Internationale Strafgerichtshöfe: Wie kam Deutschland zu seiner neuen Rolle?

23. Juli 2013 | Von | Kategorie: Rezensionen

Ronen Steinke: The Politics of International Criminal Law. German perspectives from Nuremberg do the Hague Hart Publishing, Oxford, 2012. 150. S.

Im September 1995 fand in Nürnberg eine Tagung statt, die im Nachhinein als wegweisend bezeichnet werden kann. Der Einladung waren unter anderen Richard Goldstone und Christian Tomuschat gefolgt. Dokumentiert sind die Beiträge in: Rainer Huhle (Hg.): Von Nürnberg nach Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht – Zur Aktualität des Nürnberger Prozesses (Hamburg 1996). Hinter diesen Titel – damals nicht nur als Wegbeschreibung zum ad-hoc-Jugoslawien-Tribunal , sondern auch als Aufforderung zur Konstitution eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes gedacht – werden zunehmend Fragezeichen gesetzt.
Der Jurist und Journalist Ronen Steinke (München) hat dazu jetzt eine knappe Untersuchung vorgelegt und kommt zumindest für Deutschland zu dem Ergebnis: das war kein gradliniger Weg, sondern eher ein “U-Turn”. Seine leitende Fragestellung ist: Wie kam die bundesrepublikanische Völkerrechtspolitik, die den Nürnberger Prozessen ablehnend gegenüberstand, zu ihrem großen Engagement für den IStGH?
Steinke untersucht im Einzelnen die (west)-deutschen Positionen zu Nürnberg und arbeitet die Gründe für das neue Engagement ab Mitte der 90er Jahre heraus. Eine völkerrechtliche Kernfrage ist dabei, wie mit dem Rückwirkungsverbot umgegangen wird und wer politisch Herr des Verfahrens ist. Die Untersuchung geht also über das Völkerrecht hinaus und schließt an die Politikwissenschaft an. Zentral ist dabei die in den Internationalen Beziehungen grundlegende Sicht auf die Weltpolitik: Das Verhalten von Staaten kann entweder dem „Realismus“ zugeordnet werden – zuerst immer das “nationale Interesse“ – oder dem Idealismus: zuerst Ausgleich, Verhandeln, Fortschritt mit und für die Normen (von Kants Völkerbundgedanken herkommend). Dazu nimmt Steinke noch einen Begriff aus der Geschichtswissenschaft, den des Narrativs, der “Geschichtserzählung”. Sowohl realistische als auch idealistische Politik ist aus innenpolitischen Gründen gehalten, für prägende historische Abläufe ein bestimmtes Narrativ zu bilden, das möglichst konsensfähig ist.
Der internationalen Strafjustiz geht es darum, Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen zu überwinden, aber auch zur historischen Wahrheitsfindung beizutragen. Dabei kann aus Sicht Steinkes weder das Problem der Selektivität zufriedenstellend gelöst noch ein konsensfähiges historisches Narrativ gestützt werden. Die Gerichte werden mit der kritischen Frage leben müssen: Wessen historische Wahrheit wird hier befördert? Ist die notwendige Auswahl der Fälle so gerechtfertigt? Wird das Desiderat individueller Verantwortlichkeit politischen Oppurtunitäten oder dem Prinzip der Repräsentativität geopfert? Der Autor macht die Konflikte vor allem vor dem Hintergrund des ICTY plausibel. Er diskutiert, ob es nicht einfacher wäre, als entscheidenden Maßstab die Schwere der Verbrechen zu nehmen. Aber “gravity” hängt auch von der moralischen Entrüstung in der Weltöffentlichkeit ab – hier führt Steinke den Begriff des „social alarm“ ein – und der Begriff der „Schwere“ verliert so seine „Objektivität“.
Die Gerichtshöfe finden sich in einem weiteren normativen Dilemma: Welchem demokratischen Souverän gegenüber hat sich ein internationaler Strafgerichtshof zu verantworten? Einer kosmopolitischen Öffentlichkeit? Dem Sicherheitsrat? Oder wäre nicht eine vollständige rechtliche Unabhängigkeit die Lösung?
Nach dieser Problemskizze analysiert Steinke die (west)-deutschen Bewertungen und Zielvorstellungen in Bezug auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Nach dem realistischen Prinzip des nationalen Interesses, so sein Ausgangspunkt, waren die durchweg ablehnenden Reaktionen nicht überraschend. Zwar konnten manche in Deutschland die „Geschichtserzählung“ der Alliierten – Verschwörung von Anfang an, tragende Beteiligung der Eliten der deutschen Gesellschaft – noch teilen; aber das Völkerrechtsverständnis, das hinter der Anklage stand, wurde nicht akzeptiert. Aus einem „rigorosen Rechtspositivismus“ heraus beharrten die deutschen Juristen – schon allein aus Gründen des „Selbstschutzes“, auf dem Prinzip des „Nulla poena sine lege“. Allein Hans-Heinrich Jescheck, der spätere Direktor des Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht schließt sich nicht der kollektiven Abwehr gegen die Idee von UN-Strafgerichtshöfen an, die bis zum Ende der Bonner Republik wirksam war. Er fordert schon 1951 einen UN-Strafgerichtshof.
Im dritten Kapitel kommt Steinke zum Fokus seiner Untersuchung: Mit der Aufgabe, das DDR-Unrecht strafrechtlich zu bearbeiten, hatte Deutschland die Problematik aus der Nachkriegszeit jetzt selbst durchzuarbeiten. Um das Narrativ “Unrechtsstaat DDR” anfangs der 90er Jahre zu verankern, musste also eine Abkehr vom Nullum-Crimen-Prinzip hin zum westlichen Nachkriegspostulat der strafrechtlichen Verfolgung von Staatsverbrechen vollzogen werden. Dies sei eine Abwendung vom Rechtspositivismus und eine überraschende Wiederkehr der Naturrechtsnormen im Sinne Gustav Radbruchs gewesen (S. 71): Die „historische Wahrheit“ über die beiden Diktaturen konnte so gefestigt werden.
1992 ging der Balkan-Konflikt in einen Krieg über. Deutschland lehnte im Sinne seiner Interpretation des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Politik Belgrads ab und hatte so ein Interesse daran, das „kroatische Narrativ“ zu befestigen. Daraus leitet Steinke ein deutsches Interesse an einem Strafgerichtshof ab, obwohl vom ursprünglichen Nachkriegsverständnis her seine Einsetzung durch die Nachfolge-Institution der Allierten – den Sicherheitsrat – misstrauisch machen müsste. Und er weist auch darauf hin, dass die rechtliche Zuarbeit für das ICTY von deutscher Seite her durchaus zögerlich war, die Auslieferung von Tadic im April 1995 kam nur durch Druck aus Den Haag zustande (S. 84). Auch die finanzielle Unterstützung war anfangs bescheiden. Aber schließlich sah die deutsche Politik doch die Vorteile einer neuen, an den Menschenrechten orientierten, idealistischen Politik. Mit ihr konnte sich sowohl die rot-grüne als auch die schwarz-gelbe Regierung in die westliche Politik des neuen humanitären Interventionismus zum Beispiel gegen Milosevic einreihen.
Entfaltet ist also hier eine Palette von teils sich widersprechenden, teils komplementären, teils nicht auf einmal einzulösenden Ansprüchen an einen Ständigen Strafgerichtshof. Und in diesem Feld spielt Deutschland im letzten Akt eine entscheidende Rolle. Warum? Wegen der Kompetenz seiner Völkerrechtler, wegen seines diplomatischen Geschickes neben, mit und notfalls auch mal gegen die Freunde aus dem Sicherheitsrat, auch wegen der Einmaligkeit der Konstellation: Die Gruppe der gleichgesinnten Staaten (die like-minded group), trieb zielgerichtet die Bildung eines ICC vorwärts, wohl wissend, dass sich das Projekt nur als vom Sicherheitsrat unabhängiges sinnvoll gestalten lässt. Das heißt: Mit und zugleich gegen die USA, mit einer Rolle für den Sicherheitsrat, aber doch in klar definierten Grenzen, kam in Rom ein Projekt ans Licht der Geschichte, auf dessen Geburt die gewitzten deutschen Völkerrechtler mit Recht anstoßen konnten. Die – fast schon als Innensicht formulierte – Schilderung dieses Prozesses ist der durchaus unterhaltsame Höhepunkt der Darstellung Steinkes: Der deutsche Weg von der national-beleidigten Abwehr nach 1945 zum kosmopolitisch-humanitären Akteur nach 1995 auf der Weltbühne.
Einige kritische Anmerkungen zum Schluss: Eine Präzisierung hätte die Spannung von Rechtspositivismus und Naturrecht verdient. Auch die Denk-Systeme von Realismus und Idealismus sind inzwischen stark differenziert worden, andere Ansätze wie der institutionentheoretische sind bedeutsam geworden. Der grüne Schwenk zum humanitären Interventionismus unter Joschka Fischer hätte einige ausführlichere Überlegungen ebenso verdient wie die völkerrechtlich folgenreiche Geschichte des Kampfes gegen die Impunidad in Lateinamerika, die sich ja durchaus auch im Erfahrungshorizont von Kai Ambos oder Christian Tomuschat niederschlägt. Unabhängig davon, wie man die wissenschaftliche Argumentation bewertet: Gut nachvollziehbar ist die Darstellung der Genese gerade durch die Interviews, die der Autor mit den Völkerrechtlern Ambos, Tomuschat, Kreß oder Zimmermann, aber auch mit Akteuren in Rom und Den Haag wie Kaul, Wilkitzki oder Brammertz geführt hat.
Otto Böhm

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