Morsink, Johannes: The Universal Declaration of Human Rights and the Holocaust. An Endangered Connection, Washington (Georgetown University Press) 2019, 333 Seiten

30. März 2020 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen, Rezensionen

 

von Rainer Huhle

Johannes Morsink wurde bekannt durch sein 1999 erschienenes Buch über die Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.[1] Es war 50 Jahre nach ihrer Entstehung die erste und ist bis heute die umfassendste an den Quellen orientierte Geschichte des Entstehungsprozesses der Allgemeinen Erklärung (AEMR). Dass sie damals nicht von einem Fachhistoriker geschrieben wurde, sondern von einem Philosophieprofessor, belegt nicht nur das bis dahin sehr geringe Interesse der Geschichtswissenschaft an der neueren Geschichte der Menschenrechte – ganz im Gegensatz zu heute, wo es geradezu einen Boom an Literatur zum Thema gibt. Heute sind sämtliche Unterlagen der an der Redaktion der AEMR beteiligten UN-Organe (die Menschenrechtskommission in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien, der Dritte Ausschuss der Generalversammlung und die Generalversammlung selbst) bequem online auf der Website der UNO einsehbar und auch in drei dicken Bänden publiziert[2]. Morsink hingegen hat damals, wie er schreibt, mehrere Jahre in den Archiven der UNO verbracht und rund „sechzig Pfund Dokumente“ kopiert und durchgearbeitet.

Morsinks philosophischer Hintergrund motivierte ihn andererseits schon damals, in der akribischen Archivarbeit über die Textfortschritte (das „drafting“) vor allem auch die Beweggründe (den „intent“) für die einzelnen Rechte-Formulierungen und vor allem für die Erklärung als Ganze zu suchen. Gerade seine philosophischen Überlegungen über die Bedeutung der AEMR, die am Anfang seiner Beschäftigung mit der Erklärung standen,[3] hat er seither in weiteren Büchern dargelegt.[4] Auf alle diese Vorarbeiten greift Morsink nun in seinem neuen Buch immer wieder zurück. Denn, das wird bei der Lektüre bald deutlich, was in den letzten Jahren im Zusammenhang des „boom“ über die Menschenrechte, vor allem über die AEMR geschrieben wurde, das kann Morsink in vieler Hinsicht nicht akzeptieren. Sein Buch ist daher in weiten Teilen eine gründliche Auseinandersetzung mit neuerer Literatur über die Menschenrechte. Ob man Morsink dabei in jeder Einzelheit zustimmen mag – der Rezensent tut es in großen Teilen – oder nicht, schon in dieser Hinsicht ist das Werk eine lohnende, freilich auch anstrengende Lektüre. Zwei der fünf Kapitel widmet Morsink den Autoren, die er unter der Bezeichnung „New Historians“ zusammenfasst, wie etwa Stephen Hopgood oder Eric Posner. Ein ganzes Kapitel ist dem Star dieser Schule, dem New Yorker Historiker und Rechtswissenschaftler Samuel Moyn fast allein gewidmet. Moyn und seine Anhänger behaupten, dass die in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Menschenrechtsinstrumente und –institutionen, insbesondere die AEMR, wirkungslos geblieben und daher für die Entwicklung der Menschenrechte im 20. Jahrhundert irrelevant, wenn nicht sogar kontraproduktiv gewesen seien.[5] Dem entgegnet Morsink in großer Ausführlichkeit nicht nur mit Rekurs auf seine früheren Arbeiten, sondern auch mit Verweis auf die Breite der damals geführten Diskussionen und vor allem auch die vielfältige Herkunft der TeilnehmerInnen an den intensiven Debatten um die Formulierung jedes einzelnen der 30 Artikel der AEMR. Morsink geht es dabei nicht nur um fachliche Korrekturen, in deren Rahmen er den „New Historians“ eine Reihe von historischen Fehlern vorhält, sondern vor allem um die Bewahrung dessen, was er die „Endangered Connection“, das bedrohte Bindeglied zwischen der AEMR und dem Holocaust hält. In seinem ersten Buch hatte Morsink bei nahezu jedem Artikel in den Debattenprotokollen und Formulierungsanträgen Hinweise gefunden, wie sehr sich die Delegierten bemühten, den Verbrechen des Naziregimes positive Rechtsansprüche entgegenzusetzen. Auch damals schon hatte er darauf verwiesen, dass ja die Menschenrechtskommission selbst die United Nations War Crimes Commission (UNWCC)[6] um eine zusammenfassende Studie über die NS-Verbrechen gebeten hatte, die die UNWCC auch vorlegte. Dieses fast 400 Seiten starke Dokument[7] gliedert das Material nach Verbrechenstatbeständen und bezieht auch, anders als die Richter des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg, die Verbrechen der Nazis ein, die sie vor dem Krieg in Deutschland und den besetzten Gebieten begangen hatten. Mit dieser Struktur, aber auch ganz explizit nimmt das Dokument die Logik der Menschenrechte als Postulierung von Rechten auf, die von Verbrechen wie denen der Nazis verletzt wurden. Bereits im Sommer 1947 erhielt die Menschenrechtskommission einen Vorentwurf, im Mai 1948 dann die Endfassung des Berichts. Im neuen Buch kann sich Morsink bei seinem Nachweis der engen Verbindung zwischen der Dokumentation der NS-Verbrechen und der Formulierung der Menschenrechtsartikel neben den Unterlagen der Menschenrechtskommission und dem UNWCC-Dokument selbst auch auf die erste gründliche Studie dieser von der Geschichtsschreibung bis dato eher vernachlässigten – weil nicht so spektakuläre Folgen zeitigenden – Kommission stützen.[8]

Das Insistieren auf der Dokumentation der Bedeutung des Holocaust – er verwendet den Begriff überwiegend als Kürzel für die NS-Verbrechen überhaupt – für die Formulierung der AEMR hat aber für Morsink einen tieferen Sinn. Immer wieder setzt er sich im Buch mit philosophischen Begründungen für die Menschenrechte und für ihre universelle Geltung auseinander. Religiöse, aber auch naturrechtliche Begründungen scheiden für ihn aus, hier kann er zu Recht darauf verweisen, dass schon die VerfasserInnen der AEMR nach langen Debatten sich darauf verständigt hatten, dass solche Begründungen zwar jedem überlassen sein mögen, dass sie aber schon für die damaligen Kommissionmitglieder keine gemeinsame Plattform bilden konnten und erst recht nicht universelle Geltung beanspruchen können. Morsink gibt sich aber auch nicht mit pragmatischen oder rein positivistischen Begründungen zufrieden. Er sieht in der Konfrontation mit dem absolut Bösen der NS-Verbrechen, in der totalen Exklusion der NS-Opfer von allen Rechten bis hin zur Negierung ihres Rechts auf Leben, die zwingende Notwendigkeit, diesem System das vollkommene Gegenteil entgegenzustellen, eben das Prinzip der absoluten Inklusion aller Menschen in den Bereich der Träger von Menschenrechten. Am Anfang der Menschenrechtssetzung steht für Morsink daher die Idee der Menschenrechte als moralisches Prinzip, in der notwendigen Negation des Prinzips der Missachtung dieser Rechte. Dass die Formulierung dieser Rechte in der AEMR nicht in allen Punkten perfekt war, dass diese Rechte später ausgearbeitet, in spezifische Verträge und Proklamationen überführt wurden, auf diese Entwicklung geht er durchaus ein, besteht aber darauf, dass all dies nicht möglich gewesen wäre ohne das Ursprungsdokument der AEMR und deren moralischem Ursprung in der Negation der NS-Verbrechen.

In einem Punkt allerdings will Morsink dem weiteren Ausbau des Menschenrechtsschutzsystems nicht folgen, wie er in den letzten Abschnitten des Buches darlegt. Dies betrifft die Rede von den drei Generationen von Menschenrechten: Den bürgerlich-politischen, den sozialen, und den kollektiven Menschenrechten. Schon in seinem ersten Buch war es Morsink wichtig, darauf hinzuweisen, dass die AEMR eben nicht einer „ersten Generation“ angehörte, sondern dass sie, wiederum in direkter Konfrontation mit dem  NS-Unrecht, mit den Artikeln 22 – 27 die soziale Dimension der Menschenrechte bereits ausdrücklich formulierte. Die Aufteilung des Rechtekatalogs der AEMR in die beiden großen Menschenrechtspakte sieht er daher nicht inhaltlich, sondern rein politisch begründet. Schon deswegen widerstrebt ihm die Metapher von den Menschenrechtsgenerationen. Aber erst recht sieht er keine „dritte Generation“ von Menschenrechten. Die Entstehung der Menschenrechte aus der Konfrontation mit der Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus bedeutet für ihn, dass die Menschenrechte immer an die menschliche Person gebunden sind. Damit ist nicht notwendigerweise an ein isoliertes Individuum gedacht, sondern an die einzelne Person als einzigen Träger von Menschenrechten. In den letzten beiden Kapiteln entwickelt er dieses Argument sehr ausführlich am Beispiel der kulturellen Menschenrechte und der Minderheitenrechte, sowie am gemeinsamen Artikel 1 der beiden Menschenrechtspakte, die das Recht auf Selbstbestimmung „aller Völker“ postulieren. Wiederum in Auseinandersetzung mit einer Reihe von vielzitierten AutorInnen begründet Morsink hier sein philosophisches Konzept vom einzelnen Menschen als Träger der Menschenrechte, das er immer wieder auf die „connection“ mit dem Holocaust zurückführt. Gerade seine Diskussion des Rechts auf Teilhabe am kulturellen Leben gemäß Artikel 27 der AEMR bzw. Art. 15 des Sozialpakts sowie des letztlich aus diversen und widersprüchlichen Motiven fallen gelassenen Konzepts des „kulturellen Völkermords“ in der Genozidkonvention führen tief in die auch heute relevanten Debatten um den Charakter dieser Rechte ein. Gleiches gilt für seine Auseinandersetzung mit den verschiedenen UN-Resolutionen zum Recht auf Entwicklung und vor allem dem Recht auf Selbstbestimmung und die damit verbundenen Fragen nach der Trägerschaft – Wer ist das Volk? – solcher kollektiven Menschenrechte.

Das Buch ist passagenweise nicht leicht zu lesen, das grafische Schema, das das Buch durchzieht, und mit dem Morsink den Gang seiner Argumentation veranschaulichen will, scheint mir diesen eher zu verdunkeln. Aber immer ist Morsinks Argumentation anregend, gerade auch in der fundierten Auseinandersetzung mit vielen anderen Menschenrechtstheoretikern und – philosophen. Und nicht zuletzt scheint durch den ganzen Text ein humaner Geist, der sich auch nicht scheut, immer wieder Bezüge zwischen der philosophischen Begründung der Menschenrechte und menschenrechtlichem Aktivismus als integralem Bestandteil dieser Begründung herzustellen.

[1] Morsink, Johannes: The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting and Intent, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 1999

[2] Schabas, William: The Universal Declaration of Human Rights. The travaux préparatoires, Cambridge (University Press) 2013 (3 vol.)

[3] Morsink, Johannes: “The Philosophy of the Universal Declaration”, in: 6, Human Rights Quarterly, 1984, S. 309-334

[4] Morsink, Johannes: Inherent Human Rights. Philosophical Roots of the Universal Declaration, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 2009; Morsink, Johannes: The Universal Declaration of Human Rights and the Challenge of Religion, Columbia (University of Missouri Press) 2017

[5] vgl. dazu auch Bielefeldt, Heiner: „Moyn’s World. Menschenrechtskritik als Orakel“, in: zeitschrift für menschenrechte 2/2019, S. 157

[6] Die UNWCC war von siebzehn Kriegsgegnern der Achsenmächte ins Leben gerufen worden, um Prozesse gegen NS-Täter vorzubereiten. Insgesamt dokumentierte sie von 1942 bis 1948 Tausende von NS-Verbrechen und sammelte Beweise gegen über 36.000 NS-Täter.

[7] Für gründliche Leser: Es findet sich im Archiv der UNO unter der Bezeichnung E/CN.4/W.19 oder, nach einer offiziellen Korrektur E/CN.4/W.20; Morsink verwendet leider beide Nummern, teilweise auch mit kleinen Schreibfehlern, es handelt sich aber um das gleiche Dokument.

[8] Plesch, Daniel: Human Rights after Hitler: the lost history of prosecuting Axis war crimes, Washington, DC (Georgetown University Press) 2017

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