Sicherheit neu denken – christliche Friedensbewegung damals und Menschenrechte heute

4. Mai 2017 | Von | Kategorie: Rezensionen

Jan Ole Wiechmann, Sicherheit neu denken – Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977 – 1984, Nomos-Verlag Baden-Baden, 1. Auflage 2017, 465 Seiten, 84 €

2010 fand in Berlin eine Tagung mit dem Titel „Friedensbewegung und Zweiter Kalter Krieg: Europäische und transatlantische Perspektiven“ statt. Das dort vorgestellte Forschungsthema des Historikers Jan Ole Wiechmann wird im Protokoll so zusammengefasst:
„Die christliche Friedensbewegung agierte mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der auf gemeinsame Sicherheit in Fragen von Wirtschaft, Energie und Ökologie abzielte. Damit steht sie paradigmatisch für den grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Sicherheitsgefühl der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre.“  (Baur: 2010).

Die folgende Buchempfehlung kann keine wissenschaftliche Würdigung sein; es kann ihr nur um einige Bezugspunkte zu den Menschenrechten gehen.
Seit der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz 1993 – viele deutschsprachige und internationale Menschenrechts-NGOs waren dabei, anschließend wurde das deutsche Netzwerk “Forum Menschenrechte” ins Leben gerufen – kann von einer Menschenrechtsbewegung gesprochen werden. Die neue Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre war da schon Vergangenheit – aber nur als Aktionszusammenhang, der die deutsche Politik prägte, nicht aber mit ihrem zukunftweisenden neuen Denken von Sicherheit und Frieden. Der Historiker Jan Ole Wiechmann hat es unternommen, die in den 80er Jahren dominierende politische Strömung in dieser Perspektive zu erforschen, genauer, wie im Untertitel gesagt, die „christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977 – 1984“. Gerade christliche Organisationen wie die „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden“ (AGDF), „Ohne Rüstung leben“, Evangelischen Studentengemeinden, „Pax Christi“, die „Initiative Kirche von unten“, der „Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ) und die Gruppe „Schritte zur Abrüstung“ lehnten  – in Auseinandersetzung mit den Kirchenleitungen, Bischöfen und konservativen Strömungen) die Nachrüstung ab. Sie widersprach dem Grundgedanken des konziliaren Prozesses für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Zu diesem Weg hatte der Ökumenische Rat der Kirchen 1983 in Vancouver aufgerufen. Wiechmanns Titel „Sicherheit neu denken“ beinhaltet also auch die theologische und globale Dimension dieser Bewegung. Aber im Kern geht es in der Arbeit darum, den christlichen Beitrag zur Überwindung des alten Rüstungsdenkens („tödliche Utopie der Sicherheit“) herauszuarbeiten. Zukunftsweisend soll der entmilitarisierte Sicherheitsbegriff mit vielfältigen Ansätzen zur Überwindung von Geist, Logik und Praxis der Abschreckung sein.

Der Hauptteil der Arbeit ist eine detaillierte zeitgeschichtliche Untersuchung des „Zweiten Kalten Krieges“, der nach dem Entspannungsprozess Mitte der 70er Jahre mit der Parole von der Nachrüstung begann und in der Bundesrepublik mit dem Nachrüstungsbeschluss von 1983 konkretisiert wurde. Die Stärke des Buches liegt in der Verknüpfung von Argumentationen, politischen Interventionen, Bedrohungsszenarien und Utopien. Als Personen spielen (neben Bundeskanzler Helmut Schmidt und US-Präsident Ronald Reagan) Erhard Eppler und Egon Bahr in der SPD, Bischof Karl-Heinz Koppe und der spätere Bischof Wolfgang Huber in der EKD und Jürgen Freysowie Volkmar Deile (siehe unten) in der Friedensbewegung entscheidende Rollen.

Zu einer ordentlichen sozialwissenschaftlichen Arbeit gehört die Untersuchung der Trägerschaft („Jung, gebildet, links?“), der Bewegungsdynamik, der ideologischen Auseinandersetzungen („Frieden schaffen ohne Waffen?“) und die kritische Darstellung der Grundkonflikte um Unilateralismus und Gradualismus, atomwaffenfreie Zonen oder strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Aber den heutigen Leser interessiert auch die Bewertung der gut erinnerlichen Konfliktpunkte: Frieden oder Freiheit, also „Lieber rot als tot?“ und das Gewicht der Kritik an der Sowjetunion nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges 1979 („beidseitige Abrüstung“).

Ob mit dem kooperativen, nichtmilitärischen Konzept von Sicherheit eine „Leitvorstellung für die Metamorphose des Ost-West-Konfliktes“ (S.353) entwickelt wurde, bleibt (nicht nur) für Wiechmann offen. Die Frage ist, ob nicht mit dem Ende des Kalten Krieges sich die Ziele der „menschlichen Sicherheit“ in einem neuen Rahmen stellen und welchen Stellenwert dabei die Menschenrechte haben. Denn die kommen im Buch und in der Bewegung höchstens implizit vor: Eine gerechte Gesellschaft ist die Voraussetzung für Frieden; Waffenproduktion und Handel fördern Ungerechtigkeit und Armut; die Friedensbewegung hat über den Tellerrand geblickt und die Dritte Welt miteinbezogen in die Perspektive der menschlichen Sicherheit – aber alles ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Menschenrechte oder auf einzelne Artikel der Erklärung von 1948. Dabei waren Menschenrechtsfragen nicht jenseits den Ost-West-Konfliktes, schließlich hatte es im Jahr 1975 im Rahmen der KSZE-Schlusskonferenz in Helsinki eine gemeinsame Verpflichtung auf Einhaltung der bürgerlichen und politischen Rechte in ganz Europa gegeben.

Der naheliegende Anknüpfungspunkt heute ist Artikel 3 der AEMR: Leben in Freiheit und Sicherheit – das erstreben alle Menschen zu allen Zeiten, an allen Orten. Nahezu unabhängig von Zeit, Kultur und Weltanschauung brauchen Menschen quasi existentiell Freiheit und Sicherheit zum Leben. Als eine Konkretisierung auf der Ebene der Vereinten Nationen kann das Konzept der Human Security gesehen werden. Es versteht sich als Fortsetzung des UN-Entwicklungsprogramms von 1994, das sicherheitspolitische Handlungsfelder benennt: physische Sicherheit, politische Sicherheit, lokale / kommunale Sicherheit, Ernährungssicherheit, gesundheitliche Sicherheit, Umweltsicherheit und ökonomische Sicherheit.

Am häufigsten kommt im Buch eine Person (ausweislich des Namensregisters) vor: Volkmar Deile. Der evangelische Pfarrer war von 1975 bis 1984 Geschäftsführer der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in Westberlin und vertrat die Organisation von 1981 bis 1984 auch im Koordinationsausschuss der Friedensbewegung, der die großen Bonner Demonstrationen von 1981 und 1983 vorbereitete und durchführte. Von 1990 bis 1999 war er Generalsekretär der deutschen Sektion von amnesty international. Aus den Erfahrungen von Friedens- und Menschenrechtsbewegung heraus schrieb er 1999:
„Organisationen und soziale Bewegungen, die sich um die Überwindung von Krieg, Ungerechtigkeit und Naturzerstörung bemühen und für die Partizipation am politischen Prozess wie für den Schutz von Flüchtlingen eintreten, sind deshalb entweder natürliche Partner oder sogar Teil der Menschenrechtsbewegung. In der  Zusammenarbeit  kommen  die  tiefen Abhängigkeiten  von  Frieden,  Entwicklung  und  Demokratie  einerseits  und Menschenrechten andererseits  zum  Tragen. Eine besondere Nähe hat die Menschenrechtsbewegung zur Friedensbewegung. Schließlich ist sie selbst eine Friedensbewegung eigener Art, weil sie eine der Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens des verschiedenen Menschen abstrebt. Deshalb sollten die Menschenrechte nicht zur Legitimierung militärischer Interventionen dienen. Die Menschenrechtsbewegung muss die Ziel-Mittel-Relation ihrer Arbeit unbedingt durchhalten.“ (Volkmar Deile: Die Menschenrechte – eine unvollendete Revolution, in: Gunnar Köhne:  Die Zukunft der Menschenrechte. 50 Jahre UN-Erklärung: Bilanz eines Aufbruchs, Reinbek 1998, S. 248 f.). Diese programmatischen Formulierungen verstehe ich als ein Erbe der christlichen Friedensbewegung, für die Wiechmann ohne jedes Bewegungspathos eine kritische Würdigung geschrieben hat.

Otto Böhm

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