Zum Tod von Francisco Soberón – eine Hommage von Carlos Beristain

24. Oktober 2022 | Von | Kategorie: Lateinamerika

Anlässlich des Todes von Francisco Soberón:

Der Nabel der Menschenrechte

Für Pancho Soberón.

Von Carlos Martín Beristain. Aus dem Spanischen übersetzt von Nicole Hinken.

„Pancho Soberón [3. von links, mit Schal und Stock] auf einer Gedenkveranstaltung im Gedenkort für die gewaltsam Verschwundenen in Lima, 2014“ (Foto: Rainer Huhle)

Die Nabelschnur ist die Schnur des Lebens, sie führt uns die notwendige Nahrung zu. Der Kampf für die Menschenrechte ist Teil der Errungenschaften der Menschheit, diese sind jedoch immer wieder von Rückschlägen bedroht. Oder von denen, denen dieser Kampf ein Hindernis ist oder bestenfalls eine weitere Meinung, als ob es die Menschenwürde nicht gäbe.

Pancho Soberón war der Gründer der peruanischen Koordinationsstelle für Menschenrechte, einem Zusammenschluss verschiedener Organisationen und kollektive Stimme zur Verteidigung der Menschenrechte, ganz besonders des Rechts auf Leben, das im Peru der 80er Jahre so stark bedroht war, in diesem Krieg aller gegen alle, des Leuchtenden Pfads, der Streitkräfte und der Polizei, der Bauernmilizen den Rondas campesinas, oder der Revolutionären Bewegung „Túpac Amaru“ MRTA.

Pancho zeichnete sich schon immer durch eine kräftige Stimme aus. Von den vielen Fällen und Geschichten, mit denen er sich befasste, erlebten wir einige gemeinsam, wie zum Beispiel die der Familien der Barrios Altos und der Colina-Gruppe, einer Todesschwadron, die während der Fujimori-Ära für das Töten und Verschwindenlassen verantwortlich war. Als dieser Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof gelangte, wurden pauschale Amnestien für Menschenrechtsverletzungen für illegal erklärt. Dies ist einer der Kämpfe, die Pancho für uns geführt hat. Das letzte Mal trafen wir uns beim Prozess gegen mehrere Militärkommandanten wegen des Falls Cabitos, benannt nach einer Kaserne in Ayacucho. Für dessen Bau wurde eigens ein Ziegelofen gebaut, der von einem Benzintank und einem Rohr auf einer großen Esplanade, wo der Lehm gebrannt wurde, gespeist wurde.

Als in Chile die sterblichen Überreste mehrerer Bauern entdeckt wurden, die 1978 in Lonquén verhaftet, hingerichtet und dann verschwunden waren, befahl Pinochet den Streitkräften, alle auffindbaren sterblichen Überreste, aus den illegalen Gräbern zu entfernen und ins Meer zu werfen. Die Spuren der Menschen, deren Verschwinden er befohlen hatte, sollten verwischt werden. Die Angehörigen hingegen wurden mit dem nicht enden wollenden Schmerz des Verschwindenlassens zurückgelassen.

Diese Methode wurde von der peruanischen Armee am Ende der Amtszeit von Präsident Belaúnde im Jahr 1985 kopiert, obwohl der Name der Operation nicht bekannt ist. Zahlreiche Gräber wurden zurückgebaut und die Knochenreste im Ziegelofen eingeäschert. Trotzdem blieb das Gelände ein großer geheim gehaltener Friedhof für Menschen, die in den Kasernen gefoltert, hingerichtet und anschließend eineinhalb Meter unter der Erde begraben worden waren. Viele Gräber waren mit Kakteen bedeckt. Als ich Jahre nach der Wahrheits- und Versöhnungskommission den Ort besuchte, hatten forensische Anthropologen bereits das gesamte Gelände untersucht. Die Angehörigen, allen voran Mamá Angélica, forderten aus ihm einen Ort der Erinnerung zu machen. Ein Ort, um in der Stille innezuhalten, „sentipensar“ (gleichzeitig zu fühlen und zu denken), wie Eduardo Galeano sagen würde. Es sind diese Orte der Erinnerung, die uns mit dem Nabel des Lebens verbinden.

Einer der Fälle, zu dem die Wahrheits- und Versöhnungskommission alle Unterlagen an die Staatsanwaltschaft zur Ermittlung der Verantwortlichen weitergeleitet hatte, war der Fall Cabitos. Aprodhe, die von Pancho geleitete Organisation, welche die Opfer vertrat, schlug mir ein bestimmtes Sachverständigengutachten für den Fall vor. Es handelte von Erinnerung. Zuerst war ich überrascht. Erst später habe ich verstanden, wie weit Leugnung und Zynismus reichen können. Die Verteidiger der Militärs, die zu der Zeit die Kaserne leiteten, stellten den Wahrheitsgehalt der Aussagen der Gefolterten und der wenigen Überlebenden des Grauens in Frage. Etwa weil ein Baum nicht genau an der Stelle stand, auf die gezeigt wurde, oder weil eine Entfernung nicht 100, sondern 20 Meter betrug. Die räumlich-zeitliche Desorientierung, Traumata, Augenbinden, die vergangene Zeit und die Tatsache, dass man alles vergessen wollte, was durch die Distanz zu den Ereignissen noch vielfach verstärkt wird, die verschiedenen Momente, in denen man Zeugnis ablegt, die Erinnerung, die aufgefrischt wird, oder die Notwendigkeit, eine Geschichte zu vervollständigen, damit man ihr glaubt, sind nur einige der Dinge, über die ich sprechen musste. Ein psychologisches Gutachten ist eine Möglichkeit, Lebenserfahrungen in Konzepte zu übersetzen, welche dann wiederum helfen können, juristische Entscheidungen zu treffen. Nach dem Sachverständigengutachten und den Fragen des Staatsanwalts und der Anwälte von Aprodhe, Gloria und Pancho, waren die Verteidiger an der Reihe:

– Herr Doktor, glauben Sie, dass sich ein ehemaliger Häftling zu 100 % an alles erinnern kann?

Manchmal sind Zahlen Verbündete, manchmal führen sie uns in eine Falle. Im Zeugenstand in Lima erinnerte ich mich an den Fall Tibi, ein weiteres Verfahren vor dem Interamerikanischen Gerichtshof in Costa Rica. Daran, dass die ecuadorianische Staatsanwaltschaft mich fragte, ob die Verletzungen an Tibis Körper mit hundertprozentiger Sicherheit auf Verbrennungen durch Zigaretten zurückzuführen seien und nicht auf Kratzverletzungen durch Bisse oder Infektionen in dem Gefängnis, in dem er festgehalten wurde, wie ein anderer geladener Experte behauptete. Es wurde dann eine Karte hervorgeholt, um zu überprüfen, wo Mücken stachen und wo nicht, und um zu zeigen, wie rund die Narben waren. Gibt es so etwas wie 100 % in der Medizin? Das war eine andere Frage.

Man muss solche Trickfragen in ein anderes Licht stellen, sonst fällt man in ein finsteres Loch. Nachdem ich darauf gekommen bin, verließ ich die Verhandlung, um mit Pancho in einem peruanisch-amazonischen Fusionsrestaurant zu Mittag zu essen. Eine Sinfonie der Geschmäcker, wie die erste Ceviche, die ich mit ihm probiert habe. Pancho hat von Beginn an in der Koalition für den Internationalen Strafgerichtshof gekämpft, sich im Fall Pinochet und in vielen anderen Fällen engagiert, welche das kollektive Gedächtnis Lateinamerikas prägen. Ein Menschenrechtsverteidiger der seltenen Sorte, der sich nicht entmutigen lässt. Einer der hundert Prozent gibt. In den letzten Jahren tauschten wir uns über unsere Sorgen und die Kämpfe in Mexiko, Kolumbien oder Nicaragua aus. Pancho hat sich in vielen verschiedenen Ländern und Kontexten für die Menschenrechte eingesetzt, er war immer auf dem neuesten Stand. Eine Art Krankheit, die nicht geheilt werden kann und die nicht aufhören will, gelebt zu werden. Die Besorgnis um die Welt, die er in seiner tiefen Stimme äußerte, lud immer dazu ein, Teil von ihr zu sein. Ebenso die vielen Whatsapp-Nachrichten und die Texte der maleta colombiana, die er immer las, und sein DANKE, DANKE, DANKE. In großen Buchstaben, weil er aufgrund seiner Diabetes nicht gut sehen konnte. Er verstarb am 7. Oktober 2022. So viele von uns, die dich lieben, müssen nach einem riesigen Buchstaben suchen, um das hier unterzubringen: Danke, Pancho, dass du ein Teil dieses Nabels der Menschenrechte warst.

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