Bernward Debus, Tessa Debus, Peter Massing, Sabine Achour (Hrsg.): Demokratie – ein Menschenrecht. „Demokratiebildung“ Wochenschau-Sonderausgabe Nr. 21, Juli 2021,56 S.

17. November 2021 | Von | Kategorie: Rezensionen, Menschenrechtsbildung

von Otto Böhm

 

Wie können Unterschied und Gemeinsamkeit von Demokratie- und Menschenrechtsbildung beschrieben werden? Wie sollte der praktische Zusammenhang verstanden werden? Zur Beantwortung der Fragen ist schon viel nachgedacht worden; und die beiden Arbeitsbereiche sind auch oft nicht weit auseinander, sondern zeigen einen hohen Grad an Gemeinsamkeit. Das vorliegende Heft widmet sich weniger den Fachbereichs-Unterscheidungen, sondern geht vielmehr von einer gemeinsamen Praxis vor allem in der Schule aus.

Die Berliner Politikdidaktikerin Sabine Achour spricht im einleitenden Aufsatz („Demokratiebildung: Was ist das? – Politische Bildung, die sich lohnt!“) von einem gegenwärtigen bildungspolitischen Engagement für Demokratie, das verstetigt werden müsse. Dazu soll auch dieses Schwerpunktheft beitragen. Auch hier wird die Trias, die am Anfang vieler Begründungen für Menschenrechtsbildung steht, zugrunde gelegt: Bildung und Lernen durch, über und für die Demokratie. Eine empirische und ermutigende Bestätigung dafür liefern die Ergebnisse einer Untersuchung, die Achour vorstellt: Wenn Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwirksamkeit erfahren und demokratisch mitbestimmen können, steigt auch wiederum ihre Partizipationsbereitschaft; auch ihre Fähigkeit, andere soziale Gruppen anzuerkennen, ist höher.

Ein zentrales Feld der Demokratiebildung ist die demokratische Schulentwicklung. Denn das Dewey’sche Paradigma ‚Demokratie als Lebensform‘ muss sich gerade hier beweisen. Das wird in Beiträgen von Silvia-Iris Beutel, Wolfgang Beutel und Markus Gloe („Demokratische Schulentwicklung“), Annedore Prengel („Die ‚Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen‘ – ein Beitrag zur Demokratie als Lebensform“)[1] und Alexander Wohnig („Kann Schule ein Ort für Demokratiebildung sein? Sozialpädagogische Demokratiebildung in der außerschulischen politischen Jugendbildung – Potentiale für die Schule durch Kooperationen“) expliziert.

Der Leiter der Berliner Landeszentrale für Politische Bildung Thomas Gill bezieht sich in seinem Beitrag („Quo vadis Demokratiebildung? Recht auf politische Teilhabe oder Prävention?“, mit Bezug auf Beate Rudolf vom Deutschen Institut für Menschenrechte) auf das Menschenrecht auf politische Teilhabe und sieht gerade darin auch die Defizite des Präventionsansatzes in der Demokratiebildung[2]:

„Das Konzept der Prävention kennt diese Rechte seiner Adressaten nicht, es will etwas verhindern, ist nicht zukunftsoffen, sondern will bewahren. Prävention schaut auf Defizite, Fehlentwicklungen und Gefährdungen. Prävention ist keine Einladung zur Teilhabe. Wer nach Prävention ruft, meint nicht sich selbst, sondern die anderen, die als Gefährder*innen markiert werden. Dabei wäre gerade für jene, die permanent als die anderen benannt werden, eine Einladung zum Mitmachen notwendig. Demokratie lebt von der Vielfalt der Stimmen, auch wenn dies anstrengend ist, wenn Macht und Privilegien in Frage gestellt werden und wenn die Konflikte zunehmen. Demokratie ist keine Harmonie, sondern Konflikt.“ (S. 41).

Als affines Bildungskonzept zur Demokratiebildung wird auch die Menschenrechtsbildung aufgelistet. Sören Torrau, Fachdidaktiker in Nürnberg, fragt, welche Verbindungslinien zwischen Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung (MRB) für die Gestaltung von Lernprozessen relevant sind („Was verbindet Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung? Fünf Ebenen zur Förderung einer Kultur der Menschenrechte“). Die verbindenden Dimensionen sind aus seiner Sicht Wissen, Werte und Aufforderung zum Handeln/Engagement. Im Sinne sowohl demokratischer Bildung als auch der Kinderrechtskonvention sollen Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen, verstehen, gegenseitig achten und wahrnehmen. Das „Sollen“ braucht Entfaltungsebenen für die Schulpraxis: Manchmal ist es nicht schwer, auf eigenen Rechten zu pochen, ein andermal muss es erst gelernt werden; aber immer steckt darin die Pflicht zur Achtung auch der Rechte der Anderen, gerade wenn es um Kinder und Jugendliche in ihrer Unterschiedlichkeit geht. So werde praktisch eine inklusive Schulkultur eingeübt, die zur Keimzelle der Menschenrechtskultur werden soll. Für den sozialwissenschaftlichen Fachunterricht schlägt Torrau ein „reflexives Prüfen von Universalität“ vor. Das klinge abstrakt, könne aber am Beispiel des „globalen Diskurses zu Migrationsbewegungen“ oder am „Missbrauch des Freiheitsbegriffes für menschenfeindliche Aussagen“ plausibel gemacht werden.

Das Heft begründet und konkretisiert den Zusammenhang von Demokratie- und Menschenrechtsbildung für das Praxisfeld Schule, aber auch für die außerschulische Bildungsarbeit.

Otto Böhm

 

Reckahner Reflexionen:

Was ethisch begründet ist:

  1. Kinder und Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behandelt.
  2. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.
  3. Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.
  4. Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.
  5. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.
  6. Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen angeleitet.

Was ethisch unzulässig ist:

  1. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskriminierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder unhöflich behandeln.
  2. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kindern und Jugendlichen entwertend und entmutigend kommentieren.
  3. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren.
  4. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verletzungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren.

Herausgeber der Reckahner Reflexionen:

[1] „Reckahner Reflexionen“ sind das Ergebnis einer Initiative aus dem Jahr 2017 (Wortlaut im Anhang)

[2] Dazu auch schon ausführlich Gernot Röken in Politisches Lernen, Heft 2/19: „Demokratie-Lernen und politische Bildung im Zeichen begrifflicher Unschärfe und Modifikationen in Teilbereichen – Vorschläge zu einer Klärung und zur Problematik der schulischen Umsetzung“ sowie das Schwerpunktheft „Demokratieförderung vs. politische Bildung?“ des Journals für Politische Bildung 2/19 mit Benedikt Widmaier („Demokratieförderung und politische Bildung Eine sozialisationstheoretische Perspektive“, Benno Hafeneger („Politische Bildung ist mehr als Prävention“) und Thomas Gill / Sabine Achour („Liebe Teilnehmende, liebe Gefährderinnen und Gefährder!“ Extremismusprävention als politische Bildung?“).

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