Interview mit Prof. Dr. Armin Scherb

9. Juli 2020 | Von | Kategorie: Menschenrechtsbildung

Professor Dr. Armin Scherb war bis vor kurzem als Politikwissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Wir interviewten ihn zu seiner langjährigen Beschäftigung mit der Theorie und Praxis der Menschenrechtsbildung. Die Fragen stellte Otto Böhm.

 

Sehr geehrter Herr Scherb, Sie leben in Arberg bei Ansbach. Der Ort ist in Bayern und Franken bekannt, weil dort in der Nazizeit die katholische Bäuerin Kreszentia Hummel ein jüdisches Mädchen, Charlotte Neuland (Knobloch), versteckt und damit gerettet hat. Frau Knobloch ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
Sie haben in der neuesten Ausgabe von Forum Politikunterricht ein Bildungsprojekt vorgestellt, das daraus entstanden ist. Können Sie uns das Projekt für die politische Menschenrechtsbildung kurz skizzieren und empfehlen?  

Kreszentia Hummel war in Nürnberg die Haushälterin des Onkels von Charlotte Neuland. Über den Kontakt zu seinem Bruder gelang es Charlottes Vater Fritz Neuland -einem Münchner Rechtsanwalt- seine Tochter zu Kreszentia Hummel nach Mittelfranken zu bringen. So nahm Kreszentia Hummel im Sommer 1942 Charlotte in ihre Obhut. Für die Arberger Bevölkerung gab sie das damals neunjährige Mädchen als ihr uneheliches Kind aus. Nur der Ortspfarrer Josef Scheiber, dem sich Kreszentia Hummel anvertraute, kannte die wahre Geschichte. Nach Kriegsende konnte Fritz Neuland seine Tochter wieder mit nach München nehmen. Kreszentia Hummel verstarb im Jahr 2002. Sie wurde posthum als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Dabei handelt es sich um einen Ehrentitel, den der Staat Israel nichtjüdischen Personen verleiht, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ein hohes persönliches Risiko eingegangen waren, um Juden vor dem Holocaust zu bewahren. Kreszentia Hummels Name findet sich seither auf den Tafeln der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Das in diesem Zusammenhang entwickelte Konzept einer Regionalisierung der Menschenrechtsbildung sieht u.a. die Einrichtung einer Bildungsstätte im renovierten Arberger Torturm vor, die den Bogen über die historische Besonderheit Arbergs zu aktuellen Menschrechtsfragen spannt. Dabei wird auf die Anschlussfähigkeit an die zahlreichen Nürnberger Aktivitäten großen Wert gelegt. Die FAU veranstaltet in diesem Zusammenhang bereits seit sechs Jahren in Kooperation mit der Akademie für Politische Bildung Tutzing und mit Förderung der Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken regelmäßig Seminare im Evangelischen Bildungszentrum Hesselberg. Derzeit laufen auch Erfolg versprechende Initiativen, die Ausstellung „Der Hesselberg – (un)heiliger Ort der Täter“ dauerhaft im Evangelischen Bildungszentrum zu installieren. Dieses Projekt einer Regionalisierung der Menschenrechtsbildung soll vor allem Schulen erreichen und auch der regionalen LehrerInnenfortbildung zur Verfügung stehen.

Sie haben als Professor für Didaktik der Sozialkunde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gelehrt und Lehrerinnen und Lehrer für die verschiedenen Schulgattungen ausgebildet. Dabei war die Menschenrechtsbildung für sie auch immer ein Anliegen. Sind Sie im Rückblick zufrieden? Ist ihr Engagement erfolgreich gewesen? 

Mein Eindruck ist, dass v.a. meine Sommervorlesung „Wertorientierte Politische Bildung“ mit großem Interesse bei den Studierenden aufgenommen wurde. Ob dadurch eine nachhaltige Bildungswirkung entstanden ist, kann ich nicht sagen. Das herauszufinden wäre vielleicht die Aufgabe eines empirischen Forschungsprojekts z.B. mit einer Befragung der Studierenden, die seit Jahren unterrichten.

Allerdings habe ich als Vorsitzender des Landesverbands Bayern der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung immer wieder darauf hinzuwirken versucht, dass in der ersten Phase der Lehrerbildung eine für alle Studiengänge verpflichtende Veranstaltung zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung verankert wird. Das ist eine Sache, über die ich nicht ganz sine ira et studio sprechen kann:  Mit meinen Kolleginnen und Kollegen habe ich dieses Ziel seit 2010 mit vielen Schriftsätzen und Gesprächen verfolgt. Ich war deshalb auch zu einer Anhörung des Bildungsausschusses im Bayerischen Landtag. Allerdings ist das Vorhaben am Widerstand der CSU-Abgeordneten vorerst gescheitert. Diese hatten sich auf die Stellungnahme eines Referenten aus dem Kultusministerium verlassen, der unser Anliegen wohl nicht verstanden hatte. Er hatte im Ausschuss die Auffassung vertreten hat, dass Demokratiebildung einschließlich Menschenrechtsbildung in der zweiten Ausbildungsphase durch das für alle ReferendarInnen verpflichtende Seminar „Grundfragen der staatsbürgerlichen Bildung“ bereits abgedeckt sei. Mein Nachfolger als Verbandsvorsitzender Professor Gloe (München) will aber am Ball bleiben.

Sie waren auch immer auch in bundesweiten akademischen und fachpolitischen Zusammenhängen aktiv. Auch hier hätte ich gerne ein Fazit zur Menschenrechtsbildung: Sie hat in der außerschulischen politischen Bildung die breite Dynamik entwickelt. Wie hat sich das auf die Fachdidaktik ausgewirkt? 

Da das Thema „Menschenrechte“ in allen Lehrplänen fächerübergreifend, aber vor allem in den Fächern der Politischen Bildung, eine zentrale Stellung einnimmt, gab es immer schon eine enge Verbindung zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik. Mit der kompakten Nürnberger Kompetenz im Rücken (Center for Human Rights Erlangen-Nürnberg CHREN, Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik Bielefeldt, DokuZentrum, Memorium Nürnberger Prozesse, Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg, NMRZ etc.), und auf Grund meiner eigenen wissenschaftlichen Biografie (ich hatte bei Gotthard Jasper über die verfassungspolitische Genese der streitbaren Demokratie promoviert), war es für mich z.B. ein Leichtes, in der Fachdidaktik einen Schwerpunkt auf die Demokratie- und Menschenrechtsbildung zu legen und in der universitären Lehre entsprechend zu berücksichtigen. In der Fachdidaktik haben nach meiner Wahrnehmung mittlerweile viele Kolleginnen und Kollegen den Ball aufgenommen. Dabei sind auch einige Vorschläge zu einer kompetenzorientierten Menschenrechtsbildung veröffentlicht worden.  Und: Zuletzt wurden im Zeichen von Corona auch digitale Formate entwickelt. Für die präsenzlose Zeit hat zum Beispiel die Kollegin Sabine Achour von der FU Berlin einige Youtube-Spots für die Online-Lehre entwickelt.

Sie haben ausführlich zum Pragmatismus als begründender Hintergrundtheorie der politischen Bildung gearbeitet. Ein wesentliches Anliegen des Begründers und Stichwortgebers John Dewey war dabei die Überwindung der Grenzen zwischen Schule und Gesellschaft. Was war in dieser Hinsicht Ihr schulpolitisches Hauptkampf-Thema? 

Ein Ziel bestand in der Forderung nach einer Öffnung von Schule zur außerschulischen politischen Lebenswelt. In meiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 2001 hatte ich deshalb vorgeschlagen, „eine wohldosierte Offenheit der Schulgemeinschaft zur außerschulischen Realität“ zu planen. „Wohldosiert“ deshalb, weil die öffentliche Schule nicht dem uneingeschränkten Zugriff der Interessensverbände ausgesetzt werden darf. Noch ein Satz zu Dewey, der diese Offenheit von Schule nicht so verstanden hat, dass die politische und gesellschaftliche Realität als Konzept in der Schule abbildbar ist. Öffnung von Schule hieß für Dewey, strukturelle Ähnlichkeiten zu identifizieren, aber auch die Differenzen deutlich zu machen. Er hat Schule keineswegs als die kleine politische Außenwelt verstanden.

Sie sind gerade eben noch mal in einem Aufsatz in POLIS auf die Frage der “ethischen Minima” in Politik, Gesellschaft und Schule zurückgekommen, mit den Stichworten Verfassungspatriotismus und Zivilreligion. Und Sie haben sich immer wieder zu Themen der “Streitbaren Demokratie” geäußert. Zugespitzt gefragt: Würden Sie in der politischen Didaktik die Menschenrechte eher als Teil  der streitbaren Demokratie oder doch als kritischen Kontrapunkt sehen? Denn auch wenn mit dem Schutz der Würde des Menschen hier die Menschenrechte zwingend in unsere Demokratie eingebaut sind: Ist es nicht doch so, dass die Menschenrechte ihre subversive Kraft “von unten und von außen” entfalten, also durch partikulare Strömungen, die sich um ethische Minima und Gemeinwohl nicht kümmern? 

Die Didaktik der Menschenrechte ist beides: Sie ist sowohl Teil der Streitbaren Demokratie, als auch kritischer Kontrapunkt. Zunächst ist Streitbare Demokratie der Schutzgarant für Grund- und Menschenrechte. Das kommt alleine schon in der Systematik des Grundgesetzes zum Ausdruck, das die individuellen Rechte den Regelungen zur Staatsorganisation voranstellt und durch Artikel 79 Absatz 3 mit einer besonderen Schutzgarantie ausstattet. Andererseits zeigt z.B. die aktuelle Corona-Krise, dass es durchaus ein Spannungsverhältnis gibt, wenn zum Schutze von Leben und Gesundheit eben ein Teil der Grundrechte erheblich eingeschränkt wird. Es signalisiert das immanente Spannungsverhältnis der Streitbaren Demokratie, wenn zum Schutz von Grundrechten Grundrechte eingeschränkt werden. Für dieses Spannungsverhältnis gibt es zahlreiche Beispiele, die alle in der Frage enden, wie weit darf die Freiheit restriktiv geschützt werden, ohne die Freiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Dies Frage stellt eine permanente Kommunikations- und Entscheidungsaufgabe in einer freiheitlichen Demokratie dar. Sie fragen auch nach der „subversiven Kraft“ der Menschenrechte. Wenn wir ein Stückweit von einem Universalitätsanspruch der Menschenrechte ausgehen, dann ist ihre Wahrnehmung in autoritären oder gar totalitären Systemen subversiv. Zumindest verstehe ich so die Position des im Menschenrechtsdiskurs ausgewiesenen Politikwissenschaftlers Rainer Huhle.  Ein anderer Aspekt beträfe wohl eine subversive Kraft der Menschenrechte auch in demokratischen Systemen. Diese geht von extremistischen Milieus aus, die – um in der aktuellen Situation zu bleiben – z.B. über Verschwörungstheorien im Kontext der Corona-Krise Grundrechte für Ziele instrumentalisieren, die überhaupt nicht mit Grundrechten vereinbar sind. Aber darin liegt das Risiko einer freiheitlichen Ordnung. Richard Thoma, der den einschlägigen Kommentar zur Weimarer Verfassung mitgeschrieben hat, konnte dieses Risiko sinngemäß etwa in die Worte kleiden: „Natürlich besteht die Gefahr, dass die Freiheit missbraucht werden kann, wie sonst wäre sie Freiheit.“

Vielen Dank für Ihre ausführlichen Antworten und weiterhin Freude und Erfolg bei Ihrer wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit!

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