite für die Weiterreise nicht gesorgt war, war das Ehepaar in Frankfurt auf die Hilfe von Falcos amerikanischem Kollegen John J. Parker angewiesen, der beide in seinem Automobil bis nach Nürnberg mitnahm. In Nürnberg angekommen wurden die beiden schließlich von den Amerikanern in einer requirierten Villa im Stadtteil Erlenstegen einquartiert. Solche Episoden zeigen drastisch, wie spärlich die Mittel waren, mit denen die französische Delegation in Nürnberg auskommen musste. Falco gehörte als Richter dabei allerdings noch zu einem privilegierten Personenkreis. Einfache Delegationsmitglieder wie Schreibkräfte oder Übersetzer lebten demgegenüber unter noch sehr viel schlichteren Bedingungen.

Aufschlussreich ist schließlich auch der Einblick, den Falcos Darstellung in die Entscheidungsmechanismen des Gerichts und in die einzelnen Beratungen bietet. Hier ist vor allem an die Urteilsfindung zu denken. Der bisherige Forschungsstand zum Zustandekommen der Nürnberger Urteilssprüche mit ihrem individuellen Strafmaß fußt auf den Aufzeichnungen des amerikanischen Richters Francis Biddle, die als erster der Historiker Bradley F. Smith auswertete.[5] Vergleicht man diese mit Falcos Auszeichnungen, werden von geringfügigen Abweichungen abgesehen die meisten Aussagen bestätigt. Unter anderem stellt Falco das milde Votum seines Landsmannes Donnedieu de Vabres in einer ganzen Reihe von Fällen klar heraus und mehrfach ist dabei unübersehbar, dass er die nachsichtige Haltung seines Kollegen nicht teilt. Für einen ganz zentralen Aspekt der Prozessgeschichte ist der Bericht damit auch eine der wenigen überhaupt vorhandenen Quellen.

Stellt man all diese Gesichtspunkte in Rechnung, dann kann man die Veröffentlichung von Falcos Erinnerungen nur als seit langem überfällig bezeichnen und dementsprechend begrüßen. Dass es 66 Jahre nach Ende des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses überhaupt dazu gekommen ist, ist dem Verlag „Éditions Arbre Bleu“ und dem Engagement der an dem Projekt beteiligten Historiker zu verdanken. Denn die Geschichte von Falcos Bericht spiegelt auch ein erstaunliches Desinteresse wider, das in Frankreich lange Zeit gegenüber dem Prozess vorherrschte. Lange Jahre befanden sich Falcos Aufzeichnungen im Besitz seiner Tochter. Seit den 90er Jahren war schließlich eine Rohfassung des Textes in den Archives Nationales in Paris hinterlegt und dort einsehbar. Aber durch die Publizierung erreichen Falcos Erinnerungen nun erstmals eine breite Öffentlichkeit, jedenfalls in Frankreich. Zu hoffen bleibt, dass es bald zu einer Übersetzung ins Deutsche kommt.

Matthias Gemählich

[1] Diese Rezension erschien auch auf: http://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/francia-recensio/index_html

[2] Vgl. Taylor, Telford: Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994; Gilbert, Gustave: Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen, Frankfurt am Main 1962; auch Sprecher, Drexel A.: Inside the Nuremberg Trial. A Prosecutor’s Cromprehensive Account, 2 Bände, Lanham 1999; Goldensohn, Leon: The Nuremberg Interviews, New York 2005; Sonnenfeldt, Richard: Witness to Nuremberg. The Chief American Interpreter at the War Crimes Trials, New York 2006.

[3] Vgl. Faure, Edgar: Mémoires II. « Si tel doit être mon destin ce soir… », Paris 1984, S. 13-64.

[4] Vgl. Wieviorka, Annette: Le procès de Nuremberg, Caen, Rennes 2005.

[5] Vgl. Smith, Bradley F.: Der Jahrhundert-Prozess. Die Motive der Richter von Nürnberg – Anatomie einer Urteilsfindung, Frankfurt am Main 1977.

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