Vordermayer, Margaretha Franziska: Justice for the Enemy? Die Verteidigung deutscher Kriegsverbrecher durch britische Offiziere in Militärgerichtsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1949), Baden-Baden (Nomos) 2019

5. November 2019 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit, Rezensionen

von Rainer Huhle

 

Die Studie von Margaretha Franziska Vordermayer über die Verteidiger von NS-Kriegsverbrechern vor Militärgerichten in der britischen Besatzungszone ergänzt zwei Forschungsfelder, die in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld gerückt sind: Die Verteidiger in den Prozessen gegen nationalsozialistische Täter, deren Rolle in den Nürnberger Prozessen vor kurzem erstmals Hubert Seliger analysiert hat; und zum andern die Bedeutung der zahlreichen NS-Prozesse jenseits der Nürnberger Prozesse, die in allen Besatzungszonen sowie in den von den Nazis besetzten Ländern (aber auch im Fernen Osten) stattfanden und in denen weit mehr Personen angeklagt und verurteilt wurden als in den 13 Nürnberger Verfahren. Allein vor Militärgerichten in der britischen Besatzungszone, denen sich Vordermayer widmet, fanden nach dem Krieg (im Zeitraum vom 7. September 1945 bis zum 19. Dezember 1949) 329 Verfahren gegen insgesamt 964 Angeklagte statt. Die bekanntesten unter diesen Verfahren waren der Bergen-Belsen Prozess und der letzte Prozess, der gegen Generalfeldmarschall Erich v. Manstein stattfand. Wie in Nürnberg konnten die Angeklagten auch in diesen Verfahren frei einen Wahlverteidiger bestimmen (den sie allerdings, anders als in Nürnberg, selbst bezahlen mussten). Sie hatten darüber hinaus aber die Möglichkeit, unentgeltlich einen britischen Pflichtverteidiger anzufordern. Davon machten die Angeklagten in 34 Verfahren Gebrauch, vor allem in den ersten Prozessen, als dies die praktikabelste Möglichkeit war, einen Verteidiger zu finden. Auf diese 34 Prozesse, also nur etwa ein Zehntel aller britischen Verfahren gegen NS-Angeklagte, und den dortigen Auftritt der britischen Militärverteidiger konzentriert sich die vorliegende Studie. Wie generell, waren Gegenstand auch dieser Verfahren überwiegend Kriegsverbrechen gegen britische Militärangehörige, vor allem die Ermordung gefangener Piloten. Aber auch acht Verfahren wegen KZ-Verbrechen, darunter der Bergen-Belsen-Prozess, fanden mit Beteiligung britischer Pflichtverteidiger statt. Zu Recht hebt Vordermayer hervor, dass im Unterschied zu Nürnberg in den britischen Verfahren weder wegen Angriffskriegs noch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde, sondern ausschließlich wegen Kriegsverbrechen. Dieser Tatbestand wurde aber so weit ausgelegt, dass eben auch die Verbrechen von Deutschen gegen Gefangene in Konzentrationslagern, gleich welcher Nationalität, und auf den „Todesmärschen“ darunter fielen. Dabei wandten die britischen Gerichte bei der Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch Figuren wie „common design“ oder „common plan“ an, was dann im Herbst 1945, möglicherweise auch unter Rückgriff auf diese britische Jurisprudenz, in dem von den Amerikanern eingebrachten Anklagepunkt „conspiracy“ im IMT wiederkehrte und heute im internationalen Strafrecht als „joint criminal enterprise“ geläufig ist. Damit hätte, so argumentiert Vordermayer zu Recht, auf deutschem Boden bereits in den ersten Nachkriegsjahren ein juristisches Instrument zur Verurteilung von Organisationstätern zur Verfügung gestanden, das allerdings von der westdeutschen Justiz fast durchwegs verworfen und erst in den letzten NS-Prozessen des vergangenen Jahrzehnts wieder aufgegriffen wurde.

Weit zurückhaltender ging die britische Militärjustiz mit der Verantwortlichkeit von Vorgesetzten für Verbrechen ihrer Untergebenen um („command responsibility“), die in Nürnberg eine gewichtige Rolle spielte und bereits als eines der Nürnberger Prinzipien festgehalten wurde und heute ebenfalls Bestandteil des internationalen Strafrechts ist. Großbritannien hatte 1944 eigens  sein Militärstrafgesetzbuch, in dem bis dahin Handeln auf Befehl straflos zu bleiben hatte, auf den Stand gebracht, der dann auch in Nürnberg angewandt wurde.

Alle diese Fragen der persönlichen Zurechenbarkeit von Kriegsverbrechen sind nicht das zentrale Thema von Vordermayers Studie, werden von ihr aber in präziser Form eingeführt, wobei sie sich dabei auf die grundlegende Arbeit von Katrin Hassel stützen kann[1]. Denn die betreffenden Rechtsauffassungen waren ja bei der juristischen Bewältigung der NS-Verbrechen überall im Fluss, auch unter den Juristen der Alliierten wurden sie sehr kontrovers gesehen. So wurden sie selbstverständlich auch Gegenstand teils heftiger Dispute in den britischen Militärgerichten, wo gerade auch die britischen Verteidiger es als ihre Pflicht sahen, alle juristischen Argumente vorzutragen, die ihre  Mandanten begünstigen konnten. Wie sie das im Einzelnen taten, wie weit sie dabei gingen und welche Erfolge sie erzielten, dies schildert die Autorin im Hauptteil des Buches dann in vielen Details. Dabei ist der bekannte Bergen-Belsen-Prozess von den anderen Verfahren, die meist nur einen Täter und einen eng umgrenzten Anklagepunkt umfassten, zu unterscheiden.

Wie kurz darauf die deutschen Verteidiger in Nürnberg (und ebenso vergeblich), stellten auch die britischen Anwälte im Bergen-Belsen-Prozess zu Beginn die Zuständigkeit und Legitimität der Gerichte grundsätzlich in Frage. Die von der Anklage sehr vehement vorgetragene Theorie der Schuld allein durch Organisationzugehörigkeit zur SS lehnten sie ab und hatten damit auch Erfolg, denn in seinen Urteilen rekurrierte das Gericht immer auf ein individuell nachweibares Verbrechen. Diese und ähnliche juristische Argumentationen verwundern nicht und wurden ja in ähnlicher Form dann auch in Nürnberg vorgebracht. Was hingegen damals Erstaunen und oft auch Empörung hervorrief, war der Umgang der britischen Pflichtverteidiger mit den Opferzeugen. Im Gegensatz zu Nürnberg, wo diese überhaupt nur eine marginale Rolle spielten, standen sie im Bergen-Belsen-Prozess ihren Peinigern (darunter zahlreichen Frauen) oft direkt gegenüber: Überlebende, oft am Ende ihrer Kräfte, von denen die Verteidiger nun präzise Details verlangten und jede Erinnerungsschwäche als Lüge angriffen. „Dies ist ein Gerichtshof, kein Gemütshof,[2]“ kommentierte dazu lapidar Major Cranfield als Sprecher der Verteidiger. Zumindest einer der Verteidiger ging noch deutlich weiter. Major Winwood, der u.a. den Kommandanten Josef Kramer verteidigte, verharmloste ganz grundsätzlich die Konzentrationslager. Diese seien nun einmal geschaffen, um „die unerwünschten Elemente auszusondern, und die am meisten unerwünschten Elemente waren aus deutscher Sicht die Juden.“ Und die meisten Insassen von Auschwitz  und Belsen seien „der Abschaum aus den Ghettos Mitteleuropas“ gewesen, die eben schwer zu kontrollieren gewesen seien. Zu Recht nennt Vordermayer dies eine Umkehr der Opfer-Täter-Zuschreibung und beschreibt auch, wie diese und ähnliche Äußerungen in weiten Teilen des Auslands und in Großbritannien selbst zu einer Diskreditierung des Prozesses führten. Ob dieses Auftreten einiger der Verteidiger im Sinn einer engagierten Verteidigung und eines fairen Prozesses angebracht war, ist bis heute umstritten. Auch Vordermayer beschränkt sich auf das Zitieren einiger positiver Bemerkungen von Angeklagten und ihnen Nahestehenden, die darin das Eintreten der Verteidiger für Waffengleichheit im Prozess würdigten.

Der Bergen-Belsen-Prozess endete mit 11 Todesurteilen, 19 Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und lebenslänglich, die übrigen 14 Angeklagten wurden freigesprochen. In den übrigen, kleineren Verfahren, in denen es um Verbrechen in Konzentrationslagern ging, wurden sogar sämtliche Angeklagten freigesprochen. Vordermayer führt das auf die teils unzureichende Prozessvorbereitung der Anklage und die Schwierigkeiten, angeführte Zeugen auch tatsächlich dem Gericht zu präsentieren, zurück. Schriftliche Aussagen wurden, anders in Nürnberg, von den britischen Militärrichtern kaum gewürdigt. So sieht Vordermayer denn auch in der Verteidigung durch britische Offiziere im Ergebnis eher einen Vorteil für die Angeklagten in diesen KZ-Verfahren.

Der Bergen-Belsen-Prozess ist zwar der bekannteste unter den britischen NS-Prozessen, er bildet jedoch hin jeder Hinsicht eine große Ausnahme unter diesen zahlreichen Verfahren, auch unter denen in der ersten Phase, die noch ausschließlich mit britischen Verteidigern stattfanden. Vordermayer widmet sich auch den übrigen Verfahren mit gleicher Genauigkeit und Aktenkenntnis. Da sind zunächst noch einige weitere Verfahren wegen Verbrechen in Konzentrationslagern gegen einzelne Angeklagte, darunter auch nichtdeutsche Aufseher und sogar einen kommunistischen Insassen. Diese Verfahren endeten sämtlich mit Freisprüchen, die nach Einschätzung der Autorin vor allem Ergebnis ungenügender Prozessvorbereitung und Beweislage sind. Die Verteidigung durch britische Militärjuristen und eine strikte Anwendung fairer Prozessregeln erwiesen sich hier also keinesfalls als Nachteil für die Angeklagten. Drei weitere Prozesse wurden wegen Gewalttaten auf den sogenannten „Todesmärschen“ aus den Konzentrationslagern durchgeführt. Hier ergingen zwar Schuldsprüche, die Richter berücksichtigten aber in hohem Maß die besonderen Zustände in den letzten Kriegstagen und kamen zu unterschiedlich milden Strafzumessungen.

Ein besonderes Interesse hatte die britische Justiz an den sogenannten „Fliegerprozessen“, die den größten Teil dieser Verfahren ausmachten. Angeklagt waren in insgesamt 13 Verfahren sowohl Militärs und SS als auch Zivilisten, die gefangene Besatzungsmitglieder abgestürzter britischer Flugzeuge töteten oder misshandelten. In diesen Prozessen wurden überwiegend strenge Strafen verhängt, doch kam es auch hier zu Freisprüchen bzw. zur Anerkennung mildernder Umstände. In weiteren Prozessen ging es um Kriegsverbrechen an Kriegsgefangenen und um Misshandlungen polnischer Zwangsarbeiter, vor allem in der Landwirtschaft. Hier standen die „Arbeitgeber“ dieser Zwangsarbeiter, also vor allem zivile Landwirte vor Gericht.

In vielen dieser Prozesse waren keine schwierigen juristischen Fragen zu klären, die Probleme lagen vor allem in der Beweislage. Nur in einigen Verfahren wurden auch explizit Fragen angesprochen, die in den Nürnberger Prozessen im Zentrum standen, wie z.B. die Verantwortlichkeit von Vorgesetzten für Taten ihrer Untergebenen im „Dalag-Luft-Trial“ oder umgekehrt die Verantwortlichkeit von Untergebenen für die Ausführung von Befehlen wider das Kriegsrecht, z.B. des Befehls, keine Gefangenen zu machen.

Im letzten Teil des Buches geht Vordermayer auf die zeitgenössischen Reaktionen auf diese Prozess ein, die sowohl in Großbritannien wie in Deutschland jeweils sehr unterschiedlich waren. Das hohe Berufsethos der britischen Verteidiger wurde offenbar sogar von etlichen Angeklagten positiv gewürdigt und verhinderte eine vergleichbar breite Ablehnung dieser Verfahren als „Siegerjustiz“ wie in Nürnberg – erst der von Vordermayer nur am Rande behandelte späte Prozess gegen General v. Manstein, in dem deutsche und britische Verteidiger agierten, provozierte ähnliche Reaktionen. In Großbritannien riefen vor allem die erwähnten als zu nazi-freundlich verstandenen Auslassungen einiger britischer Verteidiger Empörung hervor, was zu der allmählichen Ermüdung der britischen Öffentlichkeit gegenüber solchen Prozessen insgesamt beitrug. Alles in allem aber, so stellt Vordermayer fest, waren die britischen Verfahren, die als strikte Militärverfahren mit ausschließlich britischem Militärpersonal auch als Verteidigern durchgeführt wurden, weder zum Nachteil der Angeklagten noch gab es eine grundsätzliche Beeinträchtigung der Regeln eines fairen Prozesses. So ist diese Studie als ein wichtiger Beitrag zur Vervollständigung des Bildes der alliierten NS-Prozesse in Nachkriegsdeutschland zu werten. Die Autorin entwickelt ihre Darstellung eng am Quellenmaterial und in einer durchwegs angemessenen nüchternen Sprache.

Bedauerlich sind hingegen einige Defizite in der Präsentation. Zwar enthält das Buch am Ende eine tabellarische Aufstellung der Verfahren mit britischen Verteidigern, in der jedoch die Urteile nicht aufgeführt sind. Auch vermisst man angesichts der Fülle von einzelnen Prozessen einen Namens- und Sachindex. Seltsam und in einigen Fällen fragwürdig ist schließlich die Aufteilung der Bibliografie in ein Quellen- und Literaturverzeichnis, weil die Trennlinie offenbar nicht nach Art des Textes, sondern einfach nach seinem Entstehungsjahr gezogen wurde.

Dennoch: eine wichtige Arbeit, die ein gewichtiges Stück internationaler Justiz in Nachkriegsdeutschland solide aufarbeitet und gerade die immer noch spärliche Literatur über die Verteidiger in diesen Prozessen durch die Analyse eines von Nürnberg deutlich unterschiedenen Modells von Verteidigung bereichert. Ganz besonders gelungen ist der Autorin dabei schon im Anfangsteil des Buches, noch ehe sie auf die britischen Prozesse selbst zu sprechen kommt, eine exzellente Übersicht auf grade mal dreißig Seiten über die verschiedenen, meist inkohärenten und wechselvollen Ansätze zu einer alliierten Politik bezüglich der Strafverfolgung von NS-Verbrechen.

 

[1] Hassel, Katrin: Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Kriegsverbrecherprozesse vor Militärgerichten in der britischen Besatzungszone unter dem Royal Warrant vom 18. Juni 1945 (1945-1949), Baden-Baden (Nomos) 2008

[2] „…this is a Court of justice, not a Court of sentiment.“

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