Die digitale Dystopie
Von Philip J. Dingeldey
Seit Kurzem loben so gut wie alle Literaturkritiker Dave Eggers neuen Roman „Der Circle“; die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ tituliert ihn gar – schon reichlich überzogen – als „Roman unserer Epoche“. Das Buch, das für allerlei Furore im Feuilleton, aber auch im politischen Diskurs sorgte, ist eine digitale Dystopie, ein Gegenbild zur Utopie, in der alles transparent, nichts mehr geheim ist – und alles wird von einem monopolistischen Social-Media-Konzern gesteuert. Anlässlich dieses Szenarios forderte Eggers eine neue Erklärung der Menschenrechte – quasi für die Stärkung digitaler Menschenrechte – die nicht nur Privatsphäre, Datenschutz und Post- und Briefgeheimnis beinhaltet.
Doch was ist menschenrechtlich dran, an „Der Circle“?
In Eggers Zukunftsversion hat die 24 Jahre alte Mae Holland einen Job in der hippsten Firma der Welt ergattert, dem „Circle“, einem kalifornischen Internetkonzern, der die Geschäftsfelder von Google, Facebook und Twitter sowie einiger fiktiver Firmen geschluckt hat. Alle Kunden sind mit einer einzigen Internetidentität ausgestattet, über die alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz wird es keinen Schmutz mehr geben im Internet und auch keine Kriminalität. Mae stürzt sich zunächst zaghaft, aber bald hyperenthusiastisch in diese schöne neue Welt mit ihren gläsernen Büros und Nobel-Restaurants, wo Sterneköche kostenlose Mahlzeiten für die Mitarbeiter kreieren, wo internationale Popstars Gratis-Konzerte geben und fast jeden Abend coole Partys gefeiert werden. Sie wird zur Vorzeigemitarbeiterin und treibt den Wahn, alles müsse transparent sein, bis zur Vollendung.
Der Roman besteht aus drei Büchern ohne Kapitelangaben und hat eine klare, ja, im Grunde schon berechenbare Klimax, weshalb er nur halb so spannend ist, wie er sein könnte. Mae, die durch ihre Freundin Annie nun zu den Circlern gehört, wird langsam in das Unternehmen eingeführt, bekommt die Geschichte der „drei Weisen“, der Chefs des Unternehmens, erzählt, und nach und nach bekommt sie immer mehr Aufgaben, von der Kundenbetreuung, über der Pflege von Social Media, bis zum Auftrag, alles transparent zu machen. Durch einen Fehler gelingt es ihr sogar mit Eamon Bailey, einem der drei Weisen, in Kontakt zu treten, der mit ihr vereinbart, ab jetzt alles in ihrem Leben transparent zu machen, also zu filmen und ins Netz zu stellen. So ist es bald Maes Job, dem Circle zur Vollendung zu helfen. Jeder Mensch soll transparent sein und allen alles digital zur Verfügung stellen – denn Geheimnisse seien Lügen, Privatsphäre sei Diebstahl, aber Teilen sei Heilen. Das Gefährliche daran ist: Es passiert aus noblen Zielen wie der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung, der transparenten Politik und der digitalen Demokratie. Das Problem dabei ist aber: Die Bestrebungen des Circles fressen als Monopol nicht nur andere Firmen, sondern auch die Menschenrechte der User – und schon bald sollte der Mensch nicht mehr die Wahl haben, ob er ein Nutzer ist. Nicht nur, dass es nichts Privates mehr gibt, nein, es kommt zur Diskriminierung von Aussteigern, wie Maes Exfreund Mercer. Auch der nebulöse Fremde, der sich Kalden nennt und eine ganz besondere Position in der Firma inne hat, kann Mae nicht überzeugen, dass der Circle, der binnen Minuten politischen Gegnern per Computer Skandale anhängen kann, einen menschenrechtswidrigen Totalitarismus betreibt.
Zwei Faktoren machen den Science-Fiction-Roman menschenrechtlich auf erschreckende Weise besonders relevant: Zum Einen, das haben auch schon viele Rezensenten angemerkt, spielt diese sanfte digitale Totalität nicht in einer fernen Zukunft, nein, Eggers hat lediglich ein fiktives Szenario einer Firma kreiert, das die gegenwärtigen Bestrebungen von Google, Facebook und Co. bündelt, die mit ihrer enormen ökonomisch-digitalen Macht auch die Politik beherrscht und so nicht nur den Menschen allseits überwacht, sondern auch noch zwingt, mit dem Netz zu interagieren. Zum Anderen sehen nur sehr wenige Protagonisten die Handlung als kritisch – im Grunde nur Kalden, Mercer und Maes Eltern. Alle anderen – meist handelt es sich dabei um aufstrebende, intelligente, gebildete und digital versierte Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren – ist die menschenrechtliche Problematik der Privatsphäre, der digitalen Rechte und der Gefahren der Überwachung überhaupt nicht bewusst, genau so wenig wie die absolute Unverhältnismäßigkeit der totalen Überwachung zur Minimierung der Verbrechensrate. Für sie ist die Handlung die schönste realisierte Utopie. Das gestaltet den Roman zwar stärker und ist auch realistisch, denn auch beim NSA-Skandal war der Aufschrei zwar in Medien, aber nicht in der Bevölkerung besonders groß, aber andererseits wird das Buch dadurch auch zu stereotyp. Eggers hat die Handlung hier zu simplifiziert, aber er ist ja auch nicht gerade für seinen guten Stil oder seine authentische und tiefsinnige Charakterzeichnung bekannt, sondern dafür, dass er die Stimmung der Leser trifft.
Auch ist „Der Circle“ keine klassische Dystopie. In den großen Dystopien „1984“ von George Orwell, „Brave New World“ von Aldous Huxley und „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury beherrschten totalitäre Staaten alles, bei „Der Circle“ ist es ein monopolistisches Unternehmen, das alles orwellianisch überwacht und mit kognitiv-dissonanten Doppeldenk-Slogans Mitarbeiter und Bevölkerung einen und manipulieren will, und viele bejubeln die neue digitale Welt, wie bei Huxley.
Dave Eggers hat wieder einmal den Nerv der Zeit getroffen – und verliert dabei auch nicht die menschenrechtliche Perspektive aus den Augen. Es ist jedoch fraglich, ob es für das digitale Zeitalter eine neue Erklärung der Menschenrechte erfordert. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umfasst auch die im Roman gefährdeten und verletzten Rechte, wie die auf Leben und Freiheit (Art. 3), Schutz vor Verhaftung und Ausweisung (Art. 9), der Freiheitssphäre des einzelnen im Privaten (Art. 12), der Freizügigkeit (Art. 13), der Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18) oder der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 19). Eine Neuerklärung ist wohl kaum nötig. Sinnvoll wäre aber eine dynamische Interpretation bereits verankerter Rechte, die den digitalen Gefahren Rechnung trägt, oder soga reine eigenständige Konvention, die im Hinblick auf das Digitale die bestehenden Freiheitsrechte besonders schützt.
Dave Eggers: Der Circle, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. Gebunden, 560 Seiten, 22,99 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-circle/978-3-462-04675-5/