Der neueste Angriff auf Allende

30. April 2014 | Von | Kategorie: Rezensionen

Martin Cüppers: Walther Rauff – In deutschen Diensten. Vom Naziverbrecher zum BND-Spion (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, hrsg. von Michael Mallmann und Martin Cüppers, Bd. 24), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013

Versuche, den 1973 vom chilenischen Militär gestürzten Sozialisten Salvador Allende in die Nähe des Nationalsozialismus zu bringen, sind nicht neu. Der chilenische Publizist Victor Farías hatte bereits behauptet, Allende habe den in Chile lebenden früheren SS-Mann und Massenmörder Walther Rauff „direkt und absichtlich“ vor der Ausweisung nach Deutschland geschützt und spricht von „Beziehungen Salvador Allendes mit dem SS-Standartenführer“. Nun legt der deutsche Historiker Martin Cüppers nach.

Er behauptet: „Salvador Allende kannte Walther Rauff persönlich. Wiederholt hatte er mit dem Naziverbrecher gesprochen, ohne irgendwelche Skrupel wegen dessen Vergangenheit erkennen zu lassen…“

Das wirkt wie der endgültige Beweis einer ziemlich gewagten und höchst unzureichend belegten These bei Farías.[1] Liest man Cüppers` Biografie „Walther Rauff – in deutschen Diensten – vom Naziverbrecher zum BND-Spion“, eine überarbeitete Habilitationsschrift, genauer, werden die Zweifel an Allende zu Zweifeln an Cüppers.

Zunächst stehen die Chile-Kapitel seines Buches insgesamt auf schwachen Füßen. Cüppers überschätzt wie viele andere Autoren den Einfluss der Auslandsarbeit der NSDAP in Chile.[2] Mit dieser gängigen, aber sachlich nicht begründeten Überschätzung des Nationalsozialismus in Chile bekommt Rauff für Chile eine größere Bedeutung, als sie aus den Quellen belegbar ist.

Oder: „Die (chilenische, D.M.) Gesellschaft besteht zu 95% aus Mestizen und nur zu etwas mehr als vier Prozent aus Angehörigen indigener Völker wie den Mapuches und Aymara“ (261). Wer Chile kennt, kann sich darüber nur wundern. Die 95% sind Chilenen mit europäischen Vorfahren und (!) Mestizen. Auch ein paar weitere Fehler gehen wohl auf mangelnde Landes- und Sprachkunde zurück. Santiago liegt bei Cüppers im Tal eines Flusses „Mapucho“ (262, richtig: Mapocho). Rauff habe dort den „Wohnort Casilla 99 D“ gehabt, der sich aber als Deckadresse erwiesen habe, die ihm ein Geschäftsfreund zur Verfügung gestellt habe (306). „Casilla“ heißt Postfach. „Nena“ (Kosename für „Mädchen“) hält Cüppers offenbar für einen Vornamen. Im Index führt er einen Chilenen unter seinem zweiten Nachnamen auf, weil er offenbar mit den Nachnamen väter- und mütterlicherseits im Spanischen nicht vertraut ist. Eine Zeitschrift mit einem Rauff-Interview, die Heinz Schneppen[3] in langer Recherche nicht verifizieren konnte, nennt er so, wie es auf dem Artikel steht: „Semana“ (dt.: Woche), also die Bezeichnung für die Rubrik (hier etwa: Wochenendbeilage).

Aber auch politisch ist einiges schief. 1973 habe es „weitere gescheiterte Putschversuche“ gegeben bis zum gelungen Putsch im September dieses Jahres. Es gab in diesem Jahr aber nur einen misslungenen Putschversuch („tanquetazo“) vom Juni 1973. Es gibt keine „drei Teilstreitkräfte des chilenischen Armee“ (353) sondern das Heer (umgangssprachlich: Armee) ist einer der drei Teile der bewaffneten Streitkräfte (Fuerzas Armadas, hinzu kommen die Carabineros).

Cüppers formuliert polemische Zuspitzungen, die sich als Flopp erweisen: Der deutsche Auslieferungsantrag gegen Rauff von 1960/62 zog sich innerhalb der deutschen Behörden quälend hin. Cüppers stellt dazu „Nachlässigkeit, Inkompetenz und Gleichgültigkeit“ und nicht zuletzt sogar eine „partiell feststellbare Sympathie für den Täter“ fest (305). Einiges daran stimmt, aber kann man der deutschen Botschaft und dem Auswärtigen Amt vorwerfen, dass sie versucht haben, den Auslieferungsantrag nach chilenischem Recht wasserdicht einzureichen, auch wenn das am Ende nicht gelang? Die Akten im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, aus denen Cüppers sonst ausführlich zitiert, zeigen die formalen Schwierigkeiten unmissverständlich, und Schneppen untersucht sie in seiner Rauff-Biografie. Das ignoriert Cüppers. Rauff war 123 Tage lang in Auslieferungshaft, dann wurde der deutsche Antrag abgelehnt. Die „partiell feststellbare Sympathie“, ja sogar Bekanntschaft mit dem Botschafter soll aus einem Brief Rauffs hervorgehen, der aber, nach Cüppers‘ Zusammenfassung zu schließen, nur allgemeines Wissen über das angebliche Verhalten des Botschafters enthält, für Cüppers freilich ein „eindeutiger Beleg“ (312).

Allende („als fortschrittlich angesehen“, 348) habe sich gegen „Rassentrennung und Antisemitismus“ gewandt, „allerdings zeigte sich auch bald, dass zahlreiche jüdische Migranten, die einst vor Hitler nach Chile geflohen waren, der neuen sozialistischen Regierung misstrauten. Innerhalb kurzer Zeit verließen 2000 Jüdinnen und Juden das Land“ (348). Das klingt nach rhetorischer Abgrenzung vom Antisemitismus bei gleichzeitiger Praxis, die die Juden – wie bei Hitler! – zur Auswanderung trieb. Cüppers belegt diese Passage mit dem erwähnten Aufsatz von Irmtrud Wojak. Dort aber ist nur von „unsicheren politischen Verhältnissen“ die Rede. Wojak spricht an der von Cüppers angegebenen Stelle von der geringen Bereitschaft der Verfolgten und ihrer Kinder, die chilenische Staatsbürgerschaft anzunehmen und dass man über die Gründe hierfür nur mutmaßen könne. Als ein Beispiel nennt sie die Juden (das Thema ihres Artikels), die nach Allendes Wahlsieg (wie auch viele nichtjüdische Angehörige des Bürgertums, D.M.) Chile verließen.

Und nun Cüppers` harter Vorwurf, den wir hier ausführlich zitieren: „Salvador Allende kannte Walther Rauff persönlich. Wiederholt hatte er mit dem Naziverbrecher gesprochen, ohne irgendwelche Skrupel wegen dessen Vergangenheit erkennen zu lassen. Seinen Verwandten in Deutschland hatte Rauff mehrmals genüsslich von den Begegnungen berichtet. Schon im Zuge der Wahlkampagne 1964 […] waren Mitarbeiter des Sozialisten [Allende, D.M.] an Rauff herangetreten und hatten ihm versichert, dass die ‚Unidad Popular‘ [linke Wahlallianz, D.M.] im Falle eines Wahlsiegs ‚gerade solche Typen wie mich dann dringend brauchen.‘ ‚Was will man mehr‘, kommentierte Rauff die damalige Offerte des chilenischen Politikers. Zwischen 1964 und 1970 besuchte Allende dann auch mehrfach die Konservenfabrik [die Rauff führte, D.M.] im Süden des Landes und machte gegenüber Rauff im Gespräch unter vier Augen sogar sein Interesse an einer Betriebsbeteiligung deutlich. Das Ansehen des Politikers und wohlhabenden Geschäftsmanns lehnte Rauff im Sinne seiner Arbeitgeber allerdings dankend ab. Eher zufällig traf der NS-Verbrecher den als ‚stinkreich‘ wahrgenommenen späteren Staatspräsidenten dann auch in der Hauptstadt noch öfters, und beide verhielten sich bei solchen Anlässen ‚immer sehr freundschaftlich‘, wie Rauff seinen Verwandten berichtete.“ (350 f).

Der Absatz gibt zu denken: Einmal unterstellt, dass Rauff in seinen Briefen die Wahrheit schrieb: woher wusste er, ob Allende Skrupel hatte,- oder woher weiß es Cüppers? Aus Allendes Mitarbeitern wird implizit Allende selbst. Und welche Mitarbeiter sind gemeint? Die Wahlkämpfe der Sozialistischen Partei Chiles wurden von deren gesamter Basis geführt. Allende sei, so Cüppers, wohlhabender Geschäftsmann, gar stinkreich gewesen, nicht der Arzt, der er tatsächlich war. Vor allem aber sind Cüppers` einzige Quelle öffentlich nicht zugängliche Privatbriefe Rauffs an einen Verwandten in Deutschland. Da Cüppers aus diesen Briefen nur wenige Wörter zitiert, muss im Dunkeln bleiben, was tatsächlich geschehen ist.

Cüppers nennt in seiner Einleitung die gebotenen Vorbehalten gegenüber Dokumenten, die die in einer Biografie zu untersuchende Person selbst hervorgebracht hat (Ego-Dokumente, 17), berücksichtigt diese Vorbehalte in seiner Studie aber kaum (Ausnahme: 202, 232). Autobiografische Schriften sind zweckgeleitete Selbstinterpretationen; der Autor will ein bestimmtes Bild seiner selbst vermitteln. Was Rauff betrifft, ist kritische Lektüre der Selbstbezeugungen mehr als angebracht. Rauff wollte vor seiner Familie gut dastehen und muss davon ausgegangen sein, dass der Bundesnachrichtendienst (BND), für den er gearbeitet hatte, seine Briefe mitlas, was er auch tat, wenn auch nicht unbedingt zu dieser Zeit (wobei Cüppers informelle Kontakte Rauffs zum BND noch lange nach seiner Abschaltung 1962 und bis in die Pinochet-Zeit nicht ausschließt, 357). Da lag es auch nach seiner Abschaltung durch den BND nahe, gute Beziehungen zu Beobachtungsobjekten zu lancieren. Die Briefe, die der BND abgefangen und transkribiert hat und die heute im Bundesarchiv Koblenz liegen, lassen erhebliche Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkommen. Es gibt Briefe, in denen sich Rauff ominöser Kontakte rühmt, wobei anzunehmen ist, dass er seinen eigenen Wert als Quelle steigern wollte. Rauff trank, wie Cüppers anschaulich schildert (360), gerne und viel („Selbstbezeichnung: Hartsäufer“, 360). Sein Alkoholismus wäre ein weiterer Grund zur Skepsis.

Im Fall der geflohenen NS-Täter kommt hinzu, dass ihr Selbstverständnis auf der Lebenslüge aufbaut, sie seien keine Flüchtlinge, sondern geschlagene, aber letztlich unbesiegte Helden. Das Fluchtland – Cüppers spricht eher freundlich von Exilland – wird zur Behelfsbühne einer permanenten Selbstinszenierung gebrochener Identität. Cüppers aber hinterfragt Rauffs Selbstzeugnisse nicht, sondern nimmt ihn beim Wort und macht ihn zum Kronzeugen seiner selbst. Er zitiert Victor Farías, der, wie eingangs erwähnt, eine Affinität zwischen Rauff und Allende behauptet hatte, ohne auf die heftige Kontroverse einzugehen, die dieser Autor ausgelöst hat. Auch die Frage, wie Rauff gleichzeitig mit Allende und Pinochet befreundet gewesen sein könnte und was Allende bewogen haben könnte, mit dem als NS-Flüchtling bekannten Rauff freundschaftlichen („konferierte freundlich“, 398) und um ein Haar auch geschäftlichen Kontakt zu pflegen, geht Cüppers nicht ein.

Rauff habe „enge Kontakte zu hochrangigen (chilenischen, D.M.) Militärs“ gehabt, so Cüppers, die ihn hätten schützen können, falls die deutsche Justiz ihn behelligt hätte (261, s.a. 280, 314, 330). Genannt wird Pinochet, mit dem Rauff sich in seinem vorigen Fluchtland Ecuador angefreundet hatte.[4] Pinochet war zu dieser Zeit Major (1956-59), also nicht besonders hochrangig, und hätte im damaligen Rechtsstaat Chile nichts für ihn tun können. Eine von Cüppers` Quellen für den Kontakt Pinochet-Rauff ist Farfán/Vega: La Familia, Chile 2009 (S. 188-194), aber weder auf diesen Seiten noch sonst in dem Buch ist von Rauff die Rede, stattdessen aber auf den angegebenen Seiten von einem Seitensprung Pinochets. Die Ränge der anderen chilenischen Militärs, die zu der von Pinochet geleiteten Mission gehörten (Cüppers‘ “hochrangige Militärs“), sind in La Familia nicht angegeben und müssen niedriger als der des Missionsleiters Pinochet gewesen sein.

Der zweite in dem Buch genannte chilenische Militär, mit dem Rauff „freundschaftlich verbunden“ gewesen sein soll, ist der damaligen Oberstleutnant Carlos Prats. Als Beleg sagt Cüppers, dass Prats, der spätere Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte und Minister Allendes, von Rauff gegenüber dem BND als „Unterquelle“ geführt wurde, d.h., dass Rauff irgendetwas meldete, das von Prats stammte oder gestammt haben soll. Deshalb muss er ihn noch lange nicht gekannt haben und noch weniger mit ihm befreundet gewesen sein. Der BND hielt Rauffs Berichte (die er nicht freigegeben hat) für ungenügend; sollte ein Historiker nicht noch skeptischer sein? Prats wurde Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte. Wegen seiner Verfassungstreue ging er ins argentinische Exil, wo ihn Pinochet ermorden ließ. Konnte der Ausländer Rauff wirklich mit Pinochet und seinen beiden prominentesten Opfern befreundet gewesen sein? Für Cüppers stellt sich diese Frage nicht.

Der problematische Umgang mit Quellen betrifft nicht nur den Chile-Teil des Buches. Literaturangaben sind häufig sehr pauschal. Es bekommt dem Buch schlecht, dass Cüppers zusammen mit seinem ständigen Koautor Michael Mallmann sein eigener Herausgeber ist. Heinz Schneppens weltweit erste Biografie zu Rauff, die weniger ausführlich, aber in Vielem gründlicher ist, tut Cüppers mit wenigen Sätzen ab. Schneppens Buch erschien, während Cüppers an seiner Habilitation arbeitete, und fast zeitgleich mit der Freigabe der BND-Akten zu Rauff. Es ist Cüppers Verdienst, bisher unbekannte oder unerschlossene Quellen, darunter diese BND-Akten und die Briefe Rauffs an Angehörige, durchgearbeitet und die Ergebnisse publiziert zu haben. Wo diese Quellen aber Lücken aufweisen, verliert sich Cüppers allzu oft in Vermutungen über Rauffs Befindlichkeit, die man eher in einem historischen Roman als in einer wissenschaftlichen Arbeit vermuten würde. Man wüsste gerne Genaueres. Was Allende betrifft, wissen wir nun, dass er in Rauffs Korrespondenz eine ominöse Rolle spielt. Mehr nicht. Cüppers` Version hat aber schon gewirkt. Der gutwillige Klaus-Dietmar Henke nennt in einer nachsichtigen Rezension für die FAZ (25.3.2014) Allende und Pinochet in einem Atemzug. Rauff habe beide gekannt und beide wollten es vermeiden, mit einer Entscheidung „gegen den Gesuchten“ (Rauff, D.M.), der „seit langem enge Kontakte zur Militärführung pflegte“, die „geschätzte deutsche Gemeinde“ in Chile zu irritieren. Das Leitmedium FAZ stelle den sozialistischen Präsidenten und die beiden Massenmörder auf eine Ebene. Eine schiefe!

Dieter Maier

[1]Victor Farías: Salvador Allende: contra los judios, los homosexuales y otros „degenerados“, Barcelona 2005; s.a. Ingo Kletten: Eine lange Nachgeschichte – Der Fall des SS-Standartenführers Walther Rauff nach 1945 in Chile, auf: https://www.menschenrechte.org/lang/de/lateinamerika/ss-standartenfuhrer-rauff-chile.

[2]Dass die von Cüppers zitierte (S. 247) Irmtrud Wojak eben diese Überschätzung anspricht, ist dem Autor entgangen. (s. Wojak, Irmtrud, Exil in Chile. In: Krohn, Klaus-Dieter (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 199).

[3]Heinz Schneppen: Walther Rauff – Organisator der Gaswagenmorde – eine Biografie. Reihe ZeitgeschichteN Bd. 7. Berlin, Metropolverlag 2011.

[4]Die erste Veröffentlichung zu der dokumentarisch belegbaren Bekanntschaft zwischen Pinochet und Rauff war der in Fußnote 1 erwähnte Artikel www.menschenrechte.org/lang/de/lateinamerika/ss-standartenfuhrer-rauff-chile

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