Zum Stand antisemitismuskritischer Bildungsarbeit in Deutschland: Ein Fazit der Auswertung durch Eckmann/Kößler (2020): „Pädagogische Eckpunkte bezüglich antisemitismuskritischer Bildungsarbeit“ [1]

13. Mai 2020 | Von | Kategorie: Menschenrechtsbildung

Rechtspopulismus und Antisemitismus/Rassismus: Wir sind dagegen, klar, und wissen, was gemeint ist. Für Motivation und Kommunikation reicht das auch. Aber gelegentlich sollten die alltäglich genutzten Begriffe geschärft werden. Auch in der politischen Bildung sollte das gelegentlich mal durchbuchstabiert werden. Das Nürnberger Menschenrechtszentrum ist in Zusammenarbeit mit anderen Nürnberger Initiativen und Institutionen wie dem Menschenrechtsbüro seit Jahren in diesem Handlungsfeld aktiv und bemüht sich um angemessene Antworten und Angebote.

2019 wurde auch israel-bezogener Antisemitismus aus verschiedenen Anlässen heraus von uns thematisiert. Bundesweit gibt es Ansätze, an die wir dabei angeknüpft haben (z.B. ein Seminar des Menschenrechtsbüros mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIGA e.V.). Der Handlungsdruck in diesem Bereich der politischen Bildung steigt angesichts einer wachsenden gesellschaftlichen Konfliktdynamik. Die Kooperation wird seit Jahren intensiviert und professionalisiert. Das vom BMFSFJ geförderte Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ unterstützt verschiedene Initiativen in diesem Handlungsfeld (Projektbereich der Extremismus- bzw., Radikalisierungsprävention). Gottfried Kößler und Monique Eckmann, zwei u.a. auch schon vom NMRZ nach Nürnberg eingeladenen Fachleute[2], schrieben eine Auswertung von 20 Projekten[3], die von „Demokratie leben!“ unterstützt werden. Selbstverständlich ist es am besten, den Bericht selbst zu lesen. Für diejenigen, die das nicht vorhaben oder nicht schaffen, will ich einige Grundsätze und Empfehlungen unterstreichen. In den 30 Seiten werden die Rahmenbedingungen und Settings der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit differenziert. [4] Ich konzentriere mich hier auf das Kapitel 1 („Pädagogische Eckpunkte“) und das Kapitel 3 („Spannungsfelder“). Ein Schwerpunkt der Expertise (Kapitel 2), den ich hier ausklammere, liegt auf den Qualitätsmerkmalen der Vermittlungsarbeit. Mich interessiert hier vor allem, was als Wissen bei Pädagoginnen und Pädagogen zugrunde gelegt sein soll und welche Konflikte dabei von Eckmann/Kößler in den Projekten wahrgenommen werden.

An den Anfang stellen sie einige Grundsätze und Desiderate der politischen Bildung:

  • Statt Reduktion auf Wissensvermittlung auch Reflexion von Emotionen und Affekten; Subjekt- und Prozessorientierung;

der Komplexität der Sachverhalte und Motivation gerecht werden und Ambiguitätstoleranz fördern.

  • Der heutige Antisemitismus zeigt sich vielfach nur latent; das erschwert die Bildungsarbeit.
  • Antisemitismuskritische Bildung muss die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft kritisch reflektieren und darf die Minderheitsperspektiven (nicht nur jüdische) nicht übersehen.
  • „Der Nahostkonflikt bietet Anlass zu vielfachen Instrumentalisierungen. Das Verstehen des Nahostkonflikts benötigt einen multiperspektivischen Ansatz, in dem verschiedene Sichtweisen und Narrative sachlich vorzustellen und kontrovers zu diskutieren sind.“ (S.8)
  • Offensichtlich rassistische oder antisemitische Äußerungen sind zu konfrontieren und die Grenze zwischen Argumenten einerseits und Hass- oder Hetzreden andererseits klarzustellen. „Dies ist nicht nur wichtig gegenüber jenen, die diese Hassreden aussprechen; ebenso notwendig ist es, den übrigen Zuhörer/innen oder „Bystandern“ ein klares Signal zu senden, um sie in einer klaren Haltung gegen rassistische und antisemitische Bemerkungen zu bestärken.“ (S. 8)

Das ist nicht neu; und dahinter steht der Beutelsbacher Konsens der politischen Bildung. Ich will das nur unterstreichen und aktualisieren. Denn in der Praxis verliert man/frau die Eckpunkte manchmal aus den Augen. Und Eckmann/Kößler formulieren m.E. professionell und zugleich gut nachvollziehbar. Auf einige grundlegende inhaltliche und zugleich auch strategische Fragen der Bildungsarbeit geben sie folgende Antworten:

  • Verknüpfung von Antisemitismus und Rassismus:

Ausgangspunkt für Lernprozesse sind die persönlichen und kollektiven Erfahrungen von Diskriminierung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung. Diese Erfahrungen kommen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten (beispielsweise mit rassistischem oder antisemitischem Diskriminierungshintergrund). Der Ansatz der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GFM)[5] versucht, dieser ‚Vielfalt‘ gerecht zu werden. Auch Eckmann/Kößler knüpfen daran an: Pädagogisch Handelnde sollten befähigt sein, „Rassismus und Antisemitismus (Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten) zusammen zu denken“, auch wenn nicht alles gleichzeitig thematisiert werden kann. „Unseres Erachtens sind beide Phänomene, die gleichartige sowie auch unterschiedliche Aspekte aufweisen, unter einem gemeinsamen Dach zu behandeln, wobei jedoch der Raum für die Spezifität von Antisemitismus gesichert sein muss.“ (S. 10)

  • Soll die Erfahrung von Juden als eine „Besonderheit des Themas“ eingeführt werden? Eckmann/Kößler bringen hier im Anschluss an Kohlstruck/Ullrich[6] den Begriff des Exzeptionalismus ‚Besonderheit‘ als Ausgangspunkt kann zu „Schieflagen“ führen; das könne „nicht Absicht eines Bildungsvorgangs sein“ (S. 12/13).
  • „Opferkonkurrenz“: Opfererfahrungen können im pädagogischen Raum (anders als in Recht und Politik) nicht hierarchisiert werden.

Wichtig finde ich zwei kritische Einschränkungen, die Eckmann/Kößler hier machen: Erfahrungsberichte sollten differenziert werden; denn nicht jede Ausgrenzungserfahrung bewegt sich auf einem Kontinuum Richtung ‚Völkermord‘; und: politische Bildung darf sich nicht in Empathie erschöpfen.

Zum israelbezogenen Antisemitismus wird insbesondere empfohlen:

  • „ein Minimum an Wissen über die Geschichte des Zionismus (und Antizionismus) und des Nahostkonflikts“ (S. 16) vermitteln
  • Simple Schuldzuschreibungen vermeiden
  • Ressentiments und Feindseligkeit gegen Jüdinnen und Juden bewusst machen
  • Einzelne Menschenrechtsverletzungen von antisemitischen Mustern in pro-palästinensischen Diskursen unterscheiden.
  • „Es gilt analog in pro-israelischen Diskursen muslimfeindliche Haltungen zu konfrontieren; dabei gelten analoge Kriterien wie oben, d.h. Hassbotschaften, polarisierende und pauschalisierende Bilder sind zu benennen und zu konfrontieren.

Das Spannungsfeld „Antisemitismus unter Muslim/innen“ wird in seinen verschiedenen Aspekten dargestellt. „Als Fazit kann festgehalten werden, so wie es bei der Vorstellung des Berichts des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus von Beate Küpper dargestellt wurde, dass israel- und judenfeindliche Einstellungen weniger als religiöses Phänomen des Islam betrachtet werden sollten. Vielmehr sollten Hintergründe in der offiziellen Politik der Regierungen der Herkunftsländer von Migrant/innen und Geflüchteten gesucht werden.“ (S. 25)

Auch das Spannungsfeld „Nahostkonflikt und Antisemitismus – Konflikt über den Konflikt“ wird sehr sorgfältig ausgebreitet. Immer sollte der Konflikt vom „Konflikt um den Konflikt“ unterschieden werden, zum Beispiel in Bezug auf Akteure der Boycott, Divestement, Sanctions (BDS) Bewegung: Sie „richten sich mit ihrer eindeutigen Parteinahme für Palästina gegen den israelischen Staat, unter anderem auch mit Positionen, die man als antisemitisch bezeichnen kann. Daher ist es in der pädagogischen Arbeit notwendig, konkrete Taten, Aussagen oder Behauptungen darauf hin zu untersuchen, ob sie tatsächlich als Ausdruck von Antisemitismus zu betrachten sind. …. sollte erreicht werden, dass sich auch Sympathisant/innen der BDS-Bewegung ernsthaft und selbstreflexiv – wie es alle Kreise der Gesellschaft tun sollten – mit potenziellem Antisemitismus in den eigenen Reihen befassen.“ (S. 26)

Zum Schluss noch eine Anmerkung: Primäres Ziel sind Lernprozesse und die Veränderung von Wahrnehmungsstrukturen. Politische Verantwortung, Bewertungen und Konfrontation bleiben möglichst außen vor, werden nur ausnahmsweise (siehe oben) aktiv thematisiert. Die weiter nicht entfaltete Aufforderung „Unterschiedliche Machtparadigmen sind zu berücksichtigen“ (S. 13) führt auf ein schwieriges Feld, das zur politischen Bildung zentral dazugehört, hier aber nicht betreten wird. Es sei denn, wir könnten uns damit zufrieden geben, „Machtparadigma“ menschenrechtlich zu bewerten. Aber welche Mächte und Strukturen schützen wiederum mittelfristig die Rechte der Menschen? Die Frage kann uns begegnen; sie muss aber in diesem insgesamt fruchtbaren Ansatz unbearbeitet bleiben.

 

[1] „Pädagogische Auseinandersetzung mit aktuellen Formen des Antisemitismus. Qualitätsmerkmale und Spannungsfelder mit Schwerpunkt auf israelbezogenem und sekundäre Antisemitismus“. von Monique Eckmann und Gottfried Kößler: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/FGJ4/Eckmann_Koessler_2020_Antisemitismus.pdf

Auch unter: https://www.gedenkstaettenforum.de/nc/publikationen/publikation/news/paedagogische_auseinandersetzung_mit_aktuellen_formen_des_antisemitismus/

[2] Monique Eckmann ist emeritierte Professorin der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Westschweiz in Genf und hat jahrelang zu Bildung im Bereich Rassismus/Antisemitismus geforscht, gelehrt und publiziert; u.a. war sie Fachberaterin des Modellprojekts „Gedenkstättenpädagogik und Gegenwartsbezug“; Gottfried Kößler war CoLeiter dieses Projekts und stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts. Dort war er außerdem bis zu seiner Pensionierung 2019 Mitarbeiter im pädagogischen Zentrum.

[3] „2015 bis 2019 wurden in diesem Rahmen insgesamt 20 Modellprojekte gefördert, die mit unterschiedlichen Zielgruppen und inhaltlichen Schwerpunkten einen innovativen Beitrag zur Entwicklung und Erprobung neuer Methoden, Materialien und (pädagogischer) Handlungsansätze zur Antisemitismusprävention lieferten. Die Projekte arbeiteten sowohl unmittelbar mit Kindern und Jugendlichen als auch mit (pädagogischen) Fachkräften und Einrichtungen zu den in der Förderleitlinie festgelegten thematischen Schwerpunkten ‚antizionistischer bzw. israelbezogener und sekundärer Antisemitismus – Bearbeitungskontexte von Antisemitismus als Leitideologie extrem rechter und islamistischer Radikalisierung.‘“ (aus dem Vorwort)

[4] Weiterbildungsprogramm „Verunsichernde Orte“, Thimm, Barbara; Kößler, Gottfried; Ulrich, Susanne (Hg.) (2010): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel.

[5] Küpper, Beate; Zick, Andreas (2015): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Unter:

https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit.

 

[6] Kohlstruck, Michael; Ullrich, Peter (2015): Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin. Hg. v. Landeskommission Berlin gegen Gewalt. Berlin (Berliner Forum Gewaltprävention).

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