Daniel Stahl – Neues zur Nazi-Jagd in Südamerika

26. Juni 2013 | Von | Kategorie: Rezensionen

Daniel Stahl: Nazi-Jagd: Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechern. Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts (Hrsg. von Norbert Frei), Bd. 15. Göttingen : Wallstein, 2013

Nazi-Jagd, das war jahrzehntelang der Kampf zu allem entschlossener Einzelkämpfer (Wiesenthal/die Klarsfelds) gegen die angebliche SS-Fluchtorganisation ODESSA. Seit einigen Jahren hat die Forschung nachgewiesen, dass es diese Organisation nie gab und die Flucht von NS-Tätern nach Lateinamerika in ihren realen, viel kleineren Dimensionen dargestellt.[1] Die jüngste Publikation hierzu ist Daniel Stahls: Nazi-Jagd : Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechern. Der Autor, Sohn deutschstämmiger paraguayischer Mennoniten, hat diese Dissertation in Jena vorgelegt. Er ist mit Europa und Lateinamerika vertraut, was zur Substanz seiner Arbeit beiträgt.

Die neuen Arbeiten zu geflohenen NS-Tätern[2] haben jeweils eine Fülle von Dokumenten erschlossen, die bis dahin einer Sperrfrist unterlagen oder die die Historiker ignoriert hatten. In dieser Forschungssituation stellen sich einige Fragen neu: Wenn es ODESSA nicht gab, wie dann haben sich die geflohenen NS-Täter organisiert? Wenn Auslieferung der Täter nicht einfach eine Sache des (fehlenden) politischen Willens war und ist, worin bestehen dann die Schwierigkeiten des zwischenstaatlichen Rechtsverkehrs (Stahl bringt hier einige fruchtbare Ansätze)? Wenn das Auswärtige Amt nicht einfach ein Verein von Komplizen[4], stellt Stahl auf einen kleinen Behelfssockel, statt sich mit seiner tatsächlichen Rolle gründlich auseinanderzusetzen. Immerhin zitiert er einige bewusste Falschmeldungen Wiesenthals, mit denen dieser taktische Ziele erreichen wollte. Dann wieder unterstellt er ihm ohne Begründung „Verschwörungstheorien“ (S. 208), was über das Ziel hinausschießt. Alles in Allem fällt er hier wie anderswo hinter den Stand der Forschung zurück. Wo genaue Analyse und die Diskussion kontroverser Positionen angesagt sind, flüchtet der Autor in den Konjunktiv. Im Hotel Maison Rouge in Straßburg soll (1944) eine Konferenz zur deutschen Nachkriegsplanung stattgefunden haben (S. 169), die deutsche Siedlung Colonia Dignidad in Chile „steht im Verdacht… ein Zufluchtsort für NS-Verbrecher“ gewesen zu sein (S. 239). Beate Klarsfeld machte eine Protestaktion in Paraguay, bei der ihr örtliche Oppositionelle helfen. Wer eigentlich sonst? Stahl rätselt über die gemeinsamen Motive. Die paraguayischen Sicherheitskräfte beenden die Aktion. Stahl: „Die Bilder und Fernsehaufnahmen von dieser Repression vermitteln der westlichen Öffentlichkeit automatisch den Eindruck, dass eine Weigerung, die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Verbrechen voranzutreiben, mit einer antidemokratischen Gesinnung (Der Stroessner-Diktatur, D.M.) zu tun haben müsse“. Wie viel Fernsehbilder und Konjunktive braucht es eigentlich um nachzuweisen, dass ein Diktator ein Diktator ist?

Stahls Arbeit ist eine Zwischenpublikation mit spezifischen Mängeln und Verdiensten. Sie enthält zahlreiche Unbeholfenheiten, Ungenauigkeiten, unscharfe Analysen und Fehler. Das Buch hat auch methodische Schwächen: Die Begriffe „Kriegsverbrecher“, „Justizflüchtlinge“ und „Kollaborateure“ verwendet Stahl nach Belieben und ohne die Andeutung einer Quantifizierung. Tatsächlich unterscheiden sich die drei Gruppen jeweils um ein Vielfaches, und der prominenteste Nazi, der nach Lateinamerika ging, Hans-Ulrich Rudel, gehörte zu keiner davon. Die Nazijäger bestehen bei Stahl fast nur aus wenigen prominenten Personen. Das Netzwerk derjenigen, die die NS-Flüchtlinge anonym beobachteten und gelegentlich angriffen, und die zahlreichen Journalisten, die die NS-Flüchtlinge aufspürten, kommen bei Stahl nicht oder nur sehr knapp vor, etwa, wenn ein argentinischer Jude auf der Suche nach Mengele in Brasilien verhaftet wurde (S. 158). Solche klandestinen Gruppen bildeten oft genug die reale Basis für die Aufspürung der Nazis.

Aus den „Nazi-Jägern“ werden im Laufe des Buches die „Vergangenheitsaktivisten“ (gemeint ist mit diesem irreführenden Ausdruck, dass die Akteure der Aufspürung untergetauchter NS-Täter zugleich die Geschichte der lateinamerikanischen Diktaturen aufarbeiten). Die argentinischen Urteile zu Erich Priebke (Beteiligung an einem Massaker in Italien,) und Josef Schwammberger (Ghettokommandant in Przemysl, beide Flucht nach Argentinien und Ausweisung) sind zum „zum festen Bestandteil der vergangenheitspolitischen Wende in Argentinien geworden“ (S. 346). Die nachdiktatorischen argentinischen Regierungen waren Teil eines widersprüchlichen Übergangsprozesses. Sie amnestierten die Menschenrechtsverbrecher der Diktatur und bemühten sich gleichzeitig, die europäischen Täter nach rechtsstaatlichen Vorgaben auszuweisen. Stahl zeigt dieses Dilemma auf, verbleibt aber im Deskriptiven.

Stahl trägt einiges zur Problematik der Auslieferung bei, tut sich aber insgesamt schwer damit. Hier wäre eine genaue Analyse der Akteure notwendig. Entscheidend sind die Justizbehörden der betreffenden Länder, dann die binationalen und internationalen Abkommen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind Regierungen die treibenden Kräfte. Der diplomatische Apparat kann aber nur ausführen, was die Justiz ihm vorgibt und was rechtlich möglich ist. Gewiss: Druck ist immer möglich, und er war oft genug nötig. Das Zusammenspiel von Justizbehörden, Außenministerien und freien Akteuren („Nazi-Jägern“) ist komplex,- es gibt Hinweise darauf, dass Wiesenthal die von ihm betriebene Auslieferung Rauffs aus dem Chile des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende dadurch behindert hat, dass er diesen öffentlich in die Ecke eines selbstherrlichen lateinamerikanischen Diktators stellte. Die Frage ist nicht zu klären, denn bald darauf putschte das chilenische Militär. Bei einem weiteren Auslieferungsbegehren der BRD an Chile wegen Rauff musste ein Rechtsstaat mit einer Diktatur über Rechtsnormen kommunizieren. Dieses dritte Begehren wegen Rauff war ein verzweifelter letzter Versuch oder symbolische Politik gegenüber der demokratischen westlichen Öffentlichkeit oder es setzte darauf, dass die Pinochet-Diktatur sich über die chilenische Verjährungsgesetzgebung und frühere Urteile des Obersten Gerichtshofs hinwegsetzte Sie lehnte das Begehren kurz und bündig ab. Die Asymmetrie solcher Auslieferungsbegehren wäre an diesem Beispiel mit juristischen und politischen Argumenten zu diskutieren. In Stahls Dissertation bleibt die Analyse der Auslieferungsproblematik ein Desiderat.

Zur Motivation der Akteure steuert Stahls Bemerkungen bei wie die, dass die „Nazi-Jagd“ einen „Ausweg aus der unbefriedigenden Situation“ bot, dass Privatpersonen in Österreich und Deutschland kaum Einfluss auf die Auslieferungs- und Strafverfahren hatten. Das greift zu kurz. Die Menschenrechts- und Solidaritätskampagnen der siebziger Jahre haben ein übernationales gemeinsames Subjekt, die globalen Menschenrechtsarbeiter_innen geschaffen, die dem Imperativ des „Nie wieder – nunca más“ folgen, denen das Prinzip über die Taktik geht, die ohne Hierarchie direkt kommunizieren. Es war Empathie mit einer deutlichen Komponente christlichen Engagements, die es zu einem gemeinsamen Anliegen machte, Massenmörder ihrer verdienten Strafe zuzuführen und so die Leiden der Opfer anzuerkennen und der Gesellschaft eine Perspektive der sozialen Gerechtigkeit zu öffnen. Stahl stellt solche Überlegungen gar nicht erst an.
Die Frage, warum der Kampf für die Menschenrechte im Westen in den siebziger Jahren links konnotiert ist, ist nicht leicht zu beantworten. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, die als Alternative zu amnesty international entstand, kam nie aus ihrem konservativen Schattendasein heraus. Amnesty international wurde zum Prototyp einer breiten Palette von Menschenrechtsorganisationen. Der starke Impuls, der damals von den Menschenrechtsgruppen ausging, hat auch mit der Position der Akteure gegenüber Nationalsozialismus und Faschismus zu tun. Sie knüpften an historische Erfahrungen an, um zeitgenössischem Unrecht entgegenzutreten. Die moralische und geografische Grenzenlosigkeit der Nazi-Verbrechen hatte den Blick für eine globale Menschenrechtsarbeit freigemacht. Es entstand eine überparteiliche „Partei der Menschenrechte“ (Helmut Frenz). Stahl nähert sich diesen Fragen tatsächlich an und gibt einige aufschlussreiche Materialien an die Hand, löst sie aber vorab in taktische Kalküls der Beteiligten auf.

Wie nun waren die NS-Täter organisiert? Stahl trägt hierzu wenig bei, und es ist auch nicht sein Hauptthema. Eine eingehende Beschäftigung nicht nur mit den Jägern, sondern auch mit den Gejagten würde derartigen Untersuchungen mehr Substanz geben. Die NS-Täter bildeten in der Tat Netzwerke. Ihr realer Kern war aber nicht ein Viertes Reich, sondern Geschäftsbeziehungen (bei Klaus Barbie in Bolivien und Friedrich Schwend in Peru Schmuggel, Waffenhandel, Betrug, Erpressung.) und Schutzmaßnahmen gegen diejenigen, die sie suchten und jagten (Schwend nennt es „jüdische Terrorkommandos“), bei Eichmann und Sassen (beide in Argentinien) publizistische Projekte und bei allen zusammen ein versprengter Haufen auf der Suche nach Rechtfertigung. Lateinamerika war für sie eine Behelfsbühne zur Selbstinszenierung der getreuen Helden. Auch der Rassismus wurde mit neuen Objekten inszeniert. Rauff versteht die Heirat seiner Söhne in Chile als Aufnordung: „Wenn er Chilene würde, würde der chilenische Volkskörper um einige gute Elemente wesentlich bereichert werden“ (aus einem vom Bundesnachrichtendienst abgefangenen Brief Rauffs). In Deutschland war der Nationalsozialismus nach 1945 nicht mehr geschichtswirksam. Der kreolische Faschismus, den geflohene NS-Täter sich zusammenbrauten, erhielt während der lateinamerikanischen Diktaturen der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch einmal praktische Relevanz, wie sie den deutschen Neonazis versagt blieb. Rauff und Barbie arbeiteten für die Geheimdienste Chiles und Boliviens. Von dort führen Verbindungen nach Argentinien, wo in einem Folterzentrum ein Hakenkreuz hing und jüdische politische Gefangene besonders hart behandelt wurden (Jacobo Timerman).

Zu den Verdiensten Stahls gehört das Kapitel über die kroatischen Ustaša-Flüchtlinge in Argentinien, die weit zahlreicher waren als die deutschen und österreichischen. Während des kalten Krieges waren die Verbrechen der Ustaša-Leute und anderer Kollaborateursgruppen in Ost- und Südeuropa aus der westlichen Wahrnehmung ausgeblendet. Stahl trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Zwei Kapitel handeln vom „Nazi-Gold“, das nach Lateinamerika gebracht worden sein soll, wobei Stahl am Ende nebenbei anmerkt, dass es diesen Schatz wohl nie gab.

Dieter Maier

[1] Goñi, Uki: The Real ODESSA .: How Perón Brought The Nazi War Criminals to Argentina. London : Granta, 2002,. span. Ausgabe: La ODESSA real, dt.: ODESSA : die wahre Geschichte : Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Berlin 2006. Und: Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich: Mythen der Zeitgeschichte. Berlin, Metropol 2007.

[2] Zu erwähnen ist auch Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht: wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck, Studienverlag, 2008.

[3] Hier wäre auf „Das Amt und die Vergangenheit“ (München, 2012) und die Kritik daran hinzuweisen.

[4] Guy Walters: Hunting Evil, London et al. (Bantam Press) 2009; Tom Segev: Simon Wiesenthal, München (Siedler) 2010.

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