Philipp Kandler: Menschenrechtspolitik kontern. Der Umgang mit internationaler Kritik in Argentinien und Chile (1973–1990), Frankfurt am Main (Campus) 2020. 422 Seiten

3. November 2020 | Von | Kategorie: Rezensionen, Amerika

von Dieter Maier

 

Als Menschenrechtsgruppen und Solidaritätskomitees in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegen Folter und Mord in Ländern wie Argentinien und Chile protestierten („Menschenrechtskritik“), handelten sie als Fürsprecher der Opfer. In ihrem Protest hallten deren Schmerzensschreie nach. Wenn die Diktaturen überhaupt reagierten, war es eine krude Mischung aus Leugnung, Ablenkung oder Verzögerung. Philipp Kandler zeigt in Menschenrechtspolitik kontern, dass hinter diesem unzusammenhängenden Gerede immerhin eine Methode stand, die damals nicht wahrgenommen wurde. Sein Buch untersucht die Reaktion der argentinischen und chilenischen Diktatur auf Menschenrechtskritik.

Beide Diktaturen verteidigten sich durch Leugnen der Tatsachen, Herunterspielen und Relativierung der Vorwürfe, Diffamierung der Kritiker, partielle Zugeständnisse (wie die Besuchserlaubnis für ausländische Delegationen), Imagewerbung und „Universalisierung“. Das Leugnen half ihnen nichts. Sie ließen die Verhafteten verschwinden, aber damit verschwand ihr Problem nicht. Es gab zu viele Zeuginnen und Zeugen der Verhaftungen und Folterungen. All dies zu leugnen, machte unglaubwürdig. Das Herunterspielen („Exzesse“) und Relativieren lief darauf hinaus, dass es schon vor dem angeblichen Rettungsputsch Terrorismus gegeben habe, den das Militär eben bekämpfen musste. Dieses Argument verwischt den Unterschied zwischen staatlichem und nichtstaatlichem Handeln und entlarvt sich schnell als Vorwand. Die Diffamierung der Kritiker war ein durchschaubares Spiel und belegte eher das wahnhafte Selbstverständnis der Diktaturen, für die Kritik nur eine Spielart des Terrorismus sein konnte. Die Imagewerbung war teuer und wirkte hilflos. Am effektivsten waren bezahlte Anzeigen und lancierte Leserbriefe (S. 294). Mit „Universalisierung“ meint Kandler die Taktik, implizit oder explizit einen Teil der Vorwürfe zu akzeptieren, aber zu verlangen, die begangenen Menschenrechtsverbrechen in den Kontext anderer Länder, die es nicht besser machen, zu stellen. Diese Taktik hatte vor allem für Chile einigen Erfolg, dessen Diktator Pinochet stark im Mittelpunkt der Menschenrechtskampagnen stand, sodass die „Universalisierung“ den Fokus verschieben konnte.

Ein ernstzunehmendes Verteidigungsargument von Diktaturen ist deren Verweis auf nationale Souveränität und das Zurückweisen von ausländischer Kritik als Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Als Völkerrechtssubjekte können sich Staaten darauf berufen, solange sie keine internationalen Vereinbarungen zum Menschenrechtsschutz getroffen haben. Als Kommunikationssubjekte sind sie dazu verdammt, ihre Verbrechen zu kaschieren. Westliche Initiativen liefen mit ihren diplomatischen Spielregeln manchmal ins Leere; das Spiegelbild war das Dilemma der Diktaturen, etwas sagen zu müssen, ohne etwas sagen zu dürfen. Es war der zum Scheitern verurteilte Versuch ihrer Pressesprecher und PR-Agenturen, nicht zu kommunizieren. In einem Rundschreiben forderte das chilenische Außenministerium seine Botschaften auf, sich „nicht dazu hinreißen zu lassen, über die Zahl der Opfer, Verfolgungen, angebliche Folter oder Gewalttaten zu diskutieren“. (S. 204) Kandler nennt den diplomatischen Apparat der Diktaturen deren „Dreh- und Schwachpunkt“ (S. 361). Zu dem Diskussionsverbot kamen Aktionen der Geheimdienste Argentiniens und Chiles, die die offizielle Außenpolitik ihrer Länder provokativ sabotierten. Kandler führt einige auf (die Operación Colombo in Chile), ohne sie allerdings genügend auszuleuchten.

Diktaturen, die antraten, um die Politik abzuschaffen, reproduzieren in ihren eigenen Reihen politische Fraktionskämpfe. In lateinamerikanischen Diktaturen besetzt die Marine traditionell die Domäne der Außenpolitik, während das Heer für die Innenpolitik zuständig ist. In Argentinien fiel bei der internen Machtverteilung die Außenpolitik dem Junta-Admiral Massera zu. Ausländische Botschafter gingen bei dringenden Angelegenheiten direkt zu ihm statt zum formal zuständigen Außenminister. Die Oberkommandierenden des Heeres legten sich quer, wo sie konnten. Beide waren für Folter und Mord verantwortlich, aber Massera musste den Mann des „weichen Flügels“ spielen. Pinochet setzte den ihm treu ergebenen Marineoffizier Enrique Valdés Puga als „Wachhund“ (so ein internes US-Dokument) ins Außenministerium und mischte sich regelmäßig in die Außenpolitik ein. Sein Geheimdienst DINA mordete im Ausland, sogar mitten in Washington, D.C., und die Diplomaten mussten sich etwas einfallen lassen, um den Schaden zu begrenzen. Solche internen Machtkämpfe erzeugte dauernde Ambivalenzen, die Kandler durch Dokumente belegt.

Kandler hat mit großer Sorgfalt vor Ort Originalquellen des argentinischen und chilenischen Außenministeriums eingesehen und überzeugend erschlossen. Zudem hat er zahlreiche vom US-Außenministerium freigegebene Dokumente gesichtet. Es füllt mit seiner nun als Buch erschienenen Dissertation (FU-Berlin) eine bisher kaum wahrgenommene Forschungslücke. Er thematisiert die Machtkämpfe innerhalb der Diktaturen und stellt damit die Dokumente in den relevanten politischen Kontext. Allerdings setzt er bei seinen Analysen zu früh an der offiziellen staatlichen Ebene an. Die zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsakteure in den diktatorisch regierten Ländern kommen zu kurz. Die Arbeit der internationalen Menschenrechtsgruppen, die erst durchsetzen mussten, dass ihre Regierungen aktiv wurden, dürfte nicht ausgeklammert werden. Die „Menschenrechtssprache“ (S. 161), die Kandler analysiert, hat sich erst durch diesen Vorlauf artikuliert.

Kandler macht auf einen blinden Fleck von Diktaturen aufmerksam. Sie müssen sich äußern und geraten dabei notwendigerweise ins Stammeln. Wer von „nationaler Realität“ oder der „Seele Chiles“ (S. 325) schwadroniert, wenn ihm Listen von „verschwundenen“ politischen Gefangenen vorgelegt werden, legt einen Offenbarungseid ab. An diesem wunden Punkt setzen Menschenrechtsarbeiterinnen und –arbeiter an. Ihr Ansatz ist die Lücke zwischen dem nach außen gezeigten zivilisatorischen Selbstbild und den realen Verbrechen.

Kandler kommt zu dem Schluss, es sei „schwierig, einen direkten Zusammenhang zwischen Menschenrechtskritik und einer Reduzierung der Repression festzustellen“. Dennoch habe diese Kritik „Schutzräume“ für Menschenrechtsaktivisten geschaffen und die Handlungsfreiheit der Diktaturen eingeschränkt (S. 373). Am Schluss seines Buches zieht Kandler ein Fazit, das über die beiden Einzelbeispiele hinausgeht: „Eine bessere Kenntnis der Argumente und Strategien, die menschenrechtsverletzende Regime anwenden (…), kann dabei helfen, effektiver mit diesen Manövern umzugehen.“ Die Regime, so Kandler, nahmen die „Menschenrechtskritik als potentielle Gefahr für ihre Herrschaft“ wahr (S. 388 f).

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