von Dieter Maier
Petra Bonavita hat sich der Erforschung und Überlieferung des Überlebens von Juden während der Hitlerzeit gewidmet, die von ganz unterschiedlichen Menschen und aus unterschiedlichen Gründen von den Nazis gerettet wurden. Ihre Forschungen können z.T. auf http://rettungs-widerstand-frankfurt.de eingesehen werden. Eine eindrucksvolle Geschichte hat sie nun als Buch veröffentlicht.
Jemanden unter der Nazidiktatur zu verstecken und sein Überleben zu sichern, das musste genau geplant werden, mit Verstecken, Decknamen, Codewörtern und Reisebegleitern. Die Rettung des Mädchens Hanna, die Petra Bonavita hier erzählt, verlief allerdings chaotisch. Das jüdische Ehepaar Werner Müller und Adelheid Müller-Hess war dabei unterzutauchen, um einer sich abzeichnenden Deportation zu entkommen. Sie kamen mit ihrem dreijährigen Kind in die Wohnung von Franz Streit, einem ehemaligen „Vagabunden“ (so nannte man damals die Obdachlosen), wo auch die Bildhauerin Hedwig Wittekind anwesend war. Wittekind fragte, wie das Mädchen mit den „ägyptischen Augen“ heißt. Es hieß Hanna. Hanna? Ja, das sei ein russischer Name. Der Name war zu riskant. Von da ab wurde das Kind nur noch „Schätzchen“ gerufen.
Das Ehepaar gehörte zu einer Widerstandsgruppe. Die Frau war Sängerin und an selbstsicheres Auftreten gewöhnt. Sie plauderte ungezwungen mit einem SS-Mann, der sie mit dem Auto mitnahm, und war zu Führers Geburtstag Statistin im „Lohengrin“. Aus Sicherheitsgründen bewegten sich „Schätzchens“ Eltern getrennt. Der Vater flog auf und kam ins KZ, wo er ermordet wurde. Die Mutter gab das Mädchen in Wittekinds Obhut. Dann wurde auch sie verhaftet und ins KZ gesteckt.
Hedwig Wittekind (geb. 1896) wuchs im hessischen Büdingen auf. Ihr Vater war überzeugter Antisemit und trat früh der NSDAP bei. Seine beiden Kinder taten es ihm nach,- Sohn Albrecht, weil er an Deutschlands Erneuerung glaubte, die Tochter wohl eher, um Mitglied der Reichskulturkammer sein zu können, was ihr Ausstellungen ermöglicht hätte. Beide traten früh wieder aus der Partei aus, der Sohn, weil er „vollgesogen mit Hass gegen den Militarismus“ war (S.49). Hedwig Wittekind lehnte sich gegen das provinziell-muffige Elternhaus auf. Sie führte ein Boheme-Leben, rauchte – bei Frauen damals eine Seltenheit – und legte einen Paris-Aufenthalt ein. Sie wählte Berlin statt dem provinziellen Büdingen als Arbeits- und Wohnplatz.
Ihre Kontakte dort waren unkonventionell. Ihr später abgefasster Bericht über die Rettungstat beginnt mit dem Besuch bei einer Kartenleserin. Zentrale Figur ist ein „Vaga, der Vagabund Franz Streit. Die „Vagabunden“ (Obdachlosen) waren in den zwanziger Jahren politisch organisiert, angeführt von standfesten Parteikommunisten. Sie veranstalteten Kongresse und künstlerische Ausstellungen. Streit war begeisterter Radiobastler, was die Partei für die Untergrundarbeit nutzte, und übernahm Kurierdienste. Wittekind musste „Schätzchen“, für da sie keine Essenskarten hatte, und ihre Katzen versorgen. Die Bombenangriffe wurden immer häufiger. Deshalb zog sie mit dem Kind nach Büdingen zurück. Sie richtet sich ein Wohnatelier im gewohnten Stil ein. Das traumatisierte Kind schrie oft. Dann kam ihr Bruder, längst Hitlergegner, zu Besuch, merkte bald, was es mit dem Kind auf sich hatte und sah mit Entsetzen das „Zigeunerlager“, in dem die beiden leben. Im konservativen Büdingen musste das Aufsehen erregen. Er rät seiner Schwester dingend, ins anonymere Berlin zurückzukehren. Hedwig und ihr „Schätzchen“ gehen nach Berlin, wo aber die Bombardierungen immer gefährlicher werden. Die beiden ziehen zurück nach Büdingen. Ein Arzt kommt in die Wohnung, sieht die Unordnung, informiert das Jugendamt, und das weist das Kind in das Kinderheim „Frohkind“ ein. Dort überlebt es bis Kriegsende. Die Berliner Widerstandszelle fliegt zeitgleich mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 auf. Streit wird verhaftet und hingerichtet. Als der Krieg zu Ende ist, ist „Schätzchen“ wieder Hanna. Ihre Mutter hatte einige KZs überlebt und holt sie sich zurück.
Von anderen Rettungsgeschichten gibt es kaum Aufzeichnungen. Jedes Blatt Papier hätte Verhaftung und Tod bedeuten können. Die manchmal sehr freimütige, gelegentlich übungshalber in Französisch geführte Korrespondenz zwischen den Geschwistern Wittekind ist zu einem guten Teil überliefert, Bonavita dokumentiert sie. Hedwig Wittekind hat nach dem Krieg zusammen mit ihrem Bruder ihre und Hannas Geschichte niedergeschrieben. Bonavita fand sie in den Entnazifizierungsakten des Vaters und des Bruders. Dieser literarisch anspruchsvolle Text steht im Zentrum des Buches. Bonavita stellt diesen Bericht in einen historischen Zusammenhang, der bis dahin kaum dokumentiert ist. „Vaga“, seine politisierten Obdachlosen und seine Widerstandsgruppe, die durch einen infiltrierten früheren KPD-Mann aufflog, sind der historischen Forschung fast unbekannt.
„Falls ich eines Tages genug Zeit habe, um gute Portraits zu machen, wird mir alles gelingen. Eines Tages vielleicht wird die Sonne des Glücks über meinem Kopf zu sehen sein“, schrieb Hedwig Wittekind 1941. Dieser Tag kam nie. Bonavita portraitiert in ihrem Buch eine Künstlerin, bei der Mut und Können zusammentreffen. Wittekind lebte im selben Haus wie die Bildhauerin Käthe Kollwitz und arbeitete mit ihr zusammen. Bildhauerei war damals Männersache, sie ist nahe dran an Berufen wie Metallarbeiter und Steinmetz. Wittekind schuf viele Gipsplastiken, den Bronzeguss konnte sie nicht finanzieren und sich deshalb künstlerisch nicht weiterentwickeln. Der Nationalsozialismus blockierte ihre künstlerische Laufbahn, als sie kaum begonnen hatte. Einige ihrer Arbeiten sind im Privatbesitz erhalten, andere nur durch Fotografien, die in Bonavitas Buch reproduziert sind. Zuletzt verdiente sie ein paar Mark durch Modell-Stehen für Kunststudierende und stellte kunstgewerbliche Kleinplastiken her wie Aschenbecher, Weihnachtskrippen oder Tierfiguren.
Ohne Bonavitas beharrliche Recherche für ihr neuestes Buch wäre Hedwig Wittekind eine Eintragung in einem Verzeichnis der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin geblieben. Nun hat sie ein Gesicht. Die Bildhauerin starb 1949 an einem „Unfall mit Leuchtgas“, wie es hieß. Es dürfte Suizid gewesen sein.
Geschichte besteht aus Geschichten, die oft voller Ambivalenzen, Unwägbarkeiten und Trivialitäten sind. Ein Berliner Portier war dem Alkohol treuer ergeben als seinem mutmaßlichen Spitzelauftrag.
Vater Wittekind mochte das Spiel mit der „ägyptisch“ aussehenden Hanna durchschaut und geschwiegen haben. Nachbarn denunzierten das Mädchen nicht. Die Fürsorgerinnen des Jugendamtes, die „Schätzchen“ aus der unordentlichen Atelierwohnung geholt hatten, mochten es vorgezogen haben, nicht so genau nachzufragen, und ebenso das Kinderheim. Und ohne die Wahrsagerin wäre vielleicht alles anders verlaufen. „Die wunderbare Rettung“, so der Titel des Berichts der Geschwister Wittekind, hat keine Helden, aber genügend Sonderlinge und Menschen mit Gewissen und Mut.
Dieter Maier
Bonavita, Petra: Die Bildhauerin und das Kind : die wunderbare Rettung eines kleinen jüdischen Mädchens durch Hedwig Wittekind. Stuttgart, Schmetterlingverlag 2021.