Human Rights Leagues in Europe (1898–2016)

9. August 2017 | Von | Kategorie: Rezensionen

Schmale, Wolfgang / Christopher Treiblmayr (eds.): Human Rights Leagues in Europe (1898–2016), Stuttgart: Franz Steiner, 2017, 323 Seiten

von Rainer Huhle

Unter Historikern ist es Mode geworden, die Entstehung der modernen Menschenrechtsbewegung auf die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, oder gar auf noch spätere Jahre, zu datieren. Schon deshalb ist der von den beiden Wiener Historikern Wolfgang Schmale und Christopher Treiblmayr herausgegebene Band zu begrüßen, der die Geschichte der ältesten bis heute existierenden zivilen Menschenrechtsorganisation nachzeichnet: 1898 gründeten französische liberale Intellektuelle in Reaktion auf die „Dreyfus-Affaire“ und unter expliziter Berufung auf die 109 Jahre vorher verkündete Erklärung der Menschenrechte in Paris die Ligue des droits de l’homme (LDH – Menschenrechtsliga). Doch die Ligue blieb nicht auf Frankreich und den Kampf gegen antisemitische Diskriminierung beschränkt. Bald gründeten sich Schwesterorganisationen in Belgien, Spanien und anderen europäischen Ländern, 1922 auch die Deutsche Liga für Menschenrechte. Auch außerhalb Europas entstanden Menschenrechtsligen, z.B. in China oder Argentinien – die vermutlich 1938 gegründete argentinische Liga für Menschenrechte gilt als die älteste Menschenrechtsorganisation Lateinamerikas. Sie sind allerdings nicht Gegenstand dieses Bandes.

 

Im Zentrum des Bandes stehen zwei Aufsätze, von William Irvine und Gilles Manceron, die sich mit der französischen Ligue des droits de l’homme beschäftigen, der Mutter aller weiteren nationalen Menschenrechtsligen, und vor allem auch der Internationalen Menschenrechtsliga, die heute unter dem Namen Fédération Internationale des Droits de l’Homme (FIDH) bekannt ist und zu den aktivsten internationalen Menschenrechtsorganisationen zählt. Die Gründung der FIDH 1922 war die Weiterentwicklung der umfangreichen internationalen Aktivitäten der französischen LDH, und bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg schien die FIDH oft noch als eine Art internationales Büro der französischen Ligue, unter deren Dach sie auch ihr Büro hatte. Viele der in dem Band portraitierten nationalen Menschenrechtsligen bestanden aus nur wenigen Personen, oft Diplomaten oder bekannte Akademiker und Publizisten, die keineswegs hauptamtlich für die Liga arbeiteten und sich selbst auf den internationalen Kongressen oft vertreten ließen, oder auch durch die politischen Verhältnisse an der Präsenz gehindert wurden. Den Kern der FIDH, und auch das Motiv für ihre Gründung, waren die engen Beziehungen zwischen der LDH und dem deutschen Bund Neues Vaterland, der ab 1922 auch als Deutsche Liga für Menschenrechte (DLM) firmierte. Der DLM gehörten u.a. so illustre wie unterschiedliche Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Otto Julius Gumbel, Carl von Ossietzky, Kurt Eisner, Gustav Landauer, Walther Rathenau, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Helene Stöcker, Franz von Liszt, Hans Delbrück, Ferndinand Tönnies, Rudolf Breitscheid, Hans Wehberg, Walter Schücking, Ludwig Quidde, Ernst Reuter oder Hans Paasche an (von denen bis 1922 schon etliche von rechtsradikalen Banden ermordet wurden). Nach außen, d.h. vor allem in der Zusammenarbeit mit der französischen Ligue, traten vor allem der Publizist und liberale Politiker Hellmuth von Gerlach und der Ökonom und Demograph Robert Kuczynski (Vater des DDR-Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski) auf.

 

Die Zusammenarbeit zwischen der LDH und der DLM erstreckte sich über Jahrzehnte, obwohl, wie Emmanuel Naquet in seinem Aufsatz deutlich macht, die ideologische Entstehungsgeschichte beider Gruppen höchst verschieden war. Während in Frankreich der Kampf gegen den Antisemitismus und für bürgerliche Rechte der Ausgangspunkt war, kamen die Köpfe der DLM vorwiegend aus dem pazifistischen und antimilitaristischen Umfeld. Beiden gemeinsam war, dass sie im Gegensatz zum heute herrschenden Selbstverständnis klassischer Menschenrechts-NGOs sehr engagiert in den politischen Kämpfen ihrer Zeit waren, und in beiden Organisationen waren die politischen Präferenzen dabei weit gestreut, was vor allem innerhalb der LDH auch zu tiefen Gräben führte. Wie William Irvine in seinem Beitrag berichtet, waren Anfang der dreißiger Jahre über ein Drittel aller französischen Parlamentsabgeordneten Mitglieder der Ligue, die längst zu einer Massenorganisation und für Politiker zu einem Karrieresprungbrett geworden war. Das war in Deutschland anders, aber auch hier reichte das politische Spektrum von liberalen Konservativen über viele Sozialdemokraten bis zu einer ebenfalls beträchtlichen Zahl von Kommunisten in und außerhalb der KPD. Wie heterogen die Mitgliedschaft in Frankreich geworden war, zeigte sich nicht zuletzt am Verhältnis zur nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland, die auch unter den Mitgliedern der Ligue wenn nicht direkt ideologische Anhänger so doch Verteidiger hatte, die an die Möglichkeit eines friedlichen Verhältnisses zu Nazi-Deutschland glaubten. Sich Einmischen oder nicht, das war eine der großen Kontroversen, die natürlich auch das Verhältnis zur deutschen Liga belastete. Der große Schöpfer der deutsch-französischen Annäherung über beide Organisationen, der Elsässer Victor Basch, sah sich zeitweise an den Rand gedrängt. Erst mit der immer brutaleren Repression des NS-Regimes und der Ankunft der NS-Verfolgten in Frankreich fanden sich die verschiedenen Lager und die beiden Ligen in der humanitären Arbeit um die Flüchtlinge wieder mehr zusammen.

 

Nach dem 2. Weltkrieg rekonstituierte sich die LDH mit einem nun moderneren und breiteren Verständnis von Menschenrechten, vertreten u.a. durch international angesehene Persönlichkeiten wie René Cassin oder Joseph Paul-Boncour, eine Entwicklung, die in dem einzigen diesbezüglichen Beitrag von Gilles Manceron leider nur am Rande gestreift wird. Den weitgehenden Niedergang der deutschen Liga in den Wirren des Kalten Krieges beschreibt hingegen ausführlich Lora Wildenthal, in einem Beitrag, der freilich nicht über ihr vor Jahren hierzu veröffentlichtes Buch hinausgeht. Überhaupt ist Vieles in dem Buch nicht wirklich neu, aber immerhin hier erstmals in einem Band versammelt.

 

Die Beiträge im zweiten Teil des Buches stellen einige der zahlreichen nationalen Menschenrechtsligen vor, die nach dem Vorbild Frankreichs gegründet wurden und bisher kaum erforscht sind. Viele von ihnen waren klein und trotz einiger prominenter Persönlichkeiten kaum von Einfluss. Dennoch sind diese kleinen Monografien wertvoll, weil hier erstmals die Breite dieser ersten internationalen Menschenrechtsbewegung sichtbar wird. Soziologisch und strukturell gesehen, wiederholen sich in diesen Menschenrechtsligen viele Züge, die schon die französische „Mutter“ charakterisierten.

 

Die spanische Liga für Menschenrechte etwa geht wie die französische auf die Empörung über einen Justizskandal zurück, in diesem Fall die Verurteilung und Hinrichtung des Anarchisten Francisco Ferrer nach der „Semana Trágica“ 1909. Wie der Autor dieses Beitrags, Paul Aubert, zeigt, sind die Brüche und Krisen in der wechselvollen Geschichte der spanischen Liga wie in Frankreich u.a. auf die hohe Politisierung ihrer führenden Mitglieder zurückzuführen. Heute allerdings gehört die Liga Española Pro-Derechos Humanos in Spanien und international zu den einflussreichen Menschenrechts-NGOs, mit Konsultativstatus bei den Vereinten Nationen. Ganz anders etwa die italienische LIDU, die heute nur noch ein Schattendasein führt.

 

Vergleichsweise unbekannt hierzulande ist die Griechische Menschenrechtsliga, deren Geschichte auf das Jahr 1918 zurückgeht. Wie Michalis Moraitidis zeigt, war sie vor allem während der mehr oder weniger autoritären Regierungen Griechenlands nach dem 2. Weltkrieg immer an den Kämpfen für Demokratie und Rechtsstaat beteiligt. Nach dem Putsch und der Militärdiktatur (1967-1974) arbeitete sie von Paris aus in enger Kooperation mit der FIDH an der Anklage und politischen Isolierung des Regimes bis hin zu dessen Ausschluss aus dem Europarat. Seit 2016 ist der langjährige Präsident der griechischen Liga sogar Präsident der FIDH.

 

Der Band enthält außer den erwähnten noch kleine Monografien zu  Rumänien, Österreich, der Türkei, Belgien, Luxemburg und der Schweiz. Diese Berichte sind von unterschiedlichem Umfang und Fokus, und sie können sich auf teilweise nur sehr dünne Quellenlage stützen, sodass etliche mehr die Skizze eines Forschungsprogramms als einen Forschungsstand wiedergeben, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Essay auch selbst sagen. Leider findet sich ein solches Programm aber nur angedeutet, und das Fehlen einer übergreifenden Bibliografie trägt weiter zu dem Eindruck eher eines reichhaltigen Steinbruchs als eines ersten Versuchs zur Systematisierung der Forschung bei. Aber auch so gibt der Band eine Ahnung von dem weiten Netz von Menschenrechtsligen vor allem in der Zeit zwischen den Weltkriegen, als sie ein Kristallisationspunkt für viele Intellektuelle waren, die in den Menschenrechtsligen – oft neben ihren im engeren Sinn politischen Ämtern – eine Plattform für politische Debatten mit Agenden hatten, die weit über das hinausgingen, was wir heute unter Menschenrechten verstehen, und deren Struktur und Arbeitsformen wenig mit heutigen Menschenrechts-NGOs zu tun hatten.

 

Gleichwohl waren die Menschenrechtsligen und ihr Dachverband FIDH Ausdruck einer zivilgesellschaftlichen Strömung, die ausgehend von der Anklage bestimmter Fehlentwicklungen in den einzelnen Staaten auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner, eben der Formulierung von Menschenrechten war. Nicht zufällig war es die französische Ligue, die bereits 1936 einen Entwurf einer internationalen Menschenrechtserklärung vorlegte, bezeichnenderweise als „Ergänzung“ der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 deklariert (Complément des Déclarations des droits de l’homme). Einer der Autoren war bereits René Cassin, der später an führender Stelle an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO beteiligt war.

Kommentare sind geschlossen