Cancel Culture als Emanzipationsprojekt?

22. März 2021 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen

Eine Kritik zu Karsten Schubert:
Umkämpfte Kunstfreiheit – ein Differenzierungsvorschlag

Zfmr 2/2020, S. 195 – 204

von Otto Böhm

 

Unter https://verfassungsblog.de/demokratisierung-durch-cancel-culture/ kann eine leicht gekürzte Fassung des Textes abgerufen werden.

Ich möchte mit einem Beispiel beginnen: Die „Community der Schwulen” und Sandra Kegel, FAZ-Feuilleton-Chefin. Kurz zur Erinnerung: Im SZ-Magazin 5 vom 5.2.2021 vom hatten sich 185 „Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht-binär und trans*“ geoutet und mehr Anerkennung gefordert. Kegel kommentierte dieses Anerkennungsdefizit kritisch in einer Art Glosse (FAZ vom 5.2.2021). Gegen ihren Auftritt bei einer SPD-Kulturveranstaltung gab es Proteste des LSVD, die Diskussion während der Veranstaltung wurde zu einer kritischen Abrechnung und Beschimpfung der Autorin (und der SPD) durch Vertreter dieser Community.
Hier ist jetzt erstmal die Unterscheidung („Differenzierungsvorschlag“) von Karsten Schubert nützlich: Die Meinungsfreiheit von Frau Kegel wird nicht angetastet; es gibt keine Maßnahmen; die FAZ ist keine parastaatliche Institution, der Zuschüsse gestrichen würden – Kritik und Gegenkritik eben, das Leben der Meinungsfreiheit.
Warum ist die Empörung dennoch groß? Ist sie nur Ausdruck konservativer Privilegienverteidigung, wie Schubert diese Konstellation nennt? Eine Kampagne, die eine Person ausschließen möchte (nicht aus ihrer Gruppe oder aus der SPD), sondern aus der Öffentlichkeit, das fällt eben doch unter ‚Cancel Culture‘. Denn Sandra Kegel ist jetzt markiert; es ist ein Risiko oder eine Provokation, sie z. B. an die Uni einzuladen. Dafür liefert Schubert, auch wenn er dieses Beispiel noch nicht kannte, die strategische Begründung; und zwar mit einer attraktiven politischen Theorie, die ‚Cancel Culture‘ zu einem emanzipativen, freiheitlichen Handeln umetikettiert.

Karsten Schuberts These

Was als ‚Political Correctness‘, ‚Cancel Culture‘ und ‚Identitätspolitik‘ kritisiert wird, ist aus Sicht des Freiburger Politikwissenschaftlers Teil eines linken, emanzipatorischen. Die Aktionen und Argumente richten sich gegen das als „schädlich“ bezeichnete konservative Projekt. Denn die Konservativen nutzen das Recht auf Meinungs- Kunst- und Wissenschaftsfreiheit als Waffe gegen den Emanzipationskampf von Betroffenen. Das Machtgefüge soll auch mit diskursfremden, aktionistischen Mitteln verschoben werden. Sie sind deswegen für Schubert und für die Akteure legitim, weil die Bereiche Kunst, Kultur und Wissenschaft selbst machtdurchzogen sind; sie sind nicht neutral, sondern Kampfgebiet zwischen Konservativen und Linken. In ihm müssen die Normen zugunsten von Emanzipation und Inklusion verschoben werden. Ein liberales oder konservatives Verständnis von Freiheit und Menschenrechten ist dann per Definitionem gar nicht mehr möglich. Denn der Kampf ist antagonistisch. Es geht um mehr als um einen Differenzierungsvorschlag, es geht um unterschiedliche Ansätze auch von Menschenrechtspolitik. Grundrechte haben dann keinen unbedingten Eigenwert mehr, sondern bekommen ihre Bedeutung als Moment des Kampfes. Soweit Carsten Schuberts Argumentation.

Schuberts These ist Teil einer breit entwickelten politischen Theorie im Anschluss an Antonio Gramsci, Michel Foucault und Chantal Mouffe. Deren antihegemoniales Grundverständnis von gesellschaftlichem Meinungskampf geht davon aus, dass Herrschaft auch in epistemischen und unbewussten Strukturen verankert ist. “Aber das heißt nun nicht, diese Grundrechte abzulehnen und einer rechtlosen Machtpolitik das Wort zu reden.“  (Schubert/zfmr S. 196) Im Gegenteil, sie sind Bestandteil eines radikaldemokratischen Projektes. Es geht darum, den „machtpolitischen Ge- und Missbrauch der Grundrechte von ihrer grundrechtlichen Dimension zu trennen. Sie bedeuten nicht den Zerfall der Demokratie, sondern sie sind ein Schritt in Richtung ihrer vollständigen Realisierung. Die genannten Phänomene sind Teil von emanzipativen Neuregelungen der herrschenden Normen mit dem Ziel einer weniger sexistischen, rassistischen und heteronormativen Gesellschaft.” (zfmr, S. 196).

Kritikpunkt 1

Ein Freund-Feind-Schema entspricht nicht dem menschenrechtlichen Grundverständnis von Demokratie

Trotz der erklärten Stärkung von grundrechtlichen Freiheiten bleibt doch deutlich, dass sie nicht für die gelten, die außerhalb der „demokratischen Pluralität und Inklusivität“ (zfmr, S. 199) stehen, also für die des Rassismus und der Homophobie verdächtigten Konservativen. Die emanzipatorischen Bewegungen und die emanzipatorische Kritik schließen andere Perspektiven als schädlich aus. Aber doch zu Recht, wenn sie rassistisch oder homophob sind, könnte gesagt werden. Aber wer legt das fest? Wer bestimmt die Diskursregeln, wer hat die Definitionsmacht? Offensichtlich die moralisch Überlegenen, die Betroffenen und die Communities. Ich will deren Erfahrungen und Handlungsmotive nicht diskreditieren; ich will aber auf das demokratietheoretische Problem dieser Identitätspolitik aufmerksam machen. Die repräsentative Demokratie soll zu einer radikaldemokratischen werden – mit direkten, digitalen Aktionen und Kampagnen – ein Konzept der ständigen Normverschiebung. Aber welche Normen gelten für die Normdurchsetzung? Hier könnten die vielfachen menschen- und grundrechtlichen Auseinandersetzungen um die Grundfreiheiten nützlich sein, die Schubert hier aber nicht aufgreift.

Kritikpunkt 2

Emanzipation und Privilegien sind zu wenig auf die Dimension ‚Recht‘ bezogen

Emanzipation war vor allem in den Bildungsdiskussionen und Zielsetzungen der so genannten 68er Bewegung der zentrale normative Begriff. Schubert setzt Emanzipation mit „linker Politik“ gleich. Das Kennzeichen des konservativen Projektes sei die Verteidigung von Privilegien, die der Emanzipation im Wege stehen. In menschenrechtlicher Perspektive ist Emanzipation genauer gefasst, zuerst als die Beendigung eines ungleichen Rechtsverhältnisses oder einer Diskriminierung. In bestimmten historischen Kontexten steht er für die Errungenschaft der vollen Freiheits- und Bürgerrechte (Sklavenemanzipation, Judenemanzipation) Darüber hinaus ist Emanzipation kein Begriff in der Menschenrechtsliteratur und -Philosophie, auch nicht in der Menchenrechsbildung. Das hängt damit zusammen, dass es eben die präziseren rechtlichen Begriffe gibt. Deshalb ist Schuberts Leitbegriff für linke Ziele in meinem Verständnis nicht auch schon ein menschenrechtspolitischer Zielbegriff. Menschenrechtspolitik lässt sich nicht unter das linke, emanzipative Projekt subsumieren. Und die zu bekämpfenden Menschenrechtsverletzungen sind auch nicht zuerst die Privilegien, sondern die rechtlichen und materiellen Zustände. Auch wenn diese Zustände durch ‚Privilegien‘ gestützt werden, scheint mir das doch ein etwas schwammiger und beliebiger Kritikbegriff. Ich bin zum Beispiel in einem für deutsche Verhältnisse eher unterprivilegierten Milieu aufgewachsen, im Weltmaßstab aber als weißer, mehr oder weniger gebildeter Mann privilegiert. Welcher Privilegienverlust würde in meinem Fall bei der Durchsetzung welchen Menschenrechtes helfen? Das ist keine rhetorische Frage; aber die Schwierigkeit der Antwort zeigt auf die Problematik des Begriffes ‚Privilegien‘.

Mein kurzes Fazit: Der Konflikt zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten zweier menschenrechtlicher Desiderate, einerseits Kampf gegen Diskriminierungen und andrerseits Einsatz für die Meinungs- Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, sollte diskursiv bearbeitet und nicht durch antihegemoniale Strategien, wie sie Schubert nahelegt, zugespitzt werden.

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