Die Verteidiger in den Nürnberger Prozessen

7. Dezember 2016 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit, Rezensionen, Vergangenheitspolitik

von Rainer Huhle

Die Verteidiger in den Nürnberger Prozessen

Seliger, Hubert: Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse, Baden-Baden (Nomos) 2016

Salleck, Benedikt: Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen. Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien dargestellt am Wirken des Verteidigers Dr. Friedrich Bergold, Berlin (Duncker & Humblot) 2016

Über keine Akteursgruppe in den Nürnberger Prozessen ist so wenig bekannt wie über die Verteidiger. Bis vor kurzem war die wichtigste Quelle für die Kenntnis der Verteidiger deren eigenes Schrifttum in Form von Memoiren oder gelegentlichen wissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen. Auch davon gibt es nicht viel.

Der schlechte Forschungsstand mag u.a. daran liegen, dass der Hauptteil der Unterlagen über die Verteidiger, einschließlich ihrer Plädoyers, jedenfalls für die 12 Nachfolgeprozesse (NMT) nicht veröffentlicht sind, sondern nach wie vor nur in deutscher Sprache in verschiedenen deutschen Archiven, vor allem dem Staatsarchiv Nürnberg liegen und damit der angelsächsischen Forschung schon aus sprachlichen Gründen schwer zugänglich sind. Aber auch die deutsche Forschung hat sich lange Zeit wenig mit den Verteidigern beschäftigt. Das scheint jetzt endlich anders zu werden. Fast zur gleichen Zeit wurden 2016 zwei Dissertationen über „Nürnberger“ Verteidiger publiziert, die offenbar völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein.

Während der Augsburger Historiker und Völkerrechtler Hubert Seliger eine Gesamtdarstellung der Gruppe der Verteidiger bietet und dabei unterschiedliche Typologien entsprechend ihren politischen und juristischen Verortungen herausarbeitet, konzentriert sich der Erlanger Rechtsanwalt Benedikt Salleck auf einen einzigen Verteidiger und konzentriert sich in seiner Monografie auf dessen anwaltschaftliche Strategien in den vier Prozessen, in denen Friedrich Bergold tätig war. Die Gesamtschau des Historikers mit einer im Wesentlichen an einer politischen Analyse der verschiedenen Verteidiger und die streng juristisch orientierte Fallstudie über einen einzigen Anwalt sind gleichermaßen willkommen als erste wichtige Schritte zur Schließung der doch erstaunlichen Forschungslücke in der ansonsten schon lange überfüllten Bibliographie der Nürnberger Prozesse.

Benedikt Salleck hat sich für seine Studie über „Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien“ keinen der wenigen prominent gewordenen Verteidiger ausgesucht, sondern den Nürnberger Anwalt Friedrich Bergold, der zu den wenigen völlig unbelasteten der, nach der Zählung von Seliger, 264 im Hauptprozess (IMT) und den NMT zugelassenen Verteidigern zählte. Er war kein Parteimitglied sondern offenbar in oppositionellen Kreisen engagiert, was ihm nach dem Krieg sofort die Wiederzulassung als Anwalt in seiner Heimatstadt Nürnberg einbrachte. Zwar gibt es, wie Seliger darlegt, den typischen Nürnberger Verteidiger ohnehin nicht, aber Bergold war dennoch aufgrund seiner unbelasteten Vergangenheit eine Ausnahmeerscheinung, wie er sich auch nach dem Ende der Verfahren, anders als manche Kollegen, entschieden von NS-nostalgischen Verbindungen fernhielt und lediglich auf lokaler Ebene als FDP-Stadtrat politisch tätig wurde. Aber auch sein erstes Auftreten in Nürnberg als Pflichtverteidiger von Martin Bormann im IMT geschah in einem völlig untypischen Kontext. Schließlich wurde gegen seinen Mandanten in Abwesenheit verhandelt, was Bergold vor Herausforderungen und auch rechtliche Fragen stellte, die kein anderer Anwalt in dem Prozess zu bewältigen hatte. Ungewöhnlich war auch sein zweites Mandat, die Verteidigung von Generalfeldmarschall Erhard Milch, dem Generalinspekteur der Luftwaffe im Fall 2 der NMT, in dem er der einzige Angeklagte war. Dieser Prozess war der erste der NMT, der abgeschlossen wurde (Milch erhielt lebenslänglich und wurde 1954 entlassen), sodass Bergold wieder frei für weitere Verfahren war. Zunächst übernahm er im Prozess gegen Angehörige des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts (WVHA) der SS die Verteidigung des Angeklagten Horst Klein, für den er einen Freispruch erreichte, da er zeigen konnte, dass Klein mit den von diesem Amt begangenen Verbrechen allenfalls indirekt zu tun hatte. Ein letztes Mal wurde Bergold im Einsatzgruppenprozess (Fall 9) tätig. Auch hier war sein Klient Horst Biberstein kein Hauptverantwortlicher für die von den Einsatzgruppen verübten Massenmorde, als hoher Funktionsträger wurde er dennoch zum Tode verurteilt, später begnadigt und 1958 aus der Haft entlassen.

Salleck setzt uns nicht in Kenntnis, was ihn bewogen hat, unter den vielen Verteidigern gerade Friedrich Bergold für seine Fallstudie über „Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien“ auszuwählen, eine außergewöhnliche Figur unter den Anwälten mit einer Schar von ebenfalls recht untypischen Angeklagten. Möglicherweise war es die gute Quellenlage im Nürnberger Staatsarchiv, wozu noch die Chance kam, ein ausführliches Interview mit der damaligen Sekretärin Bergolds zu führen, die sehr aufschlussreiche Details beisteuerte (das Interview ist im Anhang wiedergegeben). Für die Analyse der Prozessabläufe, die einen der roten Faden in Sallecks sehr klarer und systematischer Darstellung der vier Verfahren und ihrer Schwierigkeiten bildet, hat diese Wahl allerdings zur Folge, dass ein paar Probleme viel Raum einnehmen, die von geringer Relevanz für die Gesamtheit der Prozesse sind, insbesondere die Frage der Anklage und Verurteilung in absentia im Fall Bormann. Dafür kann er schon an diesem Fall zeigen, wie Bergold geschickt und kenntnisreich verfahrensrechtliche Fragen vorbringt, die nicht selten zu Zugeständnissen der Richter vor allem in Fragen des Zugangs zu Beweismaterial und der Chancengleichheit der Verteidiger allgemein führten. Zu Recht betont Salleck, dass Bergold hier manche Tür auch für andere Verteidiger aufgestoßen habe. In der sehr detaillierten Analyse und ggf. Kritik z.B. des Stellenwerts der schriftlichen Zeugenaussagen ohne Präsenz des betreffenden Zeugen (Affidavits), der verfügbaren Zeiträume der Verteidigung für die Analyse der Anklagedokumente, der Reihenfolge der Vorträge und manch anderer strafpozessrechtlichen Details vermag Salleck gerade in der Abfolge der vier so unterschiedlichen Verfahren bestimmte durchgängige Strukturen und ihre Folgen für die Rolle der Verteidigung deutlich zu machen.

Einem weiteren Aspekt der Nürnberger Verfahren, der von den verfahrensrechtlichen zu den grundsätzlichen Rechtsfragen überleitet, räumt Salleck, Bergold folgend, großen Raum ein: Er kritisiert vor allem in den Fällen Milch und Biberstein die Verurteilungen aufgrund der „Zurechnungsformel“, nach der die Richter nicht nach den genauen Tatbeteiligungen der Angeklagten fragten, sondern ihre Verantwortlichkeit aus ihren Funktionen ableiteten. Salleck scheint hier die grundsätzliche Rechtsposition zu vertreten, wonach solche Beweisführungen unzulässig seien. Bergold hatte immerhin dazu beigetragen, dass die Figur der Verschwörung (conspiracy) in den NMT praktisch kaum noch eine Rolle spielte. Dennoch genügte es den Richtern vielfach, aufgrund bestimmter Funktionen in der SS (die ja im IMT bereits als kriminelle Organisation verurteilt war) auch ohne detaillierte Einzelnachweise eine Mittäterschaft festzustellen. Mit seiner von Bergold übernommenen grundsätzlichen Kritik an diesem Verfahren bleibt Salleck allerdings hinter den Entwicklungen in der deutschen Rechtsprechung zu NS-Gewaltverbrechen zurück, die etwa im Fall Hanning oder Gröning heute wieder von einer solchen Zurechnung durch Mitgliedschaft im Gesamtkomplex ausgeht. Was für Auschwitz gilt, muss auch für die Einsatzgruppen gelten. Salleck stellt zurecht fest: „Heutige detaillierte Überlegungen hierzu waren den Prozessen völlig fremd.“ (S. 324) Trotzdem wäre die Frage interessant, ob Bergold mit den modernen Definitionen von Tatbeteiligung statt „conspiracy“ oder „Zurechnungsformel“ zufriedener gewesen wäre, oder ob seine Kritik letztlich doch nur auf Entlastung aller Schreibtischtäter hinauslief.

Bergold teilte auch die Grundsatzkritik praktisch aller Verteidiger an der Legitimität sowohl des IMT wie der NMT überhaupt, an der Anwendung in der Sicht der Verteidiger erst neugeschaffenen Rechts, an der individuellen Strafbarkeit von Funktionsträgern überhaupt und anderen Rechtsfragen, die aufgrund der Festlegungen im Londoner Statut bzw. im Kontrollratsgesetz Nr. 10 keine Aussicht auf Erfolg hatten. Die durchaus interessante Frage, ob der unbelastete Bergold etwas für die individuelle Verteidigung seiner Klienten zu erreichen hoffte, solche Argumente „nur der Vollständigkeit halber“ (S. 313) oder – wie es andere Verteidiger ganz offen erklärten – doch auch gesamtpolitische Ziele verfolgte, beantwortet Salleck nicht. Auch dass Bergold gelegentlich in der Übernahme inhaltlicher Positionen seiner Mandanten sehr weit ging, erwähnt Salleck, zieht daraus aber keine weiteren Schlüsse über die Haltung Bergolds. Wenn er etwa im Fall Milch argumentiert, dass die unter dessen Verantwortung von Luftwaffeärzten wie dem gleichzeitig im Fall 1 (Ärzteprozess) angeklagten Sigmund Rascher durchgeführten Menschenversuche nicht illegal gewesen seien, oder wenn er zur Verteidigung seines Klienten Biberstein im Einsatzgruppenprozess vorträgt, dass die Exekutionen rechtmäßig gewesen seien und die Anwendung der Vergasung aus humanitären Gründen erfolgt sei, dann wäre die Frage doch interessant, wie weit selbst ein unbelasteter Verteidiger bereit war, die zynischen Argumente seiner Klienten zu übernehmen, obwohl ihm klar gewesen sein dürfte, dass sie nicht zum Erfolg führten.

Gerade im Einsatzgruppenprozess stellte sich diese Frage, denn hier war Bergold in denkbar schlechter kollegialer Gesellschaft. Sprecher der Gesamtverteidigung und Individualverteidiger von Otto Ohlendorf, dem Hauptangeklagten und Leiter der Einsatzgruppe D, war Rudolf Aschenauer, ein bis an sein Lebensende überzeugter nationalsozialistischer Aktivist. Leider berichtet uns Salleck nichts über die Binnenbeziehungen unter den Anwälten, die nicht nur unterschiedliche politische Biografien und Ansichten hatten, sondern auch teils konträre anwaltschaftliche Strategien haben konnten. Indem Salleck sich strikt auf das aktenmäßig überlieferte Agieren von Friedrich Bergold konzentriert, hat er zwar dessen Auseinandersetzungen mit Anklägern und Richtern im Blick, nicht aber das Verhältnis der Angeklagten und Anwälte in einem Prozess untereinander. Ob Bergold z.B. die für seinen Klienten ungünstigen Aussagen, die Ohlendorf schon seit seinem Auftritt als Zeuge im IMT über den angeblichen Führerbefehl zur Tötung aller Juden, Kommissare etc. und die systematische Umsetzung durch die Einsatzgruppen machte, gegenüber Ohlendorfs Anwalt zur Sprache brachte, erfahren wir nicht.

Vom entgegengesetzten Ende her nähert sich Hubert Seliger den Nürnberger Verteidigern. Zwar geht auch er durchaus auf die wesentlichen Rechtsfragen der Nürnberger Prozesse ein. Für ihn sind diese aber auch politische Prozesse im Sinne Otto Kirchheimer, in denen auf der Bühne des Rechts auch politische Auseinandersetzungen geführt werden. Folglich interessiert ihn zunächst auch die „politische Sozialisation“ der Nürnberger Verteidiger. Schon in der Untersuchung der Karrieren der Verteidiger während der Weimarer Republik (zum Teil sogar im Kaiserreich) und dann während der NS-Zeit macht er sehr unterschiedliche Gruppierungen aus, die er auch nach Generationen einteilt, wobei er zugesteht, dass dies unscharfe Mengen sind, mit Ausnahmen und Überlappungen. Doch im Lauf der Untersuchung zeigt sich, dass diese unterschiedlichen Sozialisationen durchaus Einfluss auf die unterschiedlichen Formen des Auftretens und der Strategien der zahlreichen Verteidiger hatten. Im langen zweiten und dem kaum kürzeren dritten Kapitel stellt er die verschiedenen von ihm identifizierten Gruppen von Verteidigern vor. Zunächst geht Seliger der Frage nach, wie die Anwälte eigentlich zu ihren Mandaten kamen. Sehr deutlich wird hier, dass es nicht den „einen Weg nach Nürnberg“ gab, sondern dass innerhalb der von den Alliierten gesetzten Rahmenbedingungen viele Zufälligkeiten eine Rolle spielten, und dass es sehr unterschiedliche Präferenzen bei den Mandanten und sehr vielfältige Motivationen bei den Verteidigern gab. Materielle und berufliche Chancen, politische Überzeugungen und nicht zuletzt kollegiale und sogar familiäre Netzwerke spielten eine erhebliche Rolle bei den Verteidigern. Im IMT hatten etliche Angeklagte noch Mühe, überhaupt einen Verteidiger zu finden, bei den NMT waren die Netzwerke dann schon stärker ausgebildet, und die Mandanten inzwischen zahlungskräftiger. Deutlich wird jedenfalls, dass das Sekretariat des Gerichts große Anstrengungen unternahm, um allen Angeklagten einen Verteidiger zur Seite zu stellen und dabei auch die formell vorgesehenen Ausschlussgründe wegen Nähe zum Nationalsozialismus in der Praxis keine Rolle spielten.

Im Anschluss daran beschreibt Seliger wie einzelne Gruppen von Angeklagten zu ihren Verteidigern kamen, welche Kriterien sie anlegten (soweit sie überhaupt Auswahl hatten) und welche Verteidiger sich aus welchen Gründen anboten. Es gab dabei durchaus auch Anwälte, die dem Ruf nach Nürnberg aus verschiedenen Gründen nicht folgten. Seliger gruppiert die Angeklagten hier in die Staatsspitze, die zweite Reihe von Staatsbeamten, die Führungsspitzen von NSDAP, SA und SS, die Großindustriellen und die Militärs. Vor allem in diesen über 140 Seiten packt der Autor all die Ergebnisse seiner gründlichen Durchforstung zahlreicher Archive im In- und Ausland. Nirgendwo anders ist bislang auch nur annähernd eine solche Fülle von Information über die gesamten Verteidiger zusammengetragen worden. Wo immer möglich, gibt der Autor auch Angaben zur familiären, beruflichen und politischen Biografie der Anwälte, ihren zahlreichen Vernetzungen usw. Leider tut er das in extrem unübersichtlicher Weise, ohne die langen Kapitel irgendwie zu untergliedern. Selbst Absätze unterbrechen nur selten den namensgespickten Fließtext, und nur gelegentlich stößt man auf Querverweise. Da Seliger erstaunlicherweise trotz dieser vielen neuen Informationen auch keine vollständigen Listen oder Tabellen der von ihm ausgemachten 264 Verteidiger und ihrer jeweiligen Mandate gibt, ist es praktisch unmöglich, die Übersicht zu behalten. Im Anhang finden sich lediglich eine Reihe von Kurzbiografien „wichtiger Verteidiger und Gutachter“, deren Auswahl nicht immer einsichtig ist und keinesfalls eine vollständige Liste ersetzen kann. Ohne gleichzeitig z.B. die tabellarisch gut ausgestattete Gesamtübersicht in dem Sammelband von Priemel/Stiller (NMT – Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte und Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013) zu den Prozessen aufgeschlagen neben sich zu haben, ist man verloren, zumal Seliger auch die einzelnen Prozesse nur nach ihrer Fallnummer anspricht und damit voraussetzt, dass jeder Leser weiß, um welche Angeklagtengruppe es sich dabei handelt. Einzig das zuverlässige Namensverzeichnis erlaubt, einzelnen Verteidigerpersönlichkeiten durch alle Kapitel nachzuspüren.

Im dritten Kapitel greift Seliger dann einige Verteidiger heraus, die er verschiedenen Typen zuordnet. Dabei stützt er sich zum einen auf ausgewählte prononcierte Plädoyers und Stellungnahmen während der Prozesse, zum andern auf zeitnahe oder gelegentlich auch spätere Veröffentlichungen von Verteidigern. Unter der Gruppe der Pflichtverteidiger, die nach Seliger überwiegend eine positive Grundhaltung zu „Nürnberg“ hatten, finden wir u.a. Friedrich Bergold wieder, oder auch Werner Bross, der als Hilfsverteidiger für Göring tätig war und später recht freimütig seine Gespräche mit Göring publizierte. Erstaunlicherweise erwähnt Seliger nicht, dass Bross‘ „Chef“, Görings Hauptverteidiger Stahmer, dieses Buch gerichtlich verbieten ließ, ein Indiz mehr für die vielen Spannungen unter den Verteidigern, auf die Seliger zurecht immer wieder verweist. Zur gleichen Gruppe zählen auch Verteidiger wie der angesehene Münchner Anwalt Fritz Sauter, der sich z.B. weigerte SS-Männer zu verteidigen, aber u.a. Funk, Schirach und Ribbentrop vertrat. Unter dem Label „Patriotische Pragmatiker“ stellt Seliger sodann einige der prominentesten vor: Hermann Jahrreiß, Eduard Wahl und Rudolf Dix, von denen die beiden ersten noch bedeutende Karrieren in der BRD durchliefen. Ob sie wirklich viel Gemeinsames verband, muss dahingestellt bleiben, ebenso wie bei der nächsten Gruppe, in der Seliger Richard Weizsäcker und Hellmut Becker zusammenfasst. Beide traten offiziell nur als Verteidiger Ernst von Weizsäckers auf. Doch während der junge Sohn des Angeklagten in und nach Nürnberg zunächst keine bedeutende Rolle spielte, sondern erst als Bundespräsident ins Rampenlicht trat, war Hellmut Becker hinter den Kulissen einer der radikalsten prinzipiellen Kritiker der Nürnberger Prozesse. Erst in den fünfziger Jahren machte er einen ideologischen Schwenk und wurde zum geachteten „Bildungs-Becker“, der liberale bildungspolitische Ziele in zahlreichen Funktionen vorantrieb und es sogar in den Beirat des Frankfurter Instituts für Sozialforschung brachte.

Die bekanntesten Nürnberger Anwälte waren zweifellos auch die radikalsten, die schon während der Prozesse und kurz danach durch ihre scharfen grundsätzlichen Kritiken auffielen und meist auch später publizistisch die Verfahren angriffen. Seliger unterscheidet hier die eng aus dem militärischen Umfeld kommenden und diesem verpflichteten Otto Kranzbühler und Hans Laternser (der später im Auschwitzprozess noch weiter ins rechtsradikale Milieu abdriftete), sowie Alfred Seidl und Rudolf Aschenauer, die bis zu ihrem Tod dem rechtsradikalen Milieu verbunden blieben, sowie Justus Koch, Hans von Zwehl und Georg Fröschmann, die sich von Seidl und Aschenauer vielleicht in der Begründung ihrer Ablehnung „Nürnbergs“, nicht aber in ihren konsistenten rechtsradikalen Ansichten auch in der Nachkriegszeit unterschieden. In diesem Abschnitt werden die Konturen der einzelnen Verteidiger deutlicher als im zweiten Kapitel, aber die Verteilung der Information bei etlichen Personen auf die beiden großen Kapitel ist nicht immer einsichtig und in jedem Fall eine mühsame Folge dieser Gliederung.

Das gilt auch noch für das vierte Hauptkapitel, in dem Seliger sich den Nachkriegskarrieren der Verteidiger zuwendet, auf die er allerdings auch vorher schon immer wieder zu sprechen kommen musste. Hier würdigt der Autor zu Recht den Göttinger Professor Herbert Kraus, der es als einer der wenigen Verteidiger verstand, die anwaltschaftliche Tätigkeit für seinen Mandanten Hjalmar Schacht und seine gutachterliche Tätigkeit zu bestimmten Rechtsfragen strikt von politischen Vereinnahmungen freizuhalten. Kraus war dann auch der Herausgeber der deutschen Ausgabe der 42 „Blauen Bände“, die das IMT dokumentierten, und verteidigte, bei Kritik im Einzelnen, die Prozesse im Ganzen. Das lange Kapitel über die im „Heidelberger Juristenkreis“ versammelten konservativen und Nürnberg-kritischen Juristen leidet wieder darunter, dass es nicht untergliedert ist und lange Passagen mit ganz anderen Themen wie z.B. den Dachauer Prozessen darin versteckt sind. Manches über die Nachkriegskarrieren einzelner Nürnberger Anwälte war durchaus bekannt, aber die Fülle von Information, die Seliger hier zusammengetragen hat und die es ihm erlaubt, auch die Rückbindung an die Nürnberger Erfahrungen zu leisten, gehört zum Wertvollsten des Bandes. Deutlich wird dabei auch, dass es keinesfalls automatische Fortsetzungen der Nürnberger Auftritte gab, dass manche Anwälte nach Nürnberg noch radikalere Positionen einnahmen, während andere sich dem Zeitgeist der neuen Republik geschickt und willig anpassten. Welche Karrieren dabei dezidiert rechtsradikale Anwälte wie etwa Seidl oder Achenbach in der Bundesrepublik machen konnten, wie problemlos NS-Juristen wie Jahrreiß oder Maurach auf einflussreiche Lehrstühle zurückkehrten, oder wie ein hochbelasteter NS-Staatsanwalt wie Hans Gawlik in der Bundesregierung einen Warndienst vor Strafverfolgung von NS-Tätern im Ausland aufbauen konnte, ist auch in der Rückschau noch erschreckend.

Das Buch von Seliger ist trotz der Kritik an der mangelnden Übersichtlichkeit die erste und lange überfällige Gesamtdarstellung der Verteidiger in den Nürnberger Prozessen. Es bietet eine Fülle bisher unerschlossener Informationen, weist Wege zum Begreifen des von Taktik und Opportunismus, aber auch Überzeugung und Berufsethos geprägten Verhaltens der vielen Verteidiger, das sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Ebenso wie die Einzelfallstudie von Salleck verweist auch die Überblicksstudie von Seliger auf die dringende Notwendigkeit, endlich auch die vor allem im Staatsarchiv Nürnberg liegenden, und in beiden Büchern großenteils erstmals ausgewerteten Akten vor allem zu den Nachfolgeprozessen zu publizieren. Beide Bücher zeigen, dass sich dieser Aufwand lohnen wird. 70 Jahre nach „Nürnberg“ ist zwar schon viel Unwichtiges über die Prozesse geschrieben, aber längst noch nicht alles Relevante aus den Archiven geholt.

 

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