Colonia Dignidad und Erinnerungskultur. Dreckmann-Nielen, Meike: Erinnern und Vergessen : Erinnerungskulturelle Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad. Bielefeld, Transkript 2022.

18. August 2022 | Von | Kategorie: Rezensionen

von Dieter Maier

 

Die Colonia Dignidad gibt es noch, wenn auch unter neuem Namen, es wird aber schon an mehreren Stellen an ihrer Erinnerungskultur gearbeitet. Meike Dreckmann-Nielen stellt sich in ihrer als Buch erschienenen Dissertation Erinnern und Vergessen : Erinnerungskulturelle Dynamiken in der ehemaligen Colonia Dignidad dem Problem, an eine historische Episode bei noch nicht geschlossenem Zeitfenster zu erinnern. Sie ersetzt die üblichen, statischen Interviews durch die (Reflexive)Grounded Theory Methode (S. 83 ff). Diese Methode thematisiert selbstreflexiv den Zugang der Forscherin zum Forschungsfeld und führt ihn mit der Selbstdarstellung der befragten Personen zusammen. Die Interviews sind keine Abfragen in vorgeblich neutralen Konstellationen, sondern intersubjektive Auseinandersetzungen zwischen Fragenden und Befragten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Diese Methode ist ihrem Gegenstand angemessen, denn die meisten Befragten leben noch am Ort des Geschehens – am Tatort! Die aktive Teilnahme aller Beteiligten am Diskurs ist am ehesten geeignet, eingespielte Versionen des Täter-Opfer-Kollektivs aufzubrechen.

Dreckmann-Nielen resümiert den Erinnerungsprozess der ehemaligen Mitglieder des deutschen Sektendorfes in Chile. Ihre Arbeit ist eine Zwischenbilanz. Die Siedlung ist immer noch von der Täter-Opfergeneration und ihren Kindern und Enkeln bewohnt, insgesamt etwa 80 Menschen, und sie soll ein Gedenkort werden. Das ist einmalig. Orte des Verbrechens sind üblicherweise erst einmal totes Gelände, bevor die Gedenkstättenplaner sich ans Werk machen. Wegen dieser Einmaligkeit stellt sich die Frage, wer sich an was erinnert, hier auf besondere Weise. Dreckmann-Nielens Buch ist eine nützliche Zwischenbilanz der Erinnerung, die vor Ort ständig zwischen den verschiedenen Opfergruppen und einigen Täterinnen und Tätern ausgehandelt wird. Spaltungslinien sind die unterschiedliche Staaten-, Sekten- und Generationenzugehörigkeiten. Zu einem öffentlichen kritischen Rückblick ist nur eine Minderheit in der Lage. Der Rest will seine Ruhe und eine deutsche Rente.

Zu den Opfergruppen gehören die in der Siedlung gefolterten chilenischen Gefangenen der Pinochetdiktatur, die Angehörigen der dort „verschwundenen“ politischen Gefangenen und die deutschen Sektenopfer. Bedenklich ist der Fokus auf die deutschen Opfer, den „Mikrokosmos der ehemaligen Colonia Dignidad“ (S.11 f). Auch die dort gefolterten und ermordeten chilenischen politischen Gefangenen kommen vor, geraten aber aus dem Blick.

Dreckmann-Nielen demontiert das Bild einer homogenen Dorfgemeinschaft, das in der öffentlichen Wahrnehmung der Colonia Dignidad vorherrscht. Sie zeigt die „im Hintergrund wirkenden Dynamiken“ (S. 315). Es gab sie schon unter Schäfers Herrschaft, während der die zentrifugalen Kräfte der Sektengemeinschaft nur durch Zwang neutralisiert werden konnten. In der Villa Baviera, wie die Siedlung heute heißt, besorgen von den Kindern der alten Führung organisierte „Bewältigungsstrategien“ wie z.B. eine sektiererisch aufoktroyierte „Vergebungsmaxime“ dieses Geschäft. „Vergeben und Vergessen“ hält den Haufen zusammen.

Entgegen dem durchgängig politischen Kontext ist die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Villa Baviera durch privatisierte Erinnerung blockiert. Die Einrichtung eines Gedenkortes in der Siedlung müsste diese Blockade brechen. Die Chancen sind gering. Wenn es diesen Gedenkort einmal gibt, würden sich die Unbelehrbaren unter den jetzigen Bewohnerinnen selbst zu musealen Inventarstücken machen, an denen man noch ablesen kann, wie alles kam.

Das Oral-History-Projekt der Freien Universität Berlin

Der Deutsche Bundestag beschloss im Juni 2017 einen Hilfsfonds für die Opfer der deutschen Foltersiedlung in Chile, die Mitwirkung an der Einrichtung eines Gedenkortes auf dem Siedlungsgelände und ein Oral-History-Projekt. Der Gedenkort ist bisher wegen der zögerlichen Politik chilenischer Regierungen im Vorbereitungsstadium steckengeblieben, der Hilfsfonds so gut wie abgewickelt (Stand August 2022). Mit dem Oral-History-Projekt wurde die Freie Universität Berlin beauftragt. Es ist mittlerweile abgeschlossen. Wie aber erinnert man an etwas, das noch gegenwärtig ist? Hier entsteht eine Dauerschleife: Die Erinnerung verändert sich mit der Befindlichkeit der erinnernden Subjekte, und die wiederum ist abhängig von sich verändernden Loyalitäten und Lebenssituationen. Das Oral-History-Projekt sollte zunächst Beweise sichern und die Zeitzeugen noch zu Lebzeiten befragen. Es sollte der Forschung eine solide Grundlage liefern. Das ist in erheblichem Umfang geglückt. Chilenische und deutsche Opfer der Colonia Dignidad, Akteure, die mit ihr befasst waren, und Experten beleuchten die schwer verständliche Struktur der Sektensiedlung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Das Dilemma ist, dass sich im Fall der Colonia Dignidad Täter und Opfer nicht klar trennen lassen. Die ehemaligen Sektenmitglieder waren in der Regel beides in einem. Wie nicht anders zu erwarten, praktizieren sie den Opferkult, der sich unter ihnen breit gemacht hat und ihr Gewissen entlastet. Sie unterschlagen fast durchgängig ihre eigene Beteiligung am jahrzehntelangen Bestehen mitsamt den internen Unterdrückungsmethoden der Siedlung. Die wohlwollend-neutralen Interviewer versuchen alles zu vermeiden, was wie ein Verhör aussehen könnte, fragen wenig zurück, haken an wunden Punkten zu wenig nach. Sie huldigen passiv dem Opferkult, statt ihn in Frage zu stellen. Kritische Wissenschaft sieht anders aus. Wo Kommentare zum Verständnis nötig wären, wo der Mut zum eigenen kritischen Denken gefragt ist, klafft eine Lücke. Sollte es in ein Dokumentationszentrum im Rahmen des zukünftigen Gedenkortes eingehen, muss es ausführlich kontextualisiert werden.

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