Huellas de la Memoria: Auf den Spuren von César

29. Juni 2020 | Von | Kategorie: Menschenrechte in der Kunst

Mexiko: Über 60 000 Personen gelten nach offiziellen Angaben als verschwunden. Das Projekt „Huellas de la Memoria“ versucht, das systematische Verschwindenlassen von Personen sichtbar zu machen und erzählt die Geschichten von Familien auf der Suche nach ihren Liebsten. Eine dieser Geschichten ist die von Maricela Alvarado González. Sie sucht mit dem heutigen Tag seit neun Jahren ihren Sohn César.

 

von Nils Lieber

 

Alle zwei Stunden verschwindet eine Person in Mexiko [1]. Zum mexikanischen Muttertag am 10. Mai zieht es daher jedes Jahr Zehntausende auf die Straßen, um den Staat, der in vielen Fällen selbst Täter ist, aufzufordern, die Verschwundenen zu suchen und wirksame Maßnahmen gegen das systematische Verschwindenlassen zu ergreifen. Im Jahr 2013 schließt sich der Bildhauer Alfredo López Casanova Familienangehörigen der Verschwunden bei ihrem Protestmarsch durch Mexiko-Stadt an. Dabei fallen ihm die abgenutzten Schuhsohlen der Mütter auf, die von den unzähligen Schritten zeugen, welche diese auf der Suche nach ihren Kindern zurückgelegt haben. Mit dem Gedanken, dass die abgenutzten Schuhsohlen symbolisch für den unermüdlichen Kampf der Mütter für Wahrheit und Gerechtigkeit stehen, wird das Projekt “Huellas de la Memoria” geboren.

Huellas de la Memoria

Das Projekt versucht, auf künstlerische Weise das Problem des Verschwindenlassens aufmerksam zu machen. Als Plattform dienen dabei die von der Suche gezeichneten Schuhe der Angehörigen, welche das Kollektiv um den Bildhauer samt eines Briefs von Angehörigen aus ganz Mexiko und inzwischen ganz Lateinamerika zugesendet bekommt. In die linke Sohle graviert das Kollektiv mit einem Stechbeitel Informationen zur verschwundenen Person und ihrem Verschwinden ein, in die rechte Sohle eine Nachricht der suchenden Angehörigen an die verschwundene Person. Im Anschluss werden die gravierten Sohlen mit einem Farbroller schwarz, grün oder rot eingefärbt und vorsichtig auf ein Blatt Papier platziert, so dass die “Fußspur der Erinnerung” auf das Papier gedruckt wird.

Die meisten der inzwischen über 200 Fußspuren des Projekts sind grün und stehen für die unbändige Hoffnung der Angehörigen, ihre Liebsten zu finden. Die Untätigkeit des mexikanischen Staates veranlasst sie dazu, selbst auf die Suche zu gehen. Sie schalten Vermisstenanzeigen, befragen mögliche Zeugen, eignen sich teilweise gar forensische Fähigkeiten an und durchstreifen Täler und Wälder in der Hoffnung, ihre Liebsten zu finden. Laut offiziellen Angaben wurden auch so zwischen 2006 und 2016 1,978 (Massen-)Gräber, in denen mindestens 2,884 Körper gefunden wurden, von behördlichen Stellen in 24 Bundesstaaten registriert. Die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft bestätigt zusätzlich den Fund von weiteren 232 Gräbern in diesem Zeitraum [2]. Einige der Fußspuren zeugen davon, dass die verschwundene Person leblos aufgefunden wurde. Sie sind schwarz eingefärbt und stehen für die Trauer, die nun bei den Angehörigen den Platz der quälenden Ungewissheit einnehmen kann.

Der Fall von Doña Cornelia Guevara

Bei der Suche setzen sich die Familien nicht nur einer hohen seelischen, physischen, und finanziellen Belastung aus, sondern auch Gefahren. So sind einige Fußspuren rot wie die von Doña Cornelia Guevara, die ihren Sohn Oswaldo Espejel, verschwunden am 7. August 2012 in Tecámac im Bundesstaat Mexiko, suchte und deswegen am 15. Januar 2016 ermordet wurde. Nachdem die Ermittlungen ergaben, dass Oswaldo getötet worden war, suchte Doña Cony, wie sie alle liebevoll nannten, nicht nur den Leichnam ihres Sohnes, sondern auch Gerechtigkeit und verlangte, dass die Täter belangt werden. In einem Land, in dem 99 Prozent der Verbrechen straflos bleiben, schaffte sie es Morddrohungen und Einschüchterungsversuche zum Trotz, dass zwei Personen wegen des mutmaßlichen Mordes an ihrem Sohn festgenommen wurden [3]. Der gewaltsame Tod Doña Conys, die zum Zeitpunkt ihrer Ermordung unter Polizeischutz stand, herbeigeführt durch drei Personen in ihrer eigenen Wohnung führte dazu, dass sie den Leichnam ihres Sohnes Oswaldo nicht mehr finden und bestatten konnte [4]. Doña Cony suchte ihren Sohn bis zum letzten Tag ihres Lebens.

Ausstellungen in Europa und Treffen in Mexiko

Im Bestreben, das Verschwindenlassen in Mexiko sichtbar zu machen, stellt das Kollektiv um Alfredo López Casanova die Fußspuren der Erinnerung nicht nur in verschiedenen Teilen von Mexiko aus, sondern organisierte eine Europareise, um die Geschichten der Suchenden auch in Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland zu erzählen. Im August 2017 kam die Ausstellung so über das Nürnberger Menschenrechtszentrum (NMRZ) ins Tagescafé „Fenster zur Stadt“ der Katholischen Stadtkirche in Nürnberg [5]. Dabei konnte ich die Installierung und Eröffnung der Ausstellung für das NMRZ und das Kollektiv fotografisch dokumentieren und Alfredo persönlich kennen lernen. Während eines Mexikoaufenthalts nutzte ich die Möglichkeit, ihn kurz nach dem verheerenden Erdbeben in Mexiko-Stadt zu besuchen und die Arbeit des Kollektivs näher kennenzulernen.

Wir trafen uns an einem Samstag jedoch aus Sicherheitsgründen nicht in seinem Atelier – das für das Zentrum der Stadt typische Gebäude ist durch das Erdbeben beschädigt worden – sondern in seiner Wohnung, die kurzerhand zum Atelier umfunktioniert wurde. Dort begannen wir mit der Arbeit. Zunächst sahen wir uns die Schuhe genauer an, die dem Kollektiv seit dem letzten Treffen zugesendet wurden. Die Schuhe selbst verraten bereits eine Menge. Die abgelaufenen Sohlen dokumentieren den unermüdlichen Einsatz der Träger_Innen und sind Zeugnis der Hoffnung. Es gibt Turnschuhe, Sandalen aus dem Süden, Stiefel aus dem Norden und Kinderschuhe. Vor allem aber sticht ins Auge, dass es überwiegend Damenschuhe sind. Wenn eine Person verschwindet, ist es meist die Mutter, die ihr Kind sucht. Alfredo berichtet, dass sich die Familien oftmals organisieren und entscheiden, dass sich sowohl jemand um die Suche nach dem verschwundenen Familienangehörigen kümmern muss, als auch jemand darum, den Lebensunterhalt der Familie weiter zu gewährleisten. Oftmals suchen auch deshalb Mütter nach ihren Kindern und stehen an vorderster Front im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit.

Maricela Alvarado González sucht ihren Sohn Ce?sar 

Genauso scheinbar zufällig wie Personen in Mexiko verschwinden, so zufällig werden mir an jenem Samstag die Schuhe von Maricela Alvarado González zugeteilt. Es sind elegante Ballerinas in Größe sieben, sie sind braun und mit kleinen silbernen Steinchen versehen. Im Inneren der Ballerinas findet sich ein handgeschriebener Brief, der wie bereits eingangs beschrieben neben Informationen zur Trägerin und dem Verschwinden ihres Sohnes, Ce?sar Guadalupe Carmona Alvarado, eine Nachricht von Maricela an ihren Ce?sar enthält. Ce?sar verschwand am 24. Juni 2011 in der Gemeinde San Nicola?s de los Garza im an die USA grenzenden Bundesstaat Nuevo León. Seine Mutter sucht ihn seitdem unermüdlich.

Alfredo und das Kollektiv zeigen mir, wie der Prozess von den zugesendeten Schuhen bis hin zur fertigen „Huella“ abläuft. Sie erklären mir, dass die Sohlen einiger Schuhe zu hart, andere zu weich sind, um die Zeilen mit dem Stechbeitel einzugravieren. In diesen Fällen benutzen sie entweder andere Werkzeuge oder versehen die Sohlen mit einer Linoleum Schicht, um mit dem Stechbeitel arbeiten zu können. Schließlich darf ich Maricelas Fußspur bearbeiten, die Sohlen der Ballerinas haben einen guten Härtegrad und ermöglichen eine direkte Bearbeitung. Zur Vorbereitung schreibt Alfredo den Text spiegelverkehrt auf die Sohle und zeigt mir, den Umgang mit dem Stechbeitel. Die abgelaufenen Sohlen machen die Arbeit nicht einfach, jedoch sind wir nach einiger Zeit so weit, die Sohlen mit einem Farbroller grün einzufärben und vorsichtig auf ein Blatt Papier zu drucken. Wir lassen die Schuhe eine Weile darauf stehen und stellen sicher, dass alle Teile zu lesen sein werden, bevor wir vorsichtig die Schuhe abnehmen und nur die Fußspur mit dem folgenden Text zurückbleibt:

Ich bin Maricela Alvarado González, Mutter von César Guadalupe Carmona Alvarado, verschwunden am 24. Juni 2011 in San Nicolás de los Garza, Nuevo León. Sohn, ich bete zu Gott, dass ich Dich wiedersehe. Ich suche Dich überall und so werde ich bis zum letzten Moment meines Lebens weitermachen bis ich Dich finde. Deine Familie.

Neun Jahre der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit

Auch oder gerade weil mir diese Spur zufällig zugeteilt wurde, bin ich neugierig, und möchte mehr über Maricela und das Verschwinden von César erfahren. Durch eine Onlinerecherche finde ich heraus, dass sich Maricela einem Kollektiv von Müttern (FUNDENL) auf der Suche nach ihren verschwundenen Kindern angeschossen hat und im April des gleichen Jahres an einer Pressekonferenz teilnahm [6] [7]. Zweck dieser Pressekonferenz war es, die Kritik der Menschenrechtskommission von Nuevo León (CEDH) an der Untätigkeit der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Ermittlungen zur Lokalisierung der mehr als 4.000 Verschwundenen in Nuevo León bekannt zu machen.

Um mehr zu erfahren, nehme ich nach Rücksprache mit dem Kollektiv Kontakt zu Maricela auf. Sie berichtet von César, ihrem ersten Sohn, der zum Zeitpunkt seines Verschwindens 35 Jahre alt war. César, so berichtet Maricela, sei ein fröhlicher Mensch, der gerne lacht, tanzt und feiert, ein guter Koch insbesondere für Ceviche, ein aus Peru stammendes Gericht aus frischem Fisch, und ein Fan der Tigres de Monterrey, dem letztjährigen mexikanischen Fußballmeister. Der gelernte Programmierer arbeitete zuletzt in der Baufirma seines Vaters und beaufsichtigte einige der Bauprojekte. Cesár, selbst Vater von vier Kindern, verschwindet am 24. Juni 2011, dem mexikanischen Vatertag.

Nach der Trennung von seiner Frau wohnte César im Haus seines Vaters. Dieser ruft am späten Abend bei Maricela an, um zu fragen, ob César die Nacht in ihrem Haus verbringe, denn er sei nicht zurückgekommen, nachdem er ankündigte sich noch mit Freunden zu treffen. Maricela, die getrennt von Césars Vater lebt, wundert sich, denn normalerweise sagt César Bescheid, wenn er nicht nach Hause kommt. Spätestens am Abend des nächsten Tages, als sie immer noch nichts von César gehört haben, werden sie unruhig und kontaktieren seine Freunde und fragen ob diese etwas von César gehört hätten. Immer noch ohne Nachricht ihres Sohnes kontaktiert Maricela Locatel, eine staatliche Informationsstelle, die angibt, dass César weder aufgefunden oder festgenommen, noch in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Maricela entscheidet sich also, eine Vermisstenanzeige bei der polizeilichen Stelle gegen Entführungen in der Hauptstadt von Nuevo León, Monterrey, aufzugeben. Diese geben nach einiger Zeit den Fall an lokale Ermittler weiter. Schnell wird Maricela jedoch klar, dass praktisch keine Ermittlungen durchgeführt werden. Als sie sich nämlich nach dem Stand der Ermittlungen im Fall ihres Sohnes erkundigt, bringt der zuständige “Ermittler” zunächst einige Zeit damit zu, die richtige Akte aus einem am Boden liegenden Berg von Ordnern unter seinem Schreibtisch zu finden. Alles was darin steht, sind die Angaben, die Maricela selbst gemacht hat. Neue Erkenntnisse: Fehlanzeige!

Die Rolle von Opferkollektiven und die nicht endende Kampf um die Wahrheit

Konfrontiert mit der Untätigkeit des Staates und dem Gefühl der Ohnmacht entscheidet Maricela, sich FUNDENL anzuschließen, das vornehmlich aus Müttern auf der Suche nach ihren Kindern besteht. Die Gruppe gründete sich im Jahr 2011 aus dem Bedürfnis nach Selbstorganisation heraus. Sie bietet den Familien Halt und die Möglichkeit, in einem organisierten Rahmen tätig zu werden und gegen die Untätigkeit auf staatlicher Seite vorzugehen. Die Gruppe organisiert interne Treffen und öffentliche Veranstaltungen, um Aufmerksamkeit für das Thema zu generieren und anderen Familien, die noch nicht tätig wurden, zu zeigen, dass sie mit ihren Fällen nicht allein sind. Für Maricela und die anderen Mitglieder_Innen der Gruppe hat sich ihre Lebensrealität drastisch verändert. Viele Betroffene leiden unter starken sozialen, psychischen und gesundheitlichen Folgen. Maricela findet im Kollektiv offene Ohren, Freunde und Kraft, um die Suche nach César fortzusetzen.

Ihr gelingt es, den letzten Aufenthaltsort Césars zu lokalisieren und die drei Personen zu finden, die angeben, ihn zuletzt gesehen zu haben. César sei mit dem Auto einer der drei Personen weggefahren, um etwas in der Nähe einzukaufen, und sei nie wieder zurückgekehrt. Die Parteien widersprechen sich allerdings in den Details und nennen beispielsweise unterschiedliche Hotels, in denen sie angeblich zuletzt mit César gewesen seien. Maricela übergibt diese Informationen an die im Jahr 2015 neu gegründete Sonderstaatsanwaltschaft, welche auf Fälle von Verschwindenlassen spezialisiert ist. Diese beginnt fünf Jahre nach dem Verschwinden von César endlich mit der “Ermittlungsarbeit”. Nach Befragung der drei Personen bleiben jedoch weitere Maßnahmen aus. Maricela gibt an, dass sogar einer der drei Personen später in einem anderen Fall wegen Entführung verurteilt wurde jedoch inzwischen wieder auf freiem Fuß ist. Es sei sein Auto gewesen, das César benutzt hatte. Weder zum Aufenthaltsort von César, dem Auto, noch zum Verschwinden von César ist bis heute Näheres bekannt – neun Jahre nach seinem Verschwinden.

Maricela kämpft weiter Seite an Seite mit ihren Mitstreiterinnen dafür, ihren Sohn zu finden. Seit kurzem ist sie im Kollektiv “Buscadoras Nuevo León”, den Suchenden von Nuevo León, organisiert. Dabei nehmen sie unvorstellbare Anstrengungen und Gefahren in Kauf indem sie unter anderem systematisch ganze Landstriche mit Schippen und Spaten durchstreifen, um die Überreste von Verschwundenen zu finden. Ihnen gibt diese Arbeit die Gewissheit, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, damit die Verschwundenen Nuevo Leóns nach Hause zurückkehren können.  Stets in der Hoffnung, ihre Liebsten lebend in den Arm nehmen zu können, treibt sie vor allem die Ungewissheit an, nicht zu wissen, was mit ihren Kindern passiert ist und wo sich diese befinden. Die Arbeit der Familien vor allem in den Kollektiven  ist genauso wie das Projekt “Huellas de la Memoria” auch eine stetige Forderung an den mexikanischen Staat, seinen Verpflichtungen gegenüber den Opfern des Verschwindenlassens nachzukommen und das Schicksal der Verschwundenen zu klären.

Mauer der Erinnerung

Auf der Suche nach Gerechtigkeit installierte Maricela zusammen mit anderen Müttern die “El Muro de la Memoria”, der Mauer der Erinnerung, als eine Form des Protests an einer Wand, die sich direkt am Eingang der Generalstaatsanwaltschaft von Nuevo León befindet. Sie befestigten Kacheln mit einem Bild ihrer verschwundenen Kinder und den “Fußspuren der Erinnerung”. Vier Stunden nach der Installierung der Kacheln bestätigt ihnen ein Beamter der Behörde, dafür Sorge zu tragen, dass die Kacheln respektiert und nicht entfernt werden. Das Gegenteil geschieht jedoch.

Am nächsten Tag werden die Kacheln entfernt und die Wand weiß gestrichen, als wollte man sagen: “Hier gibt es keine Verschwundenen”. Maricela berichtet: “Am 20. Februar haben wir die Kacheln mit Fotos und den Fußabdrücken installiert, um die Staatsanwaltschaft darauf aufmerksam zu machen, dass sie unseren Sohn finden müssen, der zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren und sieben Monaten verschwunden war. Am nächsten Tag jedoch wachten wir mit der Nachricht auf, dass sie die Fußabdrücke und die Fotos unserer Kinder entfernt hatten. Uns wurde versprochen, dass unsere Gedenkstätte respektiert wird. Niemand sagte uns, dass sie die Mauer der Erinnerung einfach entfernen würden” [8]. Es ist höchste Zeit, dass die mexikanischen Behörden dem Thema endlich die Priorität zugestehen, die es verdient. Statt das Problem des Verschwindenlassens mit solchen Aktionen unter den Tisch zu kehren, sollten schnellstens wirksame Maßnahmen getroffen werden, um die Familien zu unterstützen und die Verschwundenen zu finden.

Kontext 

Nach offiziellen Angaben gelten in Mexiko über 60 000 Personen als verschwunden [9]. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich darüber liegen. Die ersten Fälle von Verschwindenlassen ereigneten sich in den sechziger Jahren im sogenannten “Schmutzigen Krieg” der autoritären Regierungen. Zu dieser Zeit wurden vor allem Guerilla-, Studentengruppen und Oppositionelle Opfer der systematisch durchgeführten Praxis [10]. Im Einzelfall kann nur selten nachgewiesen werden, aus welchem Grund eine Person verschwunden ist. Das gewaltsame Verschwindenlassen wird jedoch häufig als Strategie zur systematischen Verbreitung von Terror und Angst in einer Gesellschaft oder einem bestimmten Teil der Gesellschaft eingesetzt. Das Gefühl der Unsicherheit und Angst, welches durch das Verschwindenlassen hervorgerufen wird, beschränkt sich dabei nicht auf die nahen Angehörigen der Verschwundenen, sondern betrifft auch die lokalen Gemeinschaften und die Gesellschaft als Ganzes. Das Projekt “Huellas de la Memoria” dokumentiert dieses Phänomen und dokumentiert sowohl aktuelle Fälle als auch jene, die aus der Zeit des “Schmutzigen Krieges” stammen. Dazu zählen auch die Fußspuren des ersten dokumentierten Fall des gewaltsamen Verschwindenlassens in Mexiko, dem Fall von Epifanio Avilés [11]. Auf der Fußspur seiner Frau, die ihn seit nunmehr über 50 Jahren sucht, steht folgendes geschrieben:

Ich heiße Braulia Jaimes, ich suche meinen Mann Epifanio Avilés, verschwunden am 19. Mai 1969 in Ciudad Altamirano, Guerrero. Die Verantwortlichen für sein gewaltsames Verschwinden sind General Miguel Bracamontes, Arturo Acosta Chaparro und Miguel Nazar Haro. Epifanio, ich habe nach Dir gesucht und werde mit aller Kraft weitersuchen, bis ich Dich finde.

Während das Verschwindenlassen bereits seit den 1960er Jahren in Mexiko existiert, hat es insbesondere seit Beginn des sogenannten Krieges gegen die Drogenkartelle im Jahr 2006, der vom damaligen mexikanischen Präsidenten Felipe Calderon ausgerufen wurde, epidemische Züge angenommen. Im Januar 2007 begannen die Armeepatrouillen auch in den Straßen von Monterrey, der Hauptstadt des Bundesstaates Nuevo León. Die Militärpräsenz im städtischen Gebiet war darauf zurückzuführen, dass die Operationen der Bundesregierung gegen den Drogenhandel auf Nuevo León und Tamaulipas ausgeweitet wurden, trotz des Widerstands der damaligen Gouverneurin von Nuevo León. Die Gewalt im Bundesstaat erreichte in den Jahren zwischen 2010 und 2012 ihren Höhepunkt. Die Presse berichtet, dass es allein im Jahr 2011, dem Jahr des Verschwindens von César, in Nuevo León 1.789 Hinrichtungen gab. In diesen Jahren nahm auch die Zahl der verschwundenen Personen im Bundesstaat merklich zu. Bereits im September 2009 erreichte das Problem den Kongress, als eine Gruppe von Frauen und Kindern in einem Brief die Gesetzgeber aufforderte, eine Sonderkommission einzurichten. Sie legten eine Liste von 16 verschwundenen Personen vor und behauptete, dass in mehreren Fällen die Verantwortlichen der Verbrechen aus den Reihen der Polizei stammten [12].

Im Jahr 2009 begann auch die lokale Menschenrechtsorganisation CADHAC mit der Entgegennahme und Dokumentation von Fällen verschwundener Personen. Seit 2010 dokumentiert sie Fälle, in denen die Opfer des Verschwindenlassens gewöhnliche Bürger sind. Zuvor wurden ausschließlich Fälle von staatlichen Funktionsträgern gemeldet. Die Organisation begann insbesondere Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen zu dokumentieren, in denen es Hinweise auf eine Beteiligung von staatlichen Sicherheitskräften gab. Da das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens jedoch in Nuevo León noch nicht definiert war, wurden diese Fälle damals als Entführung oder illegale Freiheitsberaubung registriert. Laut der Organisation war es jedoch offensichtlich, dass der Staat in das Verschwindenlassens in Nuevo León verwickelt ist, wenn auch staatliche Funktionsträger nicht in allen Fällen als direkte Täter auftreten, so machten sie sich doch durch Duldung und die Nachlässigkeit bei der Durchführung einer wirksamen Untersuchung zur Lösung des Problems schuldig. In einem Bericht aus dem Jahr 2016 berichtet CADHAC zudem, dass dieser Mangel an Untersuchung dazu führte, dass die Verantwortung für die Erbringung an Beweisen de facto auf die Angehörigen der Opfer übertragen wurde, obwohl sie den Behörden Namen, Daten und Telefonnummern im Zusammenhang mit den Ereignissen stehen, zur Verfügung stellten, wurde keine Untersuchungen angestellt [13]. Dies zeigt sehr deutlich, dass der Fall von César kein Einzelfall ist.

Jede_r Verschwundene hat einen Namen, eine Geschichte, einen Vater und eine Mutter. Das Verschwinden einer Person hinterlässt eine offene Wunde. Das Einzige, was Abhilfe schafft, ist die Wahrheit. Die Fußspuren sind eine Erinnerung daran.

Fußnoten

[1]Lara Ely, „En México, una persona desaparece cada dos horas“ , 11 September 2017, Instituto Humanitas Unisinos, http://www.ihu.unisinos.br/78-noticias/571550-en-mexico-una-persona-desaparece-cada-dos-horas.

[2]Alejandra Guillén, Mago Torres, Marcela Turati, “El país de las 2 mil fosas”, adondevanlosdesaparecidos.org, 12. November 2018, https://adondevanlosdesaparecidos.org/2018/11/12/2-mil-fosas-en-mexico/.

[3]Aristegui Noticias, “La impunidad en México es de 99.3%; no hay policías ni jueces suficientes: UDLAP”, 13. März 2018, https://aristeguinoticias.com/1303/mexico/la-impunidad-en-mexico-es-de-99-3-no-hay-policias-ni-jueces-suficientes-udlap.

[4]Juan Manuel Barrera, “Asesinan a madre de desaparecido en Tecámac”, El Universal, 19. Januar 2016, https://www.eluniversal.com.mx/articulo/metropoli/edomex/2016/01/19/asesinan-madre-de-desaparecido-en-tecamac.

[5]Nürnberger Menschenrechtszentrum “Huellas de la Memoria – Spuren der Erinnerung”, menschenrechte.org, 14. Juli 2017, https://www.menschenrechte.org/de/2017/07/14/huellas-de-la-memoria-spuren-der-erinnerung/.

[6]Estefanía Ávalos Palacios, “Estamos enfrentando al Estado y no estamos locas, somos un ejemplo de cordura mental: FUNDENL”, Subversiones, 2 Mai 2017, https://subversiones.org/archivos/128907.

[7]Luciano Campos Garza, “Familiares de desaparecidos reclaman 20 mdp por reparación a la Procuraduría de NL”, proceso, 19 Februar 2018, https://www.proceso.com.mx/523214/familiares-de-desaparecidos-reclaman-20-mdp-por-reparacion-la-procuraduria-de-nl.

[8]Alfredo López Casanova, “El gobierno de Nuevo León desprecia la memoria de los desaparecidos y desaparecidas.” ZonaDocs, 23. Februar 2020, https://www.zonadocs.mx/2020/02/23/el-gobierno-de-nuevo-leon-desprecia-la-memoria-de-los-desaparecidos-y-desaparecidas/

[9]Gloria Leticia Díaz, “México acumuló 61 mil 637 reportes de personas desaparecidas: Segob”, proceso, 6. Januar 2020, https://www.proceso.com.mx/613174/mexico-acumulo-61-mil-637-reportes-de-personas-desaparecidas-segob.

[10]Sylvia Karl, “Kampf um Rehumanisierung. Die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges in Mexiko”, transcript, 2014, https://www.menschenrechte.org/de/2015/10/29/9892/.

[11]Aristegui Noticias, “Epifanio: 50 años desaparecido #DóndeEstáEpifanio”, 19. Mai 2019, https://aristeguinoticias.com/1905/mexico/epifanio-50-anos-desaparecido-dondeestaepifanio.

[12]CADHAC, “Desapariciones en Nuevo León, desde la mirada de CADHAC. Informe 2009-2016”, 23. Februar 2017, https://cadhac.org/docs/desapariciones-nl-2009-a-2016.pdf.

[13]CADHAC, “Desapariciones en Nuevo León, desde la mirada de CADHAC. Informe 2009-2016”, 23. Februar 2017, https://cadhac.org/docs/desapariciones-nl-2009-a-2016.pdf.

Abkürzungen:

CADHAC: Ciudadanos en Apoyo a los Derechos Humanos A.C. – Bürger zur Unterstützung der Menschenrechte e.V., https://cadhac.org/.

FUNDENL: Fuerzas Unidas por Nuestr@s Desaparecid@s en Nuevo León –  Vereinte Kräfte für unsere Verschwundenen in Nuevo León, http://fundenl.org/.

Verschwunden: César Guadalupe Carmona Alvarado. Zuletzt gesehen: Am 24. Juni 2011 in San Nicolás de los Garza, Nuevo León, Mexiko.

© Maricela Alvarado González

„Ich bin Maricela Alvarado González, Mutter von César Guadalupe Carmona Alvarado, verschwunden am 21. Juni 2011 in San Nicolás de los Garza, Nuevo León. Sohn, ich bete zu Gott, dass ich Dich wiedersehe. Ich suche Dich überall und so werde ich bis zum letzten Moment meines Lebens weitermachen bis ich Dich finde. Deine Familie.“

© Huellas de la Memoria

Maricelas braune Ballerinas mit silbernen Steinchen.

© Huellas de la Memoria

Maricela mit einem Transparent, auf dem César und andere Verschwundene abgebildet sind, während einer Manifestation vor dem Engel der Unabhängigkeit im Herzen von Mexiko-Stadt.

© Maricela Alvarado González

Die Kacheln an der „Mauer der Erinnerung“ unmittelbar nach ihrer Installierung am Eingang der Staatsanwaltschaft.

© Huellas de la Memoria

Ausradiert. Der Eingang der Staatsanwaltschaft am nächsten Tag nachdem die Kacheln entfernt wurden.

© Huellas de la Memoria

Der Screenshot einer Karte von Massengräbern in Mexiko basierend auf Daten von Alejandra Guillén. Die interaktive Karte findet sich hier.

© adondevanlosdesaparecidos.org

Doña Cornelia Guevara vor Transparenten von Verschwundenen. Sie suchte ihren Sohn Oswaldo Espejel, verschwunden am 7. August 2012 in Tecámac im Bundesstaat Mexiko, und wurde deswegen am 15. Januar 2016 ermordet.

© Huellas de la Memoria

„Mit diesen Schuhen suchte Cornelia Guevara nach ihrem Sohn Oswaldo Espejel Guevara, der am 7. August 2012 in Tecamac im Bundesstaat Mexiko, verschwand. Bruder, ich werde nie müde, nach Dir zu suchen. Mami wurde nie müde, zu laufen und nach Antworten zu suchen, bis sie am 15. Januar 2016 ermordet wurde. Sie liebt Dich, Elizabeth.“

© Huellas de la Memoria

Braulia Jaimes sucht seit über 50 Jahren ihren Mann Epifanio Avilés, der neben ihr auf dem Foto zu sehen ist.

© Huellas de la Memoria

„Ich heiße Braulia Jaimes, ich suche meinen Mann Epifanio Avilés, verschwunden am 19. Mai 1969 in Ciudad Altamirano, Guerrero. Die Verantwortlichen für sein gewaltsames Verschwinden sind General Miguel Bracamontes, Arturo Acosta Chaparro und Miguel Nazar Haro. Epifanio, ich habe nach Dir gesucht und werde mit aller Kraft weitersuchen, bis ich Dich finde.“

© Huellas de la Memoria

Alfredo kurz vor der Eröffnung der Ausstellung „Huellas de la Memoria“ im Fenster zur Stadt in Nürnberg.

© NMRZ

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