Die Geltung deutscher Grundrechte im Ausland – eine Chance für den Menschenrechtsschutz?

13. Oktober 2021 | Von | Kategorie: Europa

von Lea Dannich

 

Die Frage, ob sich Staaten auch im Ausland an Menschenrechte halten müssen, ist im Kontext von Menschenrechtsverträgen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention oder des UN-Zivilpakts ein viel diskutiertes Thema. Sowohl Akademiker*innen als auch internationale Gerichte und UN-Vertragsorgane haben sich beispielsweise im Zusammenhang mit Pushbacks gegen Flüchtlinge im Mittelmeer, staatlichen Aktivitäten in besetzen Gebieten oder auch militärischen Auslandseinsätzen mit dieser Frage befasst.

Im Gegensatz dazu fand die Frage der extraterritorialen Anwendbarkeit von deutschen Grundrechten bis vor Kurzem kaum Beachtung, obwohl viele der in den Menschenrechtsverträgen niedergeschriebenen Rechte auch durch das Grundgesetz garantiert werden. Seit 2020 befassten sich jedoch drei wichtige Gerichtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) mit der Thematik. Welche Bedeutung haben diese Gerichtsurteile für die Anwendbarkeit deutscher Grundrechte im Ausland? Und welche Chancen ergeben sich daraus für den Schutz von Menschenrechten?

Relevante Fallkonstellationen

Grund- und Menschenrechte können im Ausland auf verschiedene Weisen Wirkung entfalten. Einerseits können sie die Ausübung von Staatsgewalt im Ausland beschränken. Andererseits können sie Staaten jedoch auch zum Schutz vor Verletzungen durch Dritte, insbesondere durch andere Staaten oder Unternehmen, verpflichten. Man spricht hier auch von Abwehrrechten und Schutzpflichten im Rahmen der Grundrechte bzw. der „duty to respect“ und der „duty to protect“, wenn es um Menschenrechte geht.

Ausübung von Staatsgewalt im Ausland

Immer häufiger werden Staaten wie Deutschland nicht nur auf ihrem eigenen Gebiet, sondern auch im Ausland tätig. Ein klassisches Beispiel dafür sind Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist derzeit in 11 Einsätzen auf drei Kontinenten mit ca. 2.500 Soldat*innen tätig (Stand Juli 2021).[1] Dabei stellt sich die Frage, ob die Bundeswehr dort an Grund- und Menschenrechte gebunden ist. Wann darf die Bundeswehr beispielsweise eine Person festnehmen oder töten? Muss die Person einem Richter oder einer Richterin vorgeführt werden? Wie lang darf sie festgehalten werden?[2] Diese Fragen drängten sich beispielsweise bei der Beteiligung der Bundeswehr am NATO-Einsatz in Jugoslawien auf, bei dem auch Zivilist*innen durch Bombardierungen getötet wurden.[3] Ein weiteres Beispiel ist der umstrittene Angriff auf einen Tanklastzug durch Oberst Georg Klein in Afghanistan, bei dem vermutlich auch zwei Kinder ums Leben kamen.[4]

Dieselben Fragen stellen sich bei den Einsätzen zur Pirateriebekämpfung der Marine und teilweise auch der Bundespolizei.  Ein weiteres Beispiel ist die Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst (BND), wobei sich die Frage stellt, ob der BND Personen im Ausland grundlos abhören darf.

Schutz vor Drittstaaten und deutschen Unternehmen im Ausland

Die Frage der Wirkung von Grund- und Menschenrechten stellt sich auch, wenn es um den Schutz von Menschen vor Rechtsverletzungen durch Drittstaaten im Ausland geht. Haben deutsche Staatsbürger*innen einen grundrechtlichen Anspruch darauf, beispielsweise im Falle einer rechtswidrigen Festnahme im Ausland vom deutschen Staat Unterstützung zu erhalten?

Auch vor den Tätigkeiten deutscher Unternehmen im Ausland könnte der deutsche Staat durch die Grund- und Menschenrechte zum Schutz verpflichtet sein. Ein wichtiges Thema sind beispielsweise Lieferketten. Muss der deutsche Staat Arbeiter*innen und Kinder im Ausland vor Ausbeutung durch deutsche Unternehmen und deren Lieferanten schützen? Ähnliche Fragen stellen sich auch bei Waffenexporten sowie beim Klimaschutz. Müssen Waffenexporte durch deutsche Unternehmen ins Ausland verboten werden, wenn diese gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden? Muss Deutschland die Treibhausgasemissionen deutscher Unternehmen regulieren, um betroffenen Personen im Ausland vor den Folgen des Klimawandels (z.B. Überschwemmungen, Krankheiten) zu schützen?

Ansätze für die Geltung von Grundrechten im Ausland

Als mögliche Argumentationsansätze für eine Geltung von Grundrechten auch im Ausland können einerseits das Grundgesetz selbst, andererseits der Vergleich mit Menschenrechtsverträgen herangezogen werden.

Anhaltspunkte im GG

In der Staatstheorie zeichnet sich ein Staat durch ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und die Ausübung von Staatsgewalt aus.[5] Staatsgewalt wird normalerweise auf dem Staatsgebiet und über die sich dort befindlichen Personen ausgeübt. Deshalb ist auch die Wirkung von Gesetzen meistens auf das Staatsgebiet beschränkt. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. So ergibt sich bei manchen Gesetzen bereits aus dem ausdrücklichen Wortlaut oder durch Auslegung, dass sie auch im Ausland Wirkung entfalten sollen. Ein Beispiel dafür ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, das auch Taten von Ausländerinnen und Ausländern im Ausland kriminalisiert. Die Geltung von Gesetzen im Ausland ist dabei nicht zu verwechseln mit der Ermächtigung von Staaten, auch im Ausland tätig zu werden oder in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einzugreifen. Das Völkerstrafgesetzbuch kann also zum Beispiel regeln, dass eine Person sich strafbar macht, wenn sie im Ausland Völkermord begeht. Es kann den deutschen Staat jedoch nicht dazu ermächtigen, diese Person auch im Ausland festzunehmen. Hier bilden die völkerrechtlichen Grundsätze der Staatensouveränität und des Interventionsverbots Grenzen. Die Geltung von Grundrechten im Ausland ist also weder durch Prinzipien der allgemeinen Staatstheorie noch des Völkerrechts von vornherein ausgeschlossen.

Das deutsche Grundgesetz regelt den räumlichen Anwendungsbereich der Grundrechte nicht explizit. Die umfassende Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt, die in Artikel 1 Abs. 3 GG angeordnet wird, legt jedoch eine Grundrechtsbindung des deutschen Staats auch im Ausland nahe. Dies ist zumindest der Fall, wenn es um die Abwehr von Rechtsverletzungen durch den deutschen Staat im Ausland geht. Das Grundgesetz kann kaum so verstanden werden, dass es dem deutschen Staat bei Tätigkeiten im Ausland einen Freifahrtschein für Rechtseingriffe gewährt.

Schwieriger gestaltet sich die Frage jedoch, wenn es um Schutzpflichten geht. Deutschland kann nicht dafür verantwortlich sein, die Rechtsgüter von Ausländerinnen und Ausländern auf der ganzen Welt vor beliebigen Eingriffen von Drittstaaten oder Privaten zu schützen. Stattdessen muss ein gewisser Bezug zum deutschen Staat vorliegen. Deutschland kann beispielsweise nicht rechtlich dazu verpflichtet sein, Näherinnen in Bangladesch vor Ausbeutung durch US-amerikanische Firmen zu schützen; aber wie sieht es aus, wenn es sich um Lieferanten für deutsche Unternehmen handelt? Wie dieses Bindeglied ausgestaltet und wie eng es sein muss, ist eine wichtige Frage für die Geltung von grundrechtlichen Schutzpflichten im Ausland.

Vergleich mit Menschenrechtsverträgen

Ein weiterer Ansatzpunkt ist der Vergleich mit Menschenrechtsverträgen. Es heißt, Menschenrechte seien universal, und dass sich Menschen überall auf der Welt auf sie berufen können. Dieser moralische Anspruch ist jedoch zu trennen von der rechtlichen Realität, nach der (mit einigen Ausnahmen wie z.B. Gewohnheitsrecht) nur diejenigen Staaten an Menschenrechte gebunden sind, die auch die entsprechenden Verträge unterzeichnet und ratifiziert haben.

Menschenrechtsverträge sind territorial beschränkt. So gilt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nach Art. 1 nur für Personen, die der Hoheitsgewalt des Vertragsstaats unterstehen. Was genau mit Hoheitsgewalt gemeint ist, hat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor schwierige Auslegungsfragen gestellt. Laut EGMR ergibt sich aus der Formulierung des Art. 1 EMRK eine Vermutung gegen die extraterritoriale Wirkung der EMRK, für die aber Ausnahmen in bestimmten Fällen zugelassen wurden.[6] Diese sind die effektive Kontrolle über ein fremdes Gebiet („effective overall controll“), zum Beispiel im Fall der Besetzung durch eine Armee,[7] und die effektive Kontrolle über eine Person oder Gruppe („authority and control“), etwa durch eine Festnahme.[8] Bei Kampfhandlungen, die nicht im Kontext einer Besetzung erfolgten, hatte der EGRM in der umstrittenen Bankovi?-Entscheidung die Anwendbarkeit der EMRK verneint.[9]

Ein weiterer wichtiger Menschenrechtsvertrag ist der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt). Artikel 2 (1) des Pakts beschränkt den Anwendungsbereich auf Personen, die sich auf dem Staatsgebiet befinden und der Herrschaftsgewalt des Vertragsstaats unterstehen. Trotz des restriktiven Wortlauts führte der Menschenrechtsausschuss in seinem General Comment 31 Folgendes zur extraterritorialen Geltung an: „[A] State party must respect and ensure the rights laid down in the Covenant to anyone within the power or effective control of that State Party, even if not situated within the territory of the State Party.”[10] Ähnlich wie der EGMR befürwortet der Menschenrechtsausschuss also ebenfalls eine extraterritoriale Geltung für den Fall, dass der Staat kontrollierten Einfluss über eine Person im Ausland ausübt. Diese Sichtweise hatte der Ausschuss bereits im Fall Burgos angewendet, wo eine Menschenrechtsbindung im Falle einer Entführung einer Person im Ausland durch den Geheimdienst bejaht wurde.[11] Die Ansicht des Ausschusses wird auch durch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) unterstützt. Der IGH hatte argumentiert, dass Israel bei extraterritorialen Aktivitäten in besetzen Gebieten an den Zivilpakt gebunden sei.[12]

Deutsche Rechtsprechung

Seit 2020 haben das BVerfG und das BVerwG in kurzer Folge insgesamt drei Fälle entschieden, bei denen eine Anwendbarkeit der Grundrechte im Ausland diskutiert und teilweise bejaht wurde. Dabei ging um die Auslandsaufklärung durch den BND[13], die Nutzung der Air Base Ramstein für Drohnenangriffe der USA im Jemen[14] und den Klimaschutz. [15]

BVerfG, 19.05.2020 – BND

Gegenstand der Beschwerde beim BND-Urteil des BVerfG vom 19.05.2020 waren mehrere Stellen im BND-Gesetz, die die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, also das Abhören von Ausländer*innen im Ausland, regelten. Konkret ging es um die sogenannte strategische Telekommunikationsüberwachung, die aus sämtlichen Kommunikationsdaten in ausländischen Netzen diejenigen herausfiltert, die für den BND relevant sind. Dabei wird gerade nicht an einen konkreten Verdacht angeknüpft, sondern es handelt sich um eine sehr breite Überwachung. Die Beschwerdeführer*innen in dem Fall machten die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 GG geltend. Das Fernmeldegeheimnis schützt die Vertraulichkeit des Telekommunikationsverkehrs und verbietet unbefugtes Abhören durch Behörden. Die Journalist*innen unter den Beschwerdeführer*innen machten zusätzlich die Verletzung der Pressefreiheit nach Art. 5 I 2 GG geltend.

In ihrer Stellungnahme argumentierte die Bundesregierung, die Grundrechte gelten grundsätzlich nur für das deutsche Staatsgebiet. Eine Grundrechtsgeltung im Ausland verletze das Territorialprinzip. Es sei nämlich Aufgabe der jeweiligen ausländischen Staaten, ihre Bürger*innen vor Überwachung durch den BND zu schützen.

Das BVerfG hingegen bejahte die Grundrechtsbindung des BND auch bei Aktivitäten im Ausland. Als Begründung führte das Gericht die umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG an. Auch die Universalität der Menschenrechte und die Rechtsprechung des EGMR wurden als Argumente herangezogen. Anders als die Bundesregierung sah das BVerfG darin keine Verletzung des Interventionsverbots, da die Geltung der Grundrechte als Abwehrrechte nicht neue Befugnisse des BND für Tätigkeiten im Ausland schaffe. Vielmehr werden nur bereits bestehende Handlungsspielräume beschränkt. Die völkerrechtliche Legitimität dieser Handlungsspielräume sei getrennt zu bewerten. Das Gericht deutete jedoch auch an, dass der Schutz einzelner Grundrechte im Ausland weniger weit reichen könnte als im Inland, bejahte aber jedenfalls eine Bindung an die Abwehrdimension. Im Ergebnis wurde die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses und der Pressefreiheit durch die Regelungen des BND-Gesetzes bejaht.

BVerwG, 25.11.2020 – Ramstein

Ein weiterer Fall, bei dem die Geltung der Grundrechte im Ausland eine große Rolle spielte, wurde am 25.11.2020 vom BVerwG entschieden. Dabei ging es um Drohnenangriffe der USA im Jemen, für die technische Einrichtungen auf der Air Base Ramstein in Deutschland benutzt wurden. Anders als im BND-Fall ging die Rechtsverletzung nicht von Deutschland, sondern den USA aus. Deswegen bestand auch kein grundrechtlicher Abwehranspruch gegen Deutschland. Stattdessen musste sich das BVerwG hier erstmals mit der Frage befassen, ob auch grundrechtliche Schutzpflichten im Ausland wirken.

Dies wurde vom BVerwG bejaht. Voraussetzung sei jedoch ein hinreichend enger Bezug zum deutschen Staat. Die Gefahrenlage für das Rechtsgut (hier Leib und Leben) müsse in den Verantwortungsbereich der deutschen Staatsgewalt fallen. In der Regel müsse die Gefahr durch Vorgänge auf dem deutschen Staatsgebiet entstanden sein. Dies war bei der Nutzung technischer Vorrichtungen auf deutschem Staatsboden für Drohnengriffe im Jemen zwar grundsätzlich der Fall. Allerdings entschied das Gericht, dass ausnahmsweise kein ausreichender Bezug vorliegt, wenn es sich um „rein technische Übermittlungsvorgang ohne Entscheidungselemente“ handelt.

Für das Ausmaß der Gefahr für das jeweilige Rechtsgut, durch das eine Schutzpflicht ausgelöst wird, stellte das BVerwG höhere Anforderungen als noch das Oberverwaltungsgericht. Es genüge keine drohende Gefahr, vielmehr entstehe eine Schutzpflicht nur dann, „wenn aufgrund der Zahl und der Umstände bereits eingetretener Völkerrechtsverstöße konkret zu erwarten ist, dass es auch in Zukunft zu vergleichbaren völkerrechtswidrigen Handlungen des anderen Staates kommen wird“.

Ob in dem konkreten Fall eine Schutzpflicht nach diesen Voraussetzungen entstanden ist, stellte das Gericht im Ergebnis nicht fest. Eine möglicherweise entstandene Schutzpflicht habe Deutschland aber jedenfalls erfüllt, nämlich durch Gespräche mit den USA und das Einholen rechtlicher Zusicherungen. Der Fall Ramstein ist derzeit noch beim BVerfG anhängig, wurde aber noch nicht entschieden.

BVerfG, 24.03.2021 – Klimaschutz

Das Klimaschutz-Urteil des BVerfG vom 24.03.2021 hat in Deutschland hohe Wellen geschlagen und wurde von Klimaaktivist*innen begrüßt. Das BVerfG entschied hier über die Verfassungsmäßigkeit einzelner Regeln des Bundes-Klimaschutzgesetzes und das Unterlassen weiterer Maßnahmen zum Klimaschutz. Fast am Rande ging es dabei aber auch um die Frage, ob der deutsche Staat dazu verpflichtet ist, Menschen im Ausland vor den Folgen des von Deutschland mitverursachten Klimawandels zu schützen.

Unter den Beschwerdeführenden waren auch Menschen aus Bangladesch und Nepal, die sich auf eine Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Leben und Gesundheit) und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG (Eigentum) beriefen. Als Begründung führten sie an, dass Nepal und Bangladesch besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen seien. Das Leben und Gesundheit der Menschen sowie ihr Eigentum sei durch die Folgen des Klimawandels, z.B. Dürren und Fluten, bedroht. Grundrechtliche Schutzpflichten gelten auch gegenüber Ausländer*innen im Ausland, da Art. 1 Abs. 3 GG keine räumliche Begrenzung vorsehe. Auch ein hinreichend enger Bezug zum Inland läge vor, da Treibhausgasemissionen aus Deutschland zum Klimawandel beitragen.

Schon vorweg: Das BVerfG traf im Ergebnis keine Entscheidung darüber, ob eine solche Schutzpflicht tatsächlich besteht, da die Pflicht auf jeden Fall erfüllt wäre, und zwar durch den Beitritt Deutschlands zum Pariser Abkommen und Regelungen konkreter Reduktionsvorgaben im Klimaschutzgesetz. Die Überlegungen, die das BVerfG im Folgenden dennoch zu grundrechtlichen Schutzpflichten im Ausland anstellt, geben aber Aufschluss auf die rechtliche Überzeugung des Gerichts.

Das BVerfG hält die Geltung der Schutzpflichten im Ausland zumindest für denkbar und knüpft auch hier an Art. 1 Abs. 3 GG an. Als Anknüpfungspunkt für eine Verpflichtung Deutschlands zieht das BVerfG die Tatsache heran, dass die Beeinträchtigungen der Menschen in Bangladesch und Nepal zu einem geringen Teil auch durch deutsche Treibhausgasemissionen verursacht werden.

Jedoch würde sich eine Schutzpflicht gegenüber Ausländer*innen im Ausland von einer Schutzpflicht gegenüber Menschen im Inland unterscheiden. Menschen in Deutschland muss der deutsche Staat auf zwei verschiedene Weisen vor den Folgen des Klimaschutzes schützen: einerseits durch Klimaschutzmaßnahmen, die den Klimawandel aufhalten, und andererseits durch Anpassungsmaßnahmen, die die Folgen des Klimawandels abmildern (z.B. Deiche, Umsiedlung, etc.). Gegenüber Menschen in Nepal und Bangladesch kämen zumindest auch Klimaschutzmaßnahmen, also die Reduktion von Treibhausgasemissionen, als Teil der Schutzpflicht in Betracht. Darüber hinausgehende Maßnahmen, insbesondere Anpassungsmaßnahmen, können jedoch nicht verlangt werden, da sie nicht notwendigerweise zur Verfügung stehen, gegen das Interventionsverbot verstoßen und Aufgabe der jeweiligen Staaten sind. Deutschland könne aber gegebenenfalls dazu verpflichtet sein, diesen Staaten finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen oder sie anderweitig zu unterstützen.

Anwendbarkeit deutscher Grundrechte im Ausland

Die Gerichtsentscheidungen zeigen, dass die Grundrechte als Abwehrrechte im Ausland unbeschränkt anwendbar sind.[16] Das heißt, dass die Aktivitäten deutscher Behörden wie des BND im Ausland durch die Grundrechte beschränkt sind. Ausländer*innen dürfen zum Beispiel nicht grundlos abgehört werden. Das lässt sich auch auf die oben angesprochenen Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die Einsätze der Marine und der Bundespolizei übertragen. Bei der Tötung oder der Festnahme von Menschen im Ausland müssen also deutsche Grundrechte beachtet werden.

Ob die Grundrechte daneben auch als Schutzpflichten Wirkung entfalten, hat das BVerfG noch nicht abschließend entschieden. Vom BVerwG wurde die Frage jedoch grundsätzlich bejaht. Voraussetzung ist, dass ein Bezug zum deutschen Staat vorliegt. Im Fall Ramstein war dies die Nutzung des deutschen Staatsgebiets für wiederholte Grundrechtseingriffe. Im Klimaschutz-Urteil dagegen zog das BVerfG eine Schutzpflichtverletzung in Betracht, weil die zum Klimawandel beitragenden Emissionen zum Teil auch vom deutschen Staatsgebiet ausgingen. Beide Entscheidungen knüpften für den Bezug zu Deutschland also an das deutsche Staatsgebiet an. Es scheint deshalb naheliegend, diese Wertungen auf das Fallbeispiel von Waffenexporten von Deutschland ins Ausland zu übertragen. Hier könnte der deutsche Staat grundrechtlich dazu verpflichtet sein, solche Exporte zu unterbinden, die zu völkerrechtswidrigen Waffeneinsätzen (insbesondere gegen die Zivilbevölkerung) führen könnten, da auch hier die Gefahr direkt vom deutschen Staatsgebiet ausgeht. Zwar werden Waffenexporte in Kriegsgebiete bereits durch das Kriegswaffenkontrollgesetz beschränkt. Das Danebentreten einer grundrechtlichen Schutzpflicht hätte jedoch den Vorteil, dass betroffene Personen eine mögliche Verletzung der Schutzpflicht selbst vor Gericht geltend machen könnten.

Schwieriger gestaltet sich die Übertragung der Rechtsprechung auf Lieferketten. Hier scheint der Bezug zum deutschen Staat weniger eng, da die Gefahren für die Rechtsgüter der Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch ausbeuterische und unsichere Arbeitsbedingungen entstehen, hauptsächlich auf die Tätigkeiten von Zulieferern zurückzuführen sind. Aber auch deutsche Unternehmen tragen zu den Rechtsverletzungen bei, wenn sie Zulieferern Aufträge erteilen, obwohl ihnen die menschenrechtswidrigen Arbeitsbedingungen dort bekannt sind oder zumindest bekannt sein sollten. Durch das Dazwischentreten der Zulieferer könnte eine mögliche grundrechtliche Schutzpflicht des deutschen Staats zwar eingeschränkt sein, aber der deutsche Staat kann sich seinen Pflichten mit Hinblick auf den Verursachungsbeitrag deutscher Unternehmen wohl nicht vollständig entziehen. Mögliche Beiträge zur Erfüllung der Schutzpflicht wäre die Überwachung von Lieferketten sowie ein Lieferkettengesetz.[17]

Bezüglich des Inhalts von Schutzpflichten kommen dem Staat allerdings erhebliche Spielräume zu. Er kann grundsätzlich selbst entscheiden, wie er seine Pflichten erfüllt, solange die getroffenen Maßnahmen nicht offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.[18] Die Anforderungen an die Erfüllung der Pflicht sind also relativ gering. Im Klimaschutz-Urteil hatte Deutschland seine Schutzpflicht nach Ansicht des BVerfG bereits durch den Beitritt zum Pariser Abkommen und das Klimaschutzgesetz erfüllt. Damit kommt wohl auch eine Schutzpflichtverletzung im Rahmen von Waffenexporten nur in Ausnahmefällen in Betracht, da hier bereits durch das Kriegswaffenkontrollgesetz eine Regelung besteht. Anders sieht es wieder beim Thema Lieferketten aus; hier bestehen derzeit noch erhebliche Regelungslücken, die eine Schutzpflichtverletzung begründen könnten.

Der konkrete Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflichten kann im Ausland anders ausgestaltet sein als im Inland. Das BVerfG nimmt im Klimaschutz-Urteil beispielsweise an, dass Schutzpflichten durch völkerrechtliche Prinzipien beschränkt sind. Den deutschen Staat trifft keine Pflicht zur Vornahme von Klimaanpassungsmaßnahmen im Ausland (etwa die Umsiedlung von gefährdeten Menschen oder den Bau von Deichen), da diese völkerrechtlich nicht zulässig sind. Stattdessen könnte er verpflichtet sein, die betroffenen Staaten finanziell zu unterstützen. Diese Einschränkung ist auch im Hinblick auf Lieferketten relevant. Deutschland ist nicht dazu befugt, menschenrechtliche Arbeitsstandards im Ausland durchzusetzen, und kann daher auch nicht dazu verpflichtet sein. Die Schutzpflicht kann daher nur so weit reichen, den Beitrag deutscher Unternehmen zu Rechtsverletzungen zu eliminieren, sowie gegebenenfalls andere Staaten bei der Umsetzung von arbeitsrechtlichen Standards zu unterstützen.

Chancen für den Menschenrechtsschutz

Viele Menschenrechte werden auch durch das deutsche Grundgesetz geschützt: das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum, die Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und die Versammlungsfreiheit sind nur einige Beispiele. Im Ausland könnte der Schutz der Grundrechte sogar weiter reichen als der von Menschenrechtsverträgen wie der EMRK oder des Zivilpakts.

Anders als die Rechte der EMRK und des Zivilpakts gelten die deutschen Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension nicht nur unter der Voraussetzung einer faktischen Kontrolle über ein Gebiet oder eine Person, sondern unbegrenzt. Damit ist der grundrechtliche Schutz bei staatlichen Aktivitäten im Ausland, insbesondere bei Militäroperationen, um Einiges weitreichender als der Schutz durch Menschenrechte.

Zur Möglichkeit einer menschenrechtlichen duty to protect im Ausland gibt es bis heute kaum Rechtsprechung. Die jüngeren Entscheidungen des BVerwG und des BVerfG deuten hingegen ausdrücklich auf die Möglichkeit von grundrechtlichen Schutzpflichten im Ausland hin. Dies eröffnet weitreichende Perspektiven, was den Schutz von Menschenrechten vor allem vor Verletzungen durch Unternehmen im Ausland betrifft – ein Problemfeld, für das im internationalen Menschenrechtssystem noch immer keine zufriedenstellende Lösung erzielt wurde. So könnten Menschen, deren Rechte durch deutsche Waffenexporte oder im Rahmen von Lieferketten betroffen sind, möglicherweise vor deutschen Gerichten Abhilfe finden. Für die konkrete Reichweite von Schutzpflichten im Ausland bleibt jedoch zukünftige Rechtsprechung abzuwarten.

Auch bezüglich der gerichtlichen Dursetzung von deutschen Grundrechten ergeben sich Vorteile. Das BVerfG stellt in der BND-Entscheidung ausdrücklich fest, dass Ausländerinnen und Ausländer Grundrechtsverletzungen, die ihnen im Ausland widerfahren sind, vor deutschen Gerichten geltend machen können.[19] Die Entscheidungen deutscher Gerichte sind verbindlich und können den Staat zu bestimmten Maßnahmen oder zum Schadensersatz verpflichten, rechtswidrige Gerichtsentscheidungen können durch die jeweils höhere Instanz aufgehoben werden, und das BVerfG kann grundrechtswidrige Gesetze für nichtig erklären. Im Gegensatz dazu sind die Entscheidungen des Menschenrechtsausschusses unverbindlich. Urteile des EGMR haben zwar bindende, aber nur feststellende Wirkung. Der EGMR kann keine nationalen Gesetze oder Gerichtsurteile aufheben.[20] Außerdem müssen Personen, die sich an den EGMR oder den Menschenrechtsausschuss wenden wollen, zunächst den nationalen Rechtsweg ausschöpfen.[21] Zwar kann wegen Menschenrechtsverstößen auch vor deutschen Gerichten geklagt werden, allerdings haben Menschenrechte im deutschen Recht nicht notwendigerweise denselben Rang wie Grundrechte. Sie können auch nicht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG geltend gemacht werden.

Ausblick

Die Entscheidungen des BVerfG und des BVerwG bestätigen die Wirkung deutscher Grundrechte auch im Ausland. Bei der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte gilt dies unbeschränkt, bei Schutzpflichten kommt es auf den Bezug zum deutschen Staat an, wobei Letzteres noch durch das BVerfG bestätigt werden muss. In beiden Fällen geht die extraterritoriale Wirkung der Grundrechte über die der Menschenrechte hinaus. Die Gerichtsentscheidungen eröffnen weitreichende Möglichkeiten für den Schutz von Menschenrechten vor den Folgen des Klimawandels, bei Abhörungen im Ausland, bei Auslandseinsätzen oder im Rahmen von Lieferketten.

Die unmittelbaren Konsequenzen für die deutsche Politik sind dabei eher gering, da für die Erfüllung von Schutzpflichten sehr großzügige Anforderungen gelten. Die Aktivitäten des BND musste der deutsche Gesetzgeber jedoch noch bis zum Ende des Jahres regeln; dieser Pflicht ist er bereits im April nachgekommen. Handlungsbedarf besteht auch im Themenfeld Wirtschaft und Menschenrechte. Hier hat Deutschland bislang zu wenig getan, um Rechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten zu verhindern.

 

 

Fußnoten

[1] https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr

[2] https://www.amnesty.de/informieren/blog/afghanistan-bundeswehr-wo-bleiben-die-menschenrechte-im-auslandseinsatz

[3] https://www.deutschlandfunk.de/vor-20-jahren-begann-der-kosovo-krieg-bomben-gegen-belgrad.724.de.html?dram:article_id=444365

[4] https://www.tagesspiegel.de/politik/urteil-zu-tanklasterangriff-keine-entschaedigung-fuer-luftangriff-in-kundus/26919074.html

[5] Maurer, Staatsrecht I, 6. Auflage 2010, § 1 Rn. 6f.

[6] Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 2021, § 17 Rn. 15; Johann, in: Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, 2015, Rn. 23

[7] EGMR, Loizidou (Preliminary Objections), Nr. 15318/89

[8] EGMR, Al-Skeini u. a., Nr. 55721/07

[9] EGMR, Bankovi?, Nr. 52207/99

[10] Human Rights Committee, General Comment No. 31, 2004, Rn. 10

[11] Human Rights Committee, Delia Saldias de Lopez v. Uruguay, Communication No. 52/1979, 1984, Rn. 12.3

[12] International Court of Justice, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 2004

[13] BVerfG, 19.05.2020 – 1 BvR 2835/17 (BND-Urteil), Rn. 1

[14] BVerwG, 25.11.2020 – 6 C 7.19 (Ramstein-Urteil), Rn. 28

[15] BVerfG, 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20 (Klimaschutz-Urteil), Rn. 78

[16] Stefanie Schmahl, Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt im Ausland, NJW 2020, 2221, 2223

[17] https://verfassungsblog.de/globale-gefahren-und-nationale-pflichten/

[18] Klimaschutz-Urteil, Rn. 152

[19] BND-Urteil, Rn. 92

[20] Jens Meyer-Ladewig, Kathrin Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage 2017, Artikel 42 Rn. 4f.

[21] Art. 35 EMRK; https://www.ohchr.org/en/hrbodies/tbpetitions/Pages/IndividualCommunications.aspx

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