Baranowska, Grazyna: Rights of Families of Disappeared Persons. How International Bodies Address the Needs of Families of Disappeared Persons in Europe, Cambridge etc. (Intersentia) 2021 (Series Transitional Justice 26)

6. Dezember 2021 | Von | Kategorie: Rezensionen

von Rainer Huhle

 

Die meisten Menschen werden beim Thema „Verschwindenlassen“ wohl spontan an Lateinamerika denken. Das Drama der Tausenden von Menschen, die von den Diktatoren in Chile, Argentinien und anderen Ländern der Region vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entführt, gefoltert und dann in der Regel getötet wurden, ohne dass die Angehörigen erfuhren, was ihnen geschehen war, hat sich ins Gedächtnis eingeprägt. Geprägt haben diese Verbrechen auch den Rechtsbegriff des „Verschwindenlassens“ und die Bemühungen des internationalen Schutzsystems der Menschenrechte, das Verschwindenlassen zu ächten, unter Strafe zu stellen und ihm vorzubeugen.

Es ist das Verdienst der polnischen Juristin und Menschenrechtsexpertin Grazyna Baranowska, den Blick darauf zu lenken, dass das Verschwindenlassen von Personen auch in Europa verbreitet war und ist. Sie erinnert nicht nur an die großen, bis in die Zeit des Weltkriegs zurückreichenden Fälle wie die von der Sowjetarmee und den NKWD im Wald von Katyn ermordeten und heimlich verscharrten polnischen Offiziere, oder an die nach wie vor in großer Zahl gesuchten Leichname von Opfern des Franco-Regimes in Spanien. Auch nach dem Weltkrieg „verschwanden“ Tausende Personen in Europa, so in Zypern (1963-1974), in der Türkei seit den achtziger Jahren, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (1991-1999), in der russisch beherrschten Kaukasusregion seit den neunziger Jahren, oder in Belarus und der Ukraine, um nur die schlimmsten Beispiele zu nennen.

Den Kern des Buches macht eine minutiöse Darstellung der Rechtsprechung des europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EMRG) mit Bezug auf Klagen wegen Verschwindenlassens aus. Es dauerte bis 1998, ehe der EMRG ein erstes Urteil über einen Fall von Verschwindenlassen fällte. Obwohl damals bereits eine internationale Definition dieses Verbrechens (in der UN-Erklärung von 1992) vorlag, hat der EMRG in diesem Urteil wie auch seither keine Definition des Verschwindenlassens angewandt oder entwickelt, was zweifellos zu seiner recht inkonsistenten Rechtsprechung in diesen Fällen beitrug. Die Autorin diskutiert ausführlich die Probleme dieser Rechtsprechung, z.B. mit Bezug auf die Anerkennung seiner Zuständigkeit für lang zurückliegende Fälle, auf die Beweislast bei der Darstellung der Geschehnisse, auf das Recht auf Wahrheit sowie auf Entschädigung und den Umgang mit den Leichnamen der verschwundenen Personen.

Zwei weitere Kapitel bieten eine ebenfalls auf die sorgfältige Untersuchung der einzelnen Entscheidungen gestützte Darstellung anderer internationaler Menschenrechtsorgane. Zunächst untersucht die Autorin die vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen angenommenen Fälle von Verschwindenlassen (die allerdings nur vereinzelt Europa betrafen). Der Menschenrechtsausschuss arbeitet auf der Grundlage des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der wie die Europäische Menschenrechtskonvention keine explizite Definition des Verschwindenlassens enthält. Seine Entscheidungen über Fälle von Verschwindenlassen stützen sich daher ebenfalls auf die einschlägigen Rechte, die durch das Verschwindenlassen verletzt werden, wie das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und andere. Wie Baranowska feststellt, war die Jurisprudenz des Menschenrechtsausschusses daher auch prägend für viele Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs.

Bei den beiden genannten Instanzen geht es um Klagen von Einzelpersonen gegen Staaten und im Ergebnis also um Entscheidungen gegen Staaten und entsprechende Auflagen für diese. Aber auch im Bereich des Strafrechts wurde das Verschwindenlassen Gegenstand internationaler Untersuchungen. Baranowska analysiert hier vor allem die Rechtsprechung zweier internationaler Gerichte, die auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens eingerichtet wurden: die Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina, die 1996 auf der Grundlage des Dayton-Abkommens ihre Arbeit aufnahm, und der UN-Beratungsausschuss für Menschenrechte im Kosovo (human rights advisory panel, HRAP, nicht zu verwechseln mit dem 2021 in Den Haag eingerichteten Sondergericht für Straftaten der UÇK), der 2006 von der UN-Verwaltung des Kosovo eingerichtet wurde, um Menschenrechtsverletzungen unter seiner Amtsführung zu untersuchen. Unter diesen befanden sich immerhin 248 Anzeigen wegen Verschwindenlassens. Erstaunlicherweise hat der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien, den der UN-Sicherheitsrat 1993 errichtete, sich kaum näher mit dem Verbrechen des Verschwindenlassens befasst, das dort in der Fülle der übrigen verhandelten Verbrechen kaum je explizit zur Sprache kam.

Der große Wert der Arbeit von Baranowska liegt in der detaillierten Durchforstung all dieser Entscheidungen und Urteile der internationalen Instanzen bezüglich der Fälle von Verschwundenen in Europa , zumal sie über die lange Liste der verhandelten Fälle leicht erschließbar sind. Weniger überzeugend ist der methodische Ansatz des Werkes. Als Zugang zu diesem umfassenden Corpus von Entscheidungen hat die Autorin, wie der Titel anzeigt, die Rechte der Familienangehörigen von verschwundenen Personen gewählt. Das ist insofern produktiv, als es z.B. schon über die Zulässigkeitskriterien für Beschwerden eine Reihe von Einsichten in die rechtliche Behandlung des Verbrechens des Verschwindenlassens eröffnet. Allerdings nähert sich Baranowska den Rechten über ein Verständnis der Bedürfnisse („needs“) der Angehörigen, die sie ohne nähere Begründung auf vier beschränkt: die Übergabe der Leichname der Verschwundenen an die Familien; das Recht, die Wahrheit über die Umstände des Verschwindens und das Schicksal der Verschwundenen zu erfahren; die offizielle staatliche Anerkennung  der Verantwortlichkeit für das Verbrechen; und das Recht auf Entschädigung. Wichtige Forderungen der Familienangehörigen, die ebenfalls seit Jahrzehnten entschieden vorgetragen werden, bleiben da außen vor. So z.B. das „Recht auf Gerechtigkeit“, also auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Dieses Recht schließt Baranowska bewusst aus ihrer Liste aus, mit einer wenig überzeugenden Begründung. Im Hauptteil, bei der Analyse der Jurisprudenz der verschiedenen Organe, taucht die Frage dann zwar, unvermeidlicherweise, immer wieder auf, hat jedoch keinen systematischen Stellenwert. Gar nicht angesprochen wird ein Kernanliegen der meisten Familien, das Verlangen nach Garantien gegen das Verschwindenlassen, wie es schon im emblematischen Titel des ersten großen Berichts über Verschwindenlassen, dem argentinischen „Nunca Más“ /Nie wieder erscheint. Eine systematische Untersuchung auch der Maßnahmen, die die Menschenrechtsinstanzen wie auch die Gerichtshöfe dazu entwickeln (oder auslassen) wäre, gerade in einer Buch-Reihe  über „Transitional Justice“ unbedingt wünschenswert gewesen.

An die Adresse des Verlags geht der Vorwurf, dass ein fachwissenschaftliches Buch dieser Kategorie nur einen sehr dürftigen Index erhält und nicht einmal eine Bibliografie, sodass die LeserInnen bei über 1000 Fußnoten bald keine Chance mehr haben, von den dort nach der ersten Erwähnung abgekürzten Literaturzitaten auf die vollständigen Angaben zurückzugreifen.

Schlagworte:

Kommentare sind geschlossen