Am Abend des 7. April 2023 starb der letzte noch lebende Beteiligte der Nürnberger Prozesse, Benjamin Ferencz, Chefankläger des Verfahrens gegen die Einsatzgruppen der SS. Wer das Privileg hatte, ihn bei seinen zahlreichen Besuchen in Nürnberg zu erleben, lernte nicht nur einen unermüdlichen Streiter für das Völkerrecht, sondern auch einen außergewöhnlichen Menschen kennen, einen großherzigen Humanisten, den sein leidenschaftlicher Einsatz für die Bestrafung von Massenverbrechen nicht verhärtete und der selbst in schwierigen Momenten nie seinen Humor verlor.
Prof. John Q. Barrett, Benjamin N. Cardozo Professor of Law, St. John’s University, New York City und Elizabeth S. Lenna Fellow, Robert H. Jackson Center, Jamestown, NY, ebenfalls ein häufig und gern gesehener Gast in Nürnberg, schrieb den folgenden Nachruf auf seinen guten Freund. Wir danken John für die Erlaubnis, seine schöne Hommage zu übersetzen und auch seine Bilder zu verwenden. Der englische Originaltext wurde am 8. April auf John Barretts „Jackson list“ veröffentlicht und ist unter https://thejacksonlist.com/2023/04/08/benjamin-b-ferencz-1920-%e1%80%91/ zu finden.
Hinweis: Die Nürnberger Filmemacherin Ullabritt Horn veröffentlichte im Jahr 2015 den sehr sehenswerten Film „A Man can make a Difference“, s. https://www.wfilm.de/a-man-can-make-a-difference/.
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John Q. Barrett, 8. April 2023
Ich bin traurig und tief betrübt, mitteilen zu müssen, dass Benjamin Ferencz gestern Abend, am 7. April 2023, in seiner Wohnung in Boynton Beach in Florida verstarb. Ben war offiziell 103 Jahre alt, oder, wie er es lieber formulierte, 104 Jahre, nämlich in seinem 104. Lebensjahr.
Berrel Ferencz wurde um den 11. März 1920 (eine Geburtsurkunde ist nicht erhalten) in Transsylvanien geboren, damals ein Teil von Rumänien. Seine Eltern zogen mit ihm als Baby in die Vereinigten Staaten.
Als Benjamin wuchs er in New York auf, im „Hell’s Kitchen” genannten Viertel, wo er Armut ebenso wie verbreitete Kriminalität kennen lernte. Dennoch schaffte er es zügig über die öffentlichen Schulen aufs College und dann zum Abschluss an der Rechtsfakultät der Harvard University. Als einfacher Soldat kämpfte er im 2. Weltkrieg in der US-Armee, wo er dann als Mitglied einer Spezialeinheit Dokumente über NS-Verbrechen sammelte und an der Befreiung von Konzentrationslagern teilnahm.
Ab dem Frühjahr 1946 arbeitete Ben Ferencz als Mitglied der Anklagebehörde in Nürnberg. 1947/48 war er Chefankläger des Einsatzgruppenprozesses (United States v. Otto Ohlendorf, et al.). Es war sein erster Fall vor einem Gericht überhaupt. Er klagte die führenden Verantwortlichen für die Massenmorde in Osteuropa wegen Verbrechen gegen die Menschheit (“a systematic program of genocide”), Kriegsverbrechen und Mitgliedschaft in verbrecherischen Nazi-Organisationen an.
(Für Details und ein Video vom Prozess s. hier.)
Bens Anklagen stützten sich auf die Dokumente, die er von den Suchtrupps der Armee erhielt. Sie waren kurz, erschütternd und unwiderlegbar.
Über zwanzig Angeklagte der Einsatzgruppen wurden wegen des Mordes an fast einer Million Menschen verurteilt. Der Einsatzgruppenprozess war und ist der größte Mordprozess in der Geschichte der Menschheit. In den fünfziger Jahren kehrte Ben Ferencz in die USA zurück.
Den Rest seines Lebens verbrachte Ben als Anwalt von Holocaust-Überlebenden, als Juraprofessor, Schriftsteller und Vortragsreisender in der ganzen Welt. Er war ein Kämpfer für und Organisator von internationalen Institutionen, stritt lebenslang für Fortschritt nach dem Prinzip Frieden durch Recht, und war ein moralisches Vorbild für Millionen von Menschen.
Schon bei meiner ersten Begegnung mit Ben im Jahr 1999 wusste ich, dass er der am längsten lebende Nürnberger Ankläger sein würde.
Das war einfache Mathematik: Ben war so jung, gerade mal 26 Jahre, als er nach Nürnberg kam.
Ich wusste es aber auch, weil Ben, obwohl alles andere als groß, enorme physische Stärke bewies – er ließ keinen Tag seine Fitness-Gymnastik aus, die Kopfstände und viel Schwimmen einschloss.
Und ich wusste es wegen seiner Leidenschaft – „Never give up – Gib niemals auf!” war sein Motto und er lebte danach.
Und ich wusste es, weil Ben mir versichert hatte, dass er nicht sterben würde – „Ich hab keine Zeit fürs Sterben,“ sagte er, „glücklicherweise bin ich unsterblich, ich hab einfach zu viel zu tun.“
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Traurigerweise war diese eine Kleinigkeit etwas, worin Ben sich täuschte.
Aber in allem, wofür er stand und wofür er arbeitete, hatte er so recht! Er stand für den Wert eines jeden einzelnen Menschenlebens, die Erkenntnis, dass der Krieg das größte aller Übel ist, und für die Notwendigkeit, die Menschen vor diesem menschengemachten Übel auch mit den Mitteln des Rechts zu schützen.
Ich werde immer dankbar sein, dass Ben mein Lehrer und mein lieber, so großzügiger Freund war. Für mich und für alle war er ein Großer, in jeder Hinsicht.
Und zum Glück ist Ben Ferencz, durch die Erinnerung an ihn, durch sein Beispiel und seine Lehren, immer präsent. Denn es ist so viel zu tun.
Ehren wir ihn also indem seinem Motto folgen: Gib niemals auf!