Wolfgang Benz (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin (Metropol Verlag) 2020, 328 Seiten

22. September 2020 | Von | Kategorie: Rezensionen

von Otto Böhm

 

Der Zweck dieses Buches ist es – so der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz einleitend – , Machtansprüche und Interessen beim politischen Einsatz des Antisemitismus-Vorwurfs in Deutschland wissenschaftlich aufzuklären und zurückzuweisen. Welche Mächte und Interessen genau damit gemeint sind, bleibt in der Einleitung noch ganz unklar, am ehesten wohl die, die von einem neuem, meist israelbezogenen Antisemitismus sprechen und die Interessen der gegenwärtigen israelischen Regierung vertreten. Die von Benz dazu genannten Streitfälle (Berliner Jüdisches Museum, Antisemitismus-Definitionen, Achille Mbembe, die Bewegung ‚BDS‘ Boycott, Divestment and Sanctions und der ‚islamische Antisemitismus‘) ziehen sich als rote Fäden durch die meisten Beiträge des Bandes. Den meist differenziert politik – und sozialwissenschaftlich kommentierenden Forscherinnen und Forschern, aber auch Pädagogen, geht es darum – im Unterschied zu schnell schießenden Publizisten und Politikern – nicht blind oder nur durchsetzungsorientiert mit dem Antisemitismus-Vorwurf umzugehen und die Meinungsfreiheit gegen zu schnell strafrechtlich oder auf dem Verwaltungsweg eingezogene Grenzen aufrecht zu erhalten.

Wer mit dem aktuellsten Streit beginnen möchte, der sollte den Schlussaufsatz zuerst lesen. Der Frankfurter Friedensforscher Gert Krell, der aus der Internationalen Politik (IP als Fachwissenschaft) kommt, setzt sich differenziert und detailliert mit der Argumentation Achille Mbembes zu Kolonialismus und zum Staat Israel auseinander. Ihm gelingt es auf einer fachwissenschaftlichen Ebene, sowohl die berechtigte (post)kolonialismuskritische Haltung ernst zu nehmen und zugleich Mbembes Blindheit gegenüber dem verteidigungswerten Niveau der demokratischen und menschenrechtlichen Errungenschaften zu zeigen – und das Ganze, ohne Israel und die besetzten Gebiete auszusparen. Die Qualität des Aufsatzes liegt nicht nur in seiner politikwissenschaftlichen Kompetenz, sondern auch in der Integration sozialpsychologischer Gesichtspunkte für kollektive Kampfdynamiken, in diesem Fall zwischen Palästinensern und Israel. Auch gegenüber der BDS-Kampagne plädiert Krell gegen blinde Zurückweisung und für einen differenzierten, nicht-naiven Umgang jenseits einer Rhetorik des Verdachts.

Auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Muriel Asseburg steuert einen informativ-analytischen Beitrag zu BDS in Deutschland bei. Allerdings finden sich in dem Text einige eigenartig missverständliche Formulierungen, zum Beispiel in der Kritik der Definitionen, zum einen der „3-D Test“ Natan Sharanskys: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards gegenüber Israel sind nach dem damaligen (2004) Minister der Sharon Regierung Nachweise einer antisemitischen Haltung; zum zweiten die im Jahr 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verabschiedete und auch in Deutschland quasi-offiziell eingesetzte Definition, die u.a. besagt: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“ Diese beiden Instrumente nennt die Autorin das „Einfallstor“ der Kampagne gegen BDS: „Gemäß den Beispielen der IHRA Arbeitsdefinition kann israelbezogener Antisemitismus unter anderem dann vorliegen, wenn Israel als rassistischer Staat bezeichnet oder Israels Existenzrecht bestritten wird“ (Seite 294). Will sie tatsächlich diese beiden Kriterien zurückweisen?

Ein nicht nur analytisch überzeugender, sondern auch optisch hervorstechender Beitrag (Abdruck der diskutierten Karikaturen z.T. in Farbe) ist die Untersuchung des Passauer Kommunikationswissenschaftlers Thomas Knieper zur Netanjahu-Karikatur von Dieter Hanitzsch in der SZ vom 15. Mai 2018, der ihretwegen von der Süddeutschen Zeitung entlassen worden war. Vor dem Hintergrund der Verlegung der israelischen Hauptstadt nach Jerusalem und des Sieges der israelischen Sängerin Netta im Internationalen Song Contest wurden vom Zeichner die beiden Personen „hybridisiert“, Netanjahu mit den ‚typisch jüdischen‘ Gesichtszügen als Sängerin. Die Bildsprache des Karikaturisten wird umfassend untersucht und am Ende bleibt doch von dem vorschnellen Vorwurf ‚typisch antisemitisch – wie im Stürmer‘ wenig stehen.

Aber was ist mit dem tatsächlichen, unbestrittenen Antisemitismus in deutschen Schulen und auf den Straßen deutscher Großstädte, was ist mit ‚Halle‘? Geht dieses kritische Klein-Klein angesichts der Gesamtentwicklung nicht in die falsche Richtung? So werden mit einem gewissen Recht an dieser Stelle die Vertreter der These des neuen Antisemitismus fragen (damit ist meistens der ‚sekundäre Antisemitismus‘ nach 1945 gemeint, dazu die Fokussierung auf Israel und das Problem feindseliger Äußerungen und Gewalt gegen Juden in Deutschland, oft mit Verweis auf islamische Jugendliche).

Natürlich wird das nicht ignoriert. Peter Wittmann (Projekt ‚Respekt Coaches‘ des BMFFSJ) setzt sich mit der Judenfeindschaft in Schulen im Anschluss an die Untersuchung von Julia Bernstein („Mach mal keine Judenaktion“, Frankfurt 2018) auseinander. Er nutzt auch die beiden genannten Definitionen für die Bildungsarbeit, wie das im Übrigen auch die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) bei ihren Seminaren zur politischen Bildung über israelbezogenen Antisemitismus tut.

Die KIGA, sozusagen das Paradepferd in diesem Arbeitsfeld, ist vertreten durch einen Text ihres mit Mitbegründers Dervis Hizarci, der sich mit dem „Drahtseilakt zwischen rassistischen Zuschreibungen und falscher Toleranz gegenüber Muslimen“ (so der Untertitel seines Beitrages) auseinandersetzt und die KIGA-Arbeit vorstellt.

Warum also dieses Buch? Ist es mehr als eine Dokumentation zu Kontroversen von zerstrittenen Antisemitismus-Spezialisten? Ja, unbedingt für die, die sich gegen Antisemitismus (und ‚gegen Rassismus und Rechtsextremismus‘, wie die Gesamtprojekte meistens heißen) in Deutschland engagieren, die mit Hilfe vieler Detail-Untersuchungen sich selbst weiterbilden können und damit auch in der Bildungsarbeit und öffentlichen Argumentation besser positioniert sind. Wie wäre eine solche Position zu kennzeichnen? Ich lese den Beitrag des Berliner Politikwissenschaftlers Michael Kohlstruck „Zur öffentlichen Thematisierung von Antisemitismus“ als eine solche Positionsbestimmung zur Differenzierung des voreiligen Antisemitismus-Gebrauches:

  • Gegen politische Instrumentalisierung und Deutungsmacht hält er an der Pluralität und Autonomie von gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie zum Beispiel dem Bildungsbereich fest.
  • Als Prinzipien liberaler Rechtsstaatlichkeit sollte die Unterscheidung von Gesinnung und Verhalten aufrechterhalten werden.
  • Nicht jede Äußerung von ‚Antisemitismus‘ sollte schon als Manifestationsform einer essentialistisch gedachten, ewig gleichen, vernichtungswütigen Weltanschauung begriffen werden. Gerade pädagogische Situationen sollten nicht „entkonkretisiert“ und durch Empörung „dramatisiert“ werden.
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