von Natalie Lorenzen
Hinweis: Dieser Artikel behandelt extreme Themen. Im Folgenden werden die Themen Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung und Mord an Frauen behandelt. Bei einigen Leser*innen könnte das Trauma hervorrufen.
Begriffsbestimmung Femi(ni)zid
Für die weitere Auseinandersetzung ist eine nähere Begriffsbestimmung notwendig, denn die Begriffe „Femizid“ und „Feminizid“ werden in der Wissenschaft, in der Politik sowie immer mehr in den Medien und der breiten Gesellschaft verwendet. Dabei benutzen einige Menschen die zwei Begriffe als Synonyme, während andere die Begriffe klar voneinander trennen. Der Begriff Femizid wurde in den 1970er-Jahren von der Soziologin Diana Russell ausgearbeitet. Er soll sich vom neutralen Begriff Totschlag/Mord (engli. „Homicide“) abgrenzen. Ihr Ziel war es, mithilfe des Begriffs auf die spezifische Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Das patriarchale System, welches dazu führt, dass Frauen zu Opfern werden, wird dadurch angeprangert.[3] In den 1990er-Jahren entwickelte Marcela Lagarde, gemeinsam mit anderen lateinamerikanischen Aktivist*innen, Russells Begrifflichkeit weiter und plädierte für den Begriff „Feminizid“. Dieser deutet auch auf die Tötung einer Frau aufgrund ihres Frau-Seins hin. Dies inkludiert eine gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber Frauen innerhalb des Patriarchats. Hinzu kommt jedoch noch ein weiteres Element: das staatliche Versagen bei der Aufklärung bzw. die Duldung der Verbrechen durch den Staat. Die Einordnung dieser Verbrechen in ihren sozialen Kontext, der vom patriarchalen Herrschaftssystem durchzogen ist, sei essenziell und zeigt nach Lagarde, dass es „in einem solchen Klima […] ein klares Fehlen demokratischer Rechtsstaatlichkeit in Bezug auf Frauen“ (NL)[4] gebe. Durch die Straflosigkeit und das Desinteresse des Staates wird es nach Lagarde zu einem Staatsverbrechen.[5] In der folgenden Auseinandersetzung wird daher immer der Begriff Feminizid verwendet,[6] außer es geht um den rein juristischen Straftatbestand Femizid.
Straftatbestand Femizid
14 der 25 Länder mit den höchsten Feminizidraten weltweit befinden sich in Lateinamerika und der Karibik. Aus dieser erschreckend hohen Quote ergibt sich die Inter-American Convention on the Prevention, Punishment, and Eradication of Violence against Women (1994), bekannt als Convention de Belém. Diese ist die weltweit erste Konvention zum Schutz von Frauen, die rechtlich bindend ist und jede Form von Gewalt gegen Frauen kriminalisiert. Das Expert*innen-Komitee der Convention de Belém definiert Feminizid als:
„„die gewaltsame Tötung von Frauen aufgrund ihres Genders, unabhängig davon, ob sie innerhalb der Familie, einer häuslichen Partnerschaft oder einer anderen zwischenmenschlichen Beziehung, in der Gemeinschaft, durch eine beliebige Person oder wenn sie vom Staat oder seinen Vertretern durch Handeln oder Unterlassen begangen oder geduldet wird.” (NL)[7]
Die frühe Entwicklung des internationalen Rechts im Bereich Femizid in Lateinamerika führte dazu, dass sich der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte dem Thema annahm. Im Fall González et al. v. Mexico („Cotton Field“) verurteilte das Gericht 2009 zum ersten Mal einen Staat aufgrund des Tatbestandes des Femizids. In Mexiko verschwanden drei junge Frauen auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Den Sorgen ihrer Bekannten wurde keine Beachtung geschenkt und der Staat begann keine Ermittlungen. Die drei Frauen und fünf weitere wurden ermordet in den Baumwollfeldern von Ciudad Juárez aufgefunden. Die Ermittlungen wiesen vielschichtige Mängel auf, die offiziellen Stellen bedrohten die Angehörigen und forderten sie vielfach dazu auf, ihre Klagen zurückzuziehen. Die Familien klagten schließlich vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, welche die Klage an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergab. Dieser entschied, dass der Staat Mexiko gegen mehrere Artikel der Amerikanischen Menschenrechtskonvention sowie gegen einen Artikel der Convention de Belém verstieß. Durch dieses Urteil erkannte das regionale Menschenrechtsgericht zum ersten Mal an, dass die Frauen aufgrund ihres Geschlechts umgebracht wurden und es sich daher um geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen handelte.[8] Gleichzeitig entschied das Gericht damit, dass Mexiko diese Gewalt nicht spezifisch vorgebeugt und sie nicht angemessen bestraft hatte.[9] Die hohe Bedeutung des Gerichtsurteils ist, dass es erstmals die staatlichen Pflichten zur Verhinderung ‚privater‘ Gewalt gegen Frauen definierte.
Nach dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 begannen viele lateinamerikanische Staaten Femizid als Straftatbestand in ihre nationalen Gesetze aufnehmen.[10] Argentinien modifizierte das Bundesstrafgesetzbuch 2012 und führte den Begriff durch das Gesetz 26.791 ein: In diesem legt es fest, dass u.a. mit lebenslanger Haft bestraft wird, wer seinen (Ex-)Ehepartner oder die Person, mit der er eine Partnerbeziehung unterhält oder unterhalten hat, tötet. Laut Gesetz liegt dies vor, wenn die Tat von einem Mann gegen eine Frau verübt wird und geschlechtsspezifische Gewalt vorliegt. In diesem Fall werden keine mildernden Umstände anerkannt.[11] Es stellt sich die Frage, ob das Schaffen des Straftatbestands ein nützliches Werkzeug gegen den geschlechtsspezifischen Mord an Frauen darstellt. Dazu soll zunächst auf die Kritik am Straftatbestand eingegangen werden, um danach auch die Vorteile zu beleuchten.
Vorteile und Kritikpunkte des Straftatbestandes
Kritisch betrachtet werden muss die bereits erwähnte Unklarheit des Begriffs „Femizid“ und die damit verbundene Problematik für die Rechtsprechung.[12] Dies kann dazu führen, dass die Rechtsprechung die ihr vorliegenden Fälle nicht als Femizid einstuft und dadurch der Straftatbestand ins Leere läuft.[13] Außerdem ist fraglich, ob die reine strafrechtliche Verurteilung der Täter zu einem höheren Schutz für Frauen führt. Denn das große Problem ist regelmäßig nicht die Höhe der Strafe für die Täter, sondern die Straflosigkeit an sich. Diese führt dazu, dass Männer nicht angeklagt oder verurteilt werden und somit die nun per Gesetz höheren Strafen nicht absitzen werden. Die Einführung des Straftatbestands wird daher oftmals eher als Symbolpolitik bewertet. Denn es kann dadurch der Eindruck entstehen, das Problem sei gelöst. Die reine Bestrafung bedeutet regelmäßig keine Prävention. Aktivist*innen fordern daher vielfach, dass das Handeln des Staates nicht rein punitiv sein sollte. So z.B. die mexikanische Aktivistin Aimée Vega: „Was wir sagen ist, dass der Punitivismus nichts lösen wird. Es braucht eine umfassende Veränderung der Struktur des Staates und das ist es, wovor die Regierung Angst hat, vor einer Reinigung von innen.” (NL).[14]
Des Weiteren ist das bedeutendste Problem die Verharmlosung der Situation der Opfer und ihrer Familien durch die Justiz. In Argentinien, das erst seit 1983 wieder demokratisch regiert wird, sind noch immer die Nachwirkungen der Diktaturen und der autoritären Gedankenströmungen in der Polizei, dem Militär und der Justiz zu spüren. Das Fortbestehen dieser Strömungen sowie die anhaltende Korruption und der Machismo[15] in Argentinien führen zu einer geschlechts-diskriminierenden Anwendung des Strafrechts. Deswegen machen Kritiker*innen der Strafrechtsreform darauf aufmerksam, dass ein System, in dem Frauen strukturellen Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch durch die Ausweitung von Strafrechtsnormen nicht den Schutz von Frauen gewährleisten kann.[16] Die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt müssen erst hohe Hürden überwinden, um sich an die staatlichen Stellen zu wenden. Neben der Erkenntnis, dass es sich um Gewalt handelt und diese überhaupt angezeigt werden kann, führen diverse Faktoren dazu, dass Frauen und Angehörige physische, geschlechtsspezifische Gewalt nicht melden.
Häufig wird eine Täter-Opfer-Umkehr durch die Justiz vorgenommen. Das System „re-viktimisiere Frauen, wenn sie Gewalt erleiden“ (NL).[17] Dies wird am Fall Ivana Rosales in Argentinien deutlich: Die Frau, die 2002 von ihrem Mann fast zu Tode erwürgt und Steine auf den Kopf geschlagen bekam, erfuhr im anschließenden Strafprozess zusätzliche institutionelle Gewalt durch den Staat Argentinien. Der Täter stellte sich in der fälschlichen Annahme, seine Frau umgebracht zu haben. Er wurde zwar vom Gericht verurteilt, jedoch fiel das Urteil mit fünf Jahren Haft sehr milde aus, da das Gericht strafmildernd anerkannte, dass Ivana Rosales ‚eine schlechte Mutter‘ gewesen sei. Während die Frau sich im Krankenhaus befand, lebten die zwei gemeinsamen Töchter weiter bei dem Täter, der die beiden in dieser Zeit vergewaltigte. Für die Tat und das Ausbleiben von Unterhaltszahlungen in diesem Zeitraum wurde jedoch Ivana Rosales verurteilt. Der Täter floh vor Beginn seiner Haftstrafe und keine staatlichen Bemühungen wurden getätigt, um ihn vor der Verjährungsfrist zu finden, sodass er keinen einzigen Tag seiner Haft absaß. Die strukturelle Gewalt, die Ivana Rosales durch den Staat Argentinien und die Provinz Neuquén erfuhr, wurde 2005 vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte gebracht. Hier wurde im Jahr 2019 mit der Provinz eine freundschaftliche Einigung erzielt. In der Folge wurden vielfache Änderungen im Regierungsbezirk vorangebracht. Eine Einigung mit dem Staat Argentinien steht noch aus.[18] Dieser Fall zeigt deutlich die Straflosigkeit durch die Justiz und die Reproduktion geschlechtsspezifischer Unterdrückung und Benachteiligung. Insofern ist die Kritik an der erhofften Verbesserung der Situation der argentinischen Frauen durch die Einführung des Straftatbestands Femizid gerechtfertigt.
Gleichzeitig erlaubt der Straftatbestand auf das strukturelle Problem aufmerksam zu machen. Durch die Aufnahme des Femizids in das Strafgesetzbuch wird deutlich, dass Frauen einer anderen Art des Risikos ausgesetzt sind und dass sie aufgrund dessen einem anderen Schutz durch den Staat bedürfen als Männer. Die Erkenntnis, dass eine große Differenz der Todesursachen und des Beziehungsverhältnisses zum Täter existiert, ermöglicht es der Gesellschaft und den individuellen Opfern, einen Gesinnungswandel zu erfahren. Durch die strafrechtliche Reform sind mediale und justizielle Formulierungen wie ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ und der strafmildernde Umstand des ‚Zustands gewaltsamer Erregung‘ nicht mehr anwendbar. Die Bestrafung der Täter im Rahmen eines anderen justiziellen Maßstabes nimmt die Schwere der Schuld auf und verdeutlicht das gesellschaftliche und strukturelle Problem. Des Weiteren ist ein wichtiger Vorteil an der Existenz des Femizids die statistische Dokumentation. Das Verhalten der Polizei bei einem Mord verlangt nun eine verstärkt geschlechtssensible Betrachtung der Einzelheiten des Verbrechens. Dies führt dazu, dass Zahlen von staatlicher Seite aufgenommen werden, die vorher nicht zur Verfügung standen. Sie sind wichtig für Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft, um mit diesen Zahlen Druck auf die Regierung auszuüben.
Ni Una Menos
Der Druck durch Nichtregierungsorganisationen ist in Argentinien seit 2015 deutlich gestiegen. Aus dem Protest gegen die hohen Feminizid-Zahlen bildete sich ein Kollektiv aus Journalistinnen, Aktivistinnen und Akademikerinnen, die im Juni 2015 unter dem Motto „Ni Una Menos“, zu Deutsch „Nicht eine weniger“, zu landesweiten Proteste aufriefen.[19] Ausgelöst durch einen erneuten Feminizid versammelten sich am 3. Juni 2015 allein in Buenos Aires bis zu 200.000 Menschen.[20]
Die feministische Bewegung, die sich im Rahmen dieser Proteste bildete und sich unter dem Hashtag #NiUnaMenos zusammenfindet, prangert Gewalt gegen Frauen, Misogynie und Feminizide an. Die junge Gruppierung fordert vor allem die Prävention, Beseitigung und Sanktionierung der Gewalt gegen Frauen. Um diese Ziele zu erreichen, soll Sichtbarkeit auf das Problem gelenkt werden und auf die Legislative eingewirkt werden. Die Gruppierung übt zudem Kritik an den strukturellen Faktoren des Problems[21] sowie an medialen Euphemismen: Das Framing in den Medien ermöglicht die Verbindung von geschlechtsspezifischer Gewalt und Herrschaftsstrukturen. Ni Una Menos versucht, durch Proteste, Manifeste und Schul- sowie Erwachsenenbildung ein Umdenken in der Gesellschaft voranzubringen. Die Bewegung ist durch ihren Anspruch als Graswurzelbewegung basisdemokratisch organisiert und ermöglicht daher ein überwiegend loses Netzwerk zwischen den regionalen Gruppierungen. Organisationen und Mitglieder verschiedener Parteien haben sich der Bewegung angeschlossen und vor allem junge Menschen partizipieren. Die Bewegung internationalisierte sich schnell und breitete sich auf die Nachbarländer Argentiniens aus. Inzwischen ist es die größte feministische Bewegung Lateinamerikas. Insbesondere dem Internet und den sozialen Medien verdankt Ni Una Menos diese Internationalisierung:[22] Sie ermöglichen die Mobilisierung und die Vernetzung auf einer großen Skala. Als Weiterentwicklung feministischer Strömungen versteht sich die Ni Una Menos-Bewegung intersektional. Damit ist die Berücksichtigung und Anerkennung von Überschneidungen verschiedener Diskriminierungsformen wie u.a. Geschlecht, Einkommen oder rassistischer Zuschreibungen gemeint. Die Bewegung vereint unter ihrem Banner bewusst Menschen mit unterschiedlichen subjektiven Erfahrungen und wird daher als 4. Welle der Frauenbewegung (Rosa Cobo Bedia, 2019) betitelt.
Die ‚Macht der Straße‘
Die riesige Bewegung, die aus dem argentinischen Kollektiv entstand, traf sich auf der Straße und übte durch lautstarke Proteste oder nationale Streikaktionen Druck auf die Politik aus. Der feministische Aktivismus und die Präsenz von Ni Una Menos haben in Argentinien bereits einige Erfolge verzeichnen können. So haben sie vorrangig durch Agenda-Setting das Thema Feminizid und Gewalt gegen Frauen sichtbarer machen können. Der Präsidentschaftswahlkampf in Argentinien wurde 2015 und vor allem 2019 stark von dieser Bewegung beeinflusst. Durch die Öffentlichkeitsarbeit von Ni Una Menos wird geschlechtsspezifische Gewalt aus der sozialen Unsichtbarkeit geholt und als alltägliches Phänomen skandalisiert. Insbesondere die gesellschaftliche Überzeugung, dass Gewalt in Intimbeziehungen eine Privatangelegenheit sei, wird hinterfragt. Denn diese Gewalt wird der öffentlichen Sphäre zugeordnet und staatliche Intervention damit ermöglicht. Ni Una Menos schafft es, den Diskurs zu beeinflussen: die Medien, die den Begriff Feminizid lange nicht anerkannt haben, nutzen diesen nun vermehrt. Damit verschieben sich die Möglichkeiten und das Denken rund um den Straftatbestand Femizid, der nicht länger als ‚Verbrechen aus Leidenschaft‘ abgetan wird.
Zudem ist ein Erfolg der Bewegung, dass sie bei Frauen das Bewusstsein schafft, dass gewalttätige Handlungen von Männern nicht akzeptabel sind und ein Auflehnen gegen physische und sexuelle Gewalt angebracht ist. Diese genannten Erfolge lassen sich schwer in Zahlen ablesen. Die reellen Zahlen von Feminizid in Argentinien sind in den fünf Jahren der Existenz von Ni Una Menos nicht gesunken. Es ist sogar ein zahlenmäßiger Anstieg bei geschlechtsspezifischen Gewalttaten zu sehen. Dies mag an einer zunehmend erhöhten Sensibilität liegen, die die Gewalttaten erstmals stärker ans Licht bringt. Die kulturellen Veränderungen, die Ni Una Menos in Teilen befördert, werden in Mexiko zudem von einigen Wissenschaftler*innen als Grund für einen sogenannten ‚beleidigten Machismo‘ gesehen, insofern als dass die Gewalt durch Männer durch diese sozio-kulturelle Veränderung befeuert werde. Denn Feminizid deutet auf das Gefühl von Männern hin, die Frauen zu besitzen. Die zunehmende Versubjektivierung von Frauen wirkt dem entgegen und bedroht daher das Fundament der Machismo-Kultur.
Neben der Veränderung des Diskurses und der gesellschaftlichen Akzeptanz für geschlechtsspezifische Gewalt hat die ‚Macht der Straße‘ in Argentinien zudem legislative Veränderungen hervorgerufen. Obwohl Femizid bereits 2012 ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, begannen erst 2015 die staatlichen Erhebungen zu Feminiziden. Bislang wurde dies durch Nichtregierungsorganisation, zuvorderst seit 2008 von La casa del encuentro, zu Deutsch Das Haus der Begegnung, geleistet. Diese zählten die Feminizide anhand von Medienberichten. Die ohnehin hohe Dunkelziffer wird anhand dieser Zähltechnik erhöht. Die staatlichen Erhebungen waren ein direktes Resultat des Engagements von Ni Una Menos. Außerdem wurde 2018 das ‚Ley Brisa‘[23], zu Deutsch Gesetz Brisa, in Argentinien verabschiedet. Danach erhalten Kinder, deren Mütter Opfer eines Femizids geworden sind, eine monatliche finanzielle Entschädigung sowie kostenlosen Zugang zu medizinischer und psychologischer Gesundheitsversorgung.[24] 2019 wurde im ‚Ley Micaela‘[25], zu Deutsch Gesetz Micaela, eine obligatorische Weiterbildung für Beamt*innen zu Gewalt gegen Frauen eingeführt. Das Vorverhalten bei Partnerschaftstötungen ist oftmals gleich. Es ist eine große Chance im Kampf gegen Feminizide, die Spirale, die meistens mit häuslicher Gewalt beginnt, zu erkennen. Die Sensibilisierung der Polizei und Justiz kann durch Schulungen und Fortbildungen erreicht werden. Außerdem wurde 2019 ein Aktionsplan gegen Gewalt gegen Frauen fertig gestellt, der durch Ni Una Menos und das Büro des Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte erarbeitet wurde. Hier zeigt sich die breite Unterstützung der Arbeit und Forderungen von Ni Una Menos durch die Vereinten Nationen.
Zuletzt wurde der Erfolg der ‚Macht der Straße‘ im Dezember 2020 deutlich: Nach jahrelanger Anstrengung von Seiten unterschiedlichster feministischer Bewegungen in Argentinien liberalisierte der Staat die Gesetzeslage zu Schwangerschaftsabbrüchen. Im Vorfeld gab es in dem weiterhin sehr katholisch geprägten Land bis zu 500.000 illegale Abtreibungen jährlich, bei denen Komplikationen häufig tödlich endeten. Nun dürfen Ärzt*innen Abtreibungen nicht mehr verweigern und die Kosten für die Abtreibungen trägt zudem das öffentliche Gesundheitssystem. Es bleibt zwar abzuwarten, inwiefern die gesetzlichen Neuerungen die Gesetzesrealität verändern werden, dennoch zeigt sich hier, dass die Beeinflussung des Diskurses und der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 deutliche Spuren hinterlassen hat. Die Entkriminalisierung von Abtreibungen war ein Wahlversprechen des linksgerichteten Präsidenten Alberto Fernández. Dieser schuf zudem nach seinem Amtsantritt ein neues Ministerium: Das Ministerium für Frauen, Gender und Diversität, welches u.a. eine Nothotline für Gewaltopfer anbietet und durch Bildungskampagnen einen gesellschaftlichen Wandel hervorzurufen versucht.
Debatte: Femizid oder ‚Macht der Straße‘
Trotz all dieser Erfolge bleiben geschlechtsspezifische Diskriminierung und Unterdrückung in Argentinien weiterhin große Probleme. Das anhaltende Desinteresse vieler staatlicher Behörden für die Belange von Frauen sowie fehlende Kapazitäten führen dazu, dass die Zahl der Feminizide in Argentinien hoch bleibt. Vielerorts werden Feminizide weiterhin nicht ernst genommen. Die daraus resultierende Straflosigkeit begünstigt Nachahmtaten und verstärkt die Schutzlosigkeit der Frauen. Oftmals existieren z.B. Kontaktverbote, die jedoch nicht kontrolliert werden und damit ineffektiv bleiben. Diese erfahren aufgrund des Machismos, der überwiegenden Anzahl von Männern in Polizei, Justiz und Behörden zudem strukturelle Gewalt, bei der nicht selten eine Opfer-Täter-Umkehr stattfindet. Um diesen Menschenrechtsverletzungen entgegenzuwirken, ist ein Bewusstseinswandel wichtig.
Das Strafgesetz sorgt dafür, dass der Mord an Frauen statistisch aufgenommen werden kann. Es ist insofern der große Vorteil des Gesetzes, dass es einen Rahmen erzeugt, in dem fundiert über diese Verbrechen gesprochen werden kann. Die Existenz des Gesetzes schafft zudem eine Struktur, die den Staat verpflichtet, Kapazitäten aufzubauen, die Justiz und die Polizei zu schulen. Insofern ist es nicht die Höhe der Strafe, die bei der Bekämpfung der Verbrechen hilft, sondern vielmehr der Rahmen, der die Gewalt sichtbar macht und der Polizei sowie der Justiz Werkzeuge gibt, um die spezifische Gewalt zu erkennen und zu adressieren. Daher sind für den Erfolg der Strafrechtsnorm vor allem die Begleitregelungen relevant. Diese variieren in den Ländern weltweit und können im Bereich der Justiz etwa aus extra Gerichtsabteilungen für Femizide oder prozessualer Begleitung der Opfer und anderer Aussageregelungen zum Opferschutz bestehen. Ebenso möglich sind Ermittlungseinheiten aus Frauen bzw. die Besetzung von Polizei-Stationen nur aus Frauen. Die Anerkennung geschlechtsspezifischer Mordmotive ermöglicht zudem eine Perspektive, die eine Analyse der verschiedenen Ursachen erlaubt. Diese ist für die Schaffung anderer politisch-legislativer Rahmen notwendig: So ist zum Beispiel im Ley Brisa ein festgestellter, geschlechtsspezifischer Mord die Voraussetzung für die finanzielle Unterstützung der Kinder.
Gleichzeitig muss bedacht werden, dass die Aufnahme des Femizids nicht die reelle Situation der Frauen in Argentinien verändert hat. In Deutschland existiert kein Femizid-Tatbestand im Strafgesetzbuch und auch wenn darüber gelegentlich debattiert wird, sprechen sich viele (Straf-)Rechtler*innen dagegen aus.[26] Ihnen zufolge wird die Anwendung der Gesetze und das Umdenken der Gesellschaft nicht bloß durch eine Erhöhung der Strafrechtsnormen vorangebracht. Dies wird auch im Fall Argentiniens ersichtlich: Denn dort wurden existierende Gesetze nicht angewandt und da auch die Politik scheiterte, ihren Auftrag umzusetzen, wurde in Argentinien 2015 die Zivilgesellschaft aktiv. Das Aufbegehren der argentinischen Frauen und die schnelle Internationalisierung deuten ebenso wie die steigenden Beschäftigungsraten von Frauen auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation hin. Die Gewährleistung der Anwendung geschlechtssensibler Gesetze erfordert darüber hinaus eine Veränderung der Zusammensetzung der Beschäftigten in Justiz und Polizei. In Argentinien, wo der Machismo so stark in der Gesellschaft verankert ist, braucht es Zeit und Beharrlichkeit, um den Anteil an Frauen in diesen Instanzen zu erhöhen.
Es ist neben den bereits erwähnten Erfolgen von Ni Una Menos darauf hinzuweisen, dass durch die Bewegung Frauen in den Medien anders gezeigt werden: Sie sind nicht mehr nur Objekte der Schönheit und Begierde oder nur Opfer, sondern pro-aktive Subjekte, die Aufmerksamkeit einfordern. Die Forderungen beschränken sich nicht nur auf eine Anwendung der bestehenden Gesetze, sondern umfassen auch geschlechtsspezifische Bildung und Erhöhungen des staatlichen Budgets für die Bekämpfung der Frauenrechtsverletzungen. Ohne einen gesellschaftlichen Wandel, der die Strafrechtsnorm umsetzt, kann Femizid als Straftatbestand daher seine Wirksamkeit abgesprochen werden. Femizid als Straftatbestand im nationalen Recht ist jedoch wichtig und kann positive Effekte haben, solange er von einem strukturellen Wandel begleitet wird. Insgesamt zeigt die Situation in Argentinien, dass der Kampf gegen Machismo und strukturelle, geschlechtsspezifische Gewalt auf vielen Ebenen geführt werden muss.
Literaturverzeichnis
Fregoso, Rosa-Linda; Bejarano, Cynthia (2010): Introduction: A Cartography of Feminicide in the Américas. In: Rosa-Linda Fregoso und Cynthia Bejarano (Hg.): Terrorizing Women: Feminicide in the Americas: Duke University Press, S. 1–44.
Lagarde y de los ríos, Marcela María (2010): Preface: Feminist Keys for Understanding Feminicide: Theoretical, Political and Legal Construction. In: Rosa-Linda Fregoso und Cynthia Bejarano (Hg.): Terrorizing Women: Feminicide in the Americas: Duke University Press, S. xi–xxvi.
Ni Una Menos: Carta organica. Online verfügbar unter http://niunamenos.org.ar/quienes-somos/carta-organica/, zuletzt geprüft am 21.03.2021.
Pierobom de Ávila, Thiago (2018): The criminalisation of femicide. In: Kate Fitz-Giboon, Sandra Walklate, Jude McCulloch und JaneMaree Maher (Hg.): Intimate Partner Violence, Risk and Security: Securing Women’s Lives in a Global World. London: Routledge, S. 181–198.
Sarmiento, Camilo Bernal; Acosta, Miguel Lorente; Roth, Francoise; Zambrano, Margarita (2014): Latin American Model Protocol for the investigation of gender-related killings of women (femicice/feminicide). Hg. v. United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) and UN Women. New York.
+ Die Online-Quellen in den Fußnoten.
[1] https://www.statista.com/statistics/1102291/share-femicides-argentina-crime-scene/, zul. abgerufen 23.03.2021.
[2] Bei Männern ist das bei jedem zwanzigsten ermordeten Mann der Fall, vgl. Pierobom de Ávila 2018, S. 181.
[3] Vgl. Sarmiento et al. 2014, S. 13.
[4] Original: “in such a climate, there is a clear absence of democratic rule of law in relation to women“ Lagarde y de los ríos, Marcela María 2010, S. xxi.
[5] Vgl. Sarmiento et al. 2014, S. 13.
[6] Einige Wissenschaftler*innen führen zudem aus, dass der Begriff Feminizid die Entwicklung des Begriffes vom globalen Norden zum globalen Süden beinhaltet. Es werde bei der Nutzung des Begriffs Feminizid das Nord-Süd-Gefälle in der Wissenschaft hinterfragt und die Produktion von Theorien im globalen Süden anerkannt, vgl. Fregoso und Bejarano 2010, S. 5.
[7] Original: “the violent death of women based on gender, whether it occurs within the family, a domestic partnership, or any other interpersonal relationship; in the community, by any person, or when it is perpetrated or tolerated by the state or its agents, by action or omission.”, zit. n. Pierobom de Ávila 2018, S. 181.
[8] https://blogs.lse.ac.uk/vaw/landmark-cases/a-z-of-cases/gonzalez-et-al-v-mexico/, zul. Abgerufen 23.03.2021.
[9] Vgl. Pierobom de Ávila 2018, S. 181.
[10] 2018 hatten 16 lateinamerikanische Staaten Femizid in ihr nationales Recht inkorporiert.
[11]http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/205000-209999/206018/norma.htm, zul. Abgerufen 08.05.2021.
[12] Vgl. Pierobom de Ávila 2018, S. 186f.
[13] Die Feststellung einer ‚geschlechtsspezifischen‘ Tat ist etwas im Kern Soziologisches. Für eine Straferhöhung ist nach dem individuellen Schuldgrundsatz eine individuell höhere Schuld im Vergleich zum Mord notwendig. Diese festzustellen ist für Gerichte vielfach schwer und führt zu vielen ‚verlorenen‘ Femizid-Fällen.
[14] Original: “Lo que decimos es que el punitivismo no va a resolver nada, se requiere un cambio integral en la estructura del Estado y a eso le teme el gobierno, a la depuración desde adentro”, https://nacla.org/news/2020/03/04/la-inacci%C3%B3n-del-gobierno-ante-feminicidios, zul. Abgerufen am 11.05.2021.
[15] Als Machismo wird die Kultur der männlichen Dominanz in Lateinamerika bezeichnet. Dieses patriarchale Dominanzgebaren existiert auch in vielen anderen Kulturen weltweit. Es zeichnet sich jedoch in Lateinamerika vor allem durch die Glorifizierung von männlicher Gewalt aus.
[16] Vgl. Pierobom de Ávila 2018, S. 187.
[17] Original: “revictimizes women when they suffer violence”, Pierobom de Ávila 2018, S. 187.
[18] https://www.cels.org.ar/web/2020/09/a-tres-anos-del-fallecimiento-de-ivana-rosales-avanza-la-solucion-amistosa-ante-la-cidh/, https://prensaobrera.com/mujer/neuquen-a-tres-anos-del-fallecimiento-de-ivana-rosales/ , zul. Abgerufen 22.03.2021.
[19] Zwei weitere wichtige Sprüche für die Bewegung sind zudem: „Vivas nos queremos“ (Wir wollen leben) und „Nos estan matando“ (Sie bringen uns um).
[20] Der argentinische Aktivismus von Ni Una Menos sieht sich selbst in Teilen als Nachfolger*innen der Madres de la plaza de Mayo, die am gleichen Ort einen Meilenstein für weiblichen Aktivismus in Lateinamerika legten, vgl. Ni Una Menos, S. 1.
[21] « Este movimiento quiere permear las bases de la desigualdad, y transformarla.“ Ni Una Menos, S. 1 (Zu Deutsch: „Diese Bewegung will die Grundlagen der Ungleichheit durchdringen und sie verändern.“)
[22] Bereits 2015 gründeten sich ähnliche Gruppierungen in Peru, Chile, Uruguay, Brasilien, Polen, Spanien und Deutschland.
[23] Das Gesetz erlangte seinen Namen durch den Fall des dreijährigen Mädchens Brisa Barrionuevo, deren Mutter von ihrem Partner zu Tode geprügelt und in einen Fluss geworfen wurde. Der Fall wurde von aktivistischen Vereinigungen als Anlass genommen, ein Instrument für den Schutz der Kinder in der Legislative zu fordern.
[24] https://www.argentina.gob.ar/reparacion-economica-ley-brisa, zul. Abgerufen 25.03.2021.
[25] Der Name des Gesetzes richtet sich nach Micaela García, die Aktivistin bei Ni Una Menos war und 2017 vor einem Nachtclub vergewaltigt und ermordet wurde.
[26] Dr. Leonie Steinl, Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes, sieht das Fehlen des Femizids nicht als Problem: https://www.sueddeutsche.de/panorama/femizid-gewalt-gegen-frauen-1.4635132, zul. Abgerufen 23.03.2021.