Juristisch-politische Grundlagen der Arbeit der “Koalition gegen Straflosigkeit”

11. April 2001 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit

von Stefan Herbst
Rede anlässlich “25 Jahre Militärputsch und Völkermord in Argentinien”
Juristisch-politische Grundlagen der Arbeit der “Koalition gegen Straflosigkeit
Hearing am 21 März 2001 im Gebäude des Deutschen Bundestags

Liebe Angehörige der Verschwundenen, liebe Gäste,

sehr geehrte Damen und Herren,

Ich soll in meinem Vortrag die juristischen und politischen Grundlagen der Arbeit der “Koalition gegen Straflosigkeit” vorstellen. Ich werde dies in drei Themenkomplexen entfalten. Erstens werde ich den bisherigen Umgang mit den 100 verschwundenen Deutschen bzw. Deutschstämmigen als einem der”größten Desaster der bundesdeutschen Außenpolitik” beschreiben. Zweitens werde ich die heute morgen eingereichten zwei Völkermordanzeigen in ihren politischen Gesamtkontext einordnen. Drittens werde ich die Empfehlungen und Problemanzeigen ansprechen, die sich aus der Arbeit der Koalition gegen Straflosigkeit für Rechtssprechung und Politik ergeben.

I. Eines der größten Desaster der bundesdeutschen Außenpolitik

vor genau 25 Jahren befanden sich führende Generäle der drei Waffengattungen in Argentinien in einer hektischen Schlußphase, um die letzten Absprachen und Anweisungen für den Militärputsch zu treffen. Geheimbotschaften wurden ausgetauscht. Detaillierte Lagepläne wurden vorgelegt. Das Drehbuch für den Militärputsch in den letzten Einzelheiten geregelt: Befehle wurden generalstabsmäßig vorbereitet: Wer wird sprechen, welche Kommandos werden wann und wo tätig werden. Wer wird festgenommen, wo werden die geheimen Folterlager errichtet, wer muß vernichtet werden. Zu dieser Zeit wurden auch die “befreundeten Staaten” und wichtige, befreundete Institutionen des Landes über den bevorstehenden Militärputsch informiert – die USA, wahrscheinlich Chile, Brasilien. England, Frankreich – und, wie der damalige Botschafter Jörg Kastl bestätigt: auch die Bundesrepublik Deutschland!

Das Drehbuch für den Staatsterrorismus, für das bewußte und kalkulierte Überschreiten jeglicher Sicherheiten, die eine Verfassung, ein Staat seinen Bürgern garantiert, wurde in die Tat umgesetzt.

Der Militärputsch wurde ein voller Erfolg. Die wichtigsten Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland äußerten Befriedigung über die Herstellung von Ordnung und Stabilität, die wichtigsten Männer der katholischen Kirche ebenfalls, die zu erwartenden Störungen von Menschenrechtsorganisationen gelang es zumindest vorläufig zu neutralisieren. Gleichzeitig konnten Polizei und Militärkommandos Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat die Listen der zu entführenden Personen abhaken.

Es wird kein Monat vergehen, in dem in dieser Zeit nicht Deutsche oder deutschstämmige Bürger spurlos verschwinden, ihre Angehörigen bedroht, die Güter der Verschwundenen geraubt und unter die Militärs verteilt werden. Heute wissen wir: In den sieben Jahren Militärdiktatur wurden etwa hundert Deutsche oder Deutschstämmige entführt. Wir wissen auch: Es gibt eine größere Dunkelziffer von Verschwundenen, die uns bis heute unbekannt geblieben sind. Neue Fälle von Schwerstkriminalität und Raub werden der Koalition gegen Straflosigkeit erst in diesen Tagen bekannt. Wir wissen heute: Es gab nicht nur die Fälle der Verschwundenen – es gab auch Deutsche oder Deutsche Juden, die um ihr Hab und Gut gebacht wurden. Millionensummen sind hier im Spiel.

Worüber wir heute hier zusammensitzen ist nicht vergangen und vorbei, wie uns immer wieder entgegengehalten wird. Es handelt sich auch nicht um bedauerliche Einzelfälle, die in der menschlichen Geschichte entstehen.

Es handelt sich hier um eines der größten Desaster, das die Deutsche Diplomatie nach dem zweiten Weltkrieg erlitten hat. Ein anderer Staat läßt an die 100 Deutsche und Deutschstämmige verschwinden, vergeht sich an den Opfern, erpresst, foltert, vergewaltigt und mordet, raubt eine bisher völlig unbekannte Anzahl Deutscher aus – unterwirft tausende von Freunden und Angehörigen dem Terror aus Angst und Unwissenheit – und Deutschland schweigt? Meine Damen und Herren: Deutschland schweigt. Und ich muß leider trotz aller unserer Bemühungen sagen: Deutschland schweigt immer noch!

Ich kann hier nicht auf die vielen und oft ernüchternden Gespräche, die wir mit Politikern und Beamten geführt haben eingehen. Aber letztes Beispiel für eine m.E. fehlende Sensibilität für die Anliegen der Opfer ist die Absage von Bundeskanzleramt und Außenministerium die Opfer zu empfangen. Und zwar hatten wir um ein Gespräch auf höchster politischer Ebene, also auf Minister- bzw. Staatssekretärebene gebeten. Es wurden uns Terminschwierigkeiten für die Absage angegeben. Offensichtlich sind in den letzten drei Tagen sämtliche Staatssekretäre und Minister im Bundeskanzleramt und im Außenministerium auf Reisen.

Ebenso ernüchternd fiel die Bitte an das Auswärtige Amt aus, während der diesjährigen Menschenrechtskommission die fehlende Zusammenarbeit Argentiniens mit den Prozessen in Deutschland anzumahnen. Mündlich antwortete Herr Poppe vor Zeugen: Argentinien sei nicht ein Land mit aktuell schweren Menschenrechtsverletzungen. Man müsse sich mehr den aktuellen Problemen zuwenden. Es sei nicht opportun, Argentinien bei der Menschenrechtskommission zu erwähnen. Man benötige die lateinamerikanischen Länder, um die eigenen Resolutionen durchzubringen.

Dieser Umgang mit den Opfern ist m.E. hinreichender Beleg für das nach wie vor mangelnde Interesse von Bundeskanzleramt und Außenministerium, an der Aufklärung der Schicksale der Verschwundenen federführend mitzuarbeiten. Diese beiden Ämter der Bundesregierung haben offensichtlich noch nicht begriffen, dass das Verbrechen des Verschwindenlassens fortbesteht, dass die Angehörigen in Argentinien weiterhin latent und offen bedroht werden, dass die Ungewissheit über den Verbleib von geliebten Personen eine schwere Traumatisierung und Folter darstellt, die nur geheilt werden kann, wenn endlich Wissen das schreckliche Warten, gepaart mit Angst, Hoffnung und Ungewissheit erlöst. Der Unrechtscharakter dieser Geschehnisse wird offensichtlich bagatellisiert und historisiert, d.h. als etwas Vergangenes abgetan. Die Angehörigen und die Prozesse werden als Störfaktoren für das diplomatische Spiel verstanden. Ihre Interessen werden diffusen, nicht offen dargelegten diplomatischen Interessen erneut geopfert. Damit ist die jetzige Bundesregierung auf dem besten Weg, das beschämende und skandalöse Verhalten von vor 25 Jahren zu wiederholen. Wo denn, so möchte man fragen, wenn nicht in der Menschenrechtskommission ist der Platz für Deutschland, um das Schicksal der 100 verschwundenen Deutschen einzuklagen? Wer, wenn nicht die Bundesregierung ist dazu verpflichtet dies zu tun? (Wer, wenn nicht der Bundeskanzler und die Bundesminister sind mit ihrem Eid, Unheil vom Deutschen Volk abzuwenden, moralisch und politisch in der Verantwortung, wirklich alle Hebel in Gang zu setzen, um endlich, endlich 100 verschwundene Deutsche aufzufinden?)

Auch wenn die Deutsche Politik bisher nur unzureichend oder sogar enttäuschend reagiert hat: Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit haben sich anders verhalten: Zum Glück haben mittlerweile viele Journalisten begriffen, dass diese Katastrophe deutscher Außenpolitik nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden kann.

Die Koalition gegen Straflosigkeit hat einige hunderttausend Mark ausgegeben, um diese 100 Fälle in Deutschland endlich auf die Tagesordnung zu setzen. Nicht gerechnet sind dabei die unzähligen ehrenamtlichen Stunden und Überstunden, die von vielen Menschen aufgebracht werden. Menschen, die sich fast schon Tag für Tag des Schicksals der Verschwundenen annehmen, die in den Akten suchen und blättern, die vor Ort reisen, um mit Zeugen und Angehörigen zu sprechen, die in aufreibender, detektivischer Kleinarbeit Daten und Fakten zusammentragen. Rechtsanwälte, die auf finanziell lukrative Fälle verzichten und Nachteile in Kauf nehmen, um unsere Fälle bearbeiten zu können.

Wir, Privatpersonen, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen stehen hinter den Opfern. Aber wir verlangen als Stimme der Zivilgesellschaft von Politik und Justiz gleichermaßen, dass sie endlich tun, was ihres Amtes ist. Forschen, Ermittlungen anstellen, Druck ausüben, politisch tätig werden – und deutlich machen: Deutschland wird das von langer Hand geplante Verschwindenlassen von 100 Staatsbürgern nicht einfach hinnehmen. Deutschland will Aufklärung und fordert Rechenschaft von den Verantwortlichen.

Dabei hat die Bundesregierung gezeigt, daß sie handeln kann, wenn sie nur will. Denken Sie etwa an den Einsatz für das entführte Lehrerehepaar in Philippinen. Aber für die etwa 100 Deutschen oder Deutschstämmigen Verschwundenen in Argentinien bleiben leider oft nicht mehr als Mitleid und Lippenbekenntnisse übrig.

Woher kommt dieses unerklärliche Zaudern? Liegt das an einer schwerfälligen, bequem gewordenen Bürokratie? Oder meint man tatsächlich, man könne 100 Verschwundene einfach zu den Akten legen? Man könne mit einem Land normale, freundschaftliche Beziehungen pflegen, dessen Regierung nicht nur nichts für die Aufklärung tut, sondern sogar die mutmaßlichen Mörder und Folterer befördert? Macht man hier nicht allzu schnell gemeinsame Sache mit den Tätern? Ist man bereit, 100 deutsche Verschwundene auf dem Schachbrett der Diplomatie für höchst zweifelhafte Interessen – und man wird fragen müssen: Welche sind es denn, die dieses Opfer rechtfertigen? – zu opfern?

Dabei steht die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung auf dem Spiel: Wie ernst sind die deutschen Bekenntnisse zu den Menschenrechten zu nehmen, wenn am Ernstfall – und das sind die 100 Verschwundenen Deutschen allemal – den Regierungen signalisiert wird, dass die Bundesregierung nicht bereit ist, außenpolitische Verstimmungen auf sich zu nehmen, um diese Menschen zu retten oder wenigstens eine Aufklärung ihres Schicksals zu erreichen?

Hinzukommt ein weiterer Aspekt, der für mich fast ebenso wichtig ist: Welchen Schutz, ist eigentlich unser Staat bereit, seinen Bürgern zu gewähren?

Auch deshalb denke ich, dass von diesem Hearing im Bundestagsgebäude ein Signal ausgehen sollte: Berechenbare deutsche Außenpolitik muss ihren Prüfstein an dieser Katastrophe der deutschen Diplomatie in der Nachkriegsgeschichte haben. In Zukunft wird sich deutsche Politik und die deutsche Justiz auch daran messen lassen müssen, was sie zur Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen in Argentinien beigetragen hat.

II. Die Völkermordanzeige:

Obwohl an die 100 Deutsche in diesen Jahren verschwunden sind, bildet diese Gruppe nur einen kleinen Ausschnitt des verbrecherischen Handelns der Militärdiktatur. Insgesamt wird die Zahl der Verschwundenen allein auf 30.000 Menschen geschätzt. Wieviele Menschen darüberhinaus gefoltert, bedroht, ermordet, terrorisiert oder beraubt wurden ist nie eingehend untersucht worden. Aber Ausmaß, Logik, die systematische und geplante Durchführung von Regierungskriminalität, sowie deren Folgen, dem wir hier gegenüberstehen können begrifflich angemessen nur mit dem relativ neuen Ausdruck “Völkermord” umschrieben werden.

Genozidprozesse sind, wie der Direktor des erst 1994 in Bochum gegründeten Instituts für Diaspora- und Genozidforschung, Mihran Dabag, richtig sagt, “sozial sich vollziehende, historisch und sozial konstituierte Prozesse, die im Kontext gesamtgesellschaftlicher, vielmehr auch gesamtjahrhundertlicher Betrachtungen der Entwicklung moderner Identitäts- und Nationenkonstruktionen diskutiert werden können.” Genozide sind deshalb auch nicht einfach abgeschlossene Phänomene, die mit dem Tod der Opfer beendet wären. Vielmehr beweisen sie, “ihre Relevanz erst nach dem Tod der Mitglieder der definierten Zielgruppe.”

Für Argentinien bedeutet dies: Wer immer Argentinien als sozusagen abgeschlossenen Fall betrachtet, irrt sich. Wir sind erst am Anfang eines Prozesses, den die argentinsichen Militärs mit dem Genozid der 70iger und 80iger Jahre begonnen haben. Wir – und auch die argentinische Gesellschaft – fangen erst an zu begreifen, was eigentlich geschehen ist. Und dieses Begreifen wird um so mehr erschwert, als die Täter von damals bis heute mehr oder weniger direkt an der Macht beteiligt sind und Macht ausüben. Den Tätern von damals ist es – bisher mindestens – gelungen, eine Öffnung der Archive zu verhindern. Politisch läßt sich derzeit in Argentinien schwer etwas bewegen. Das ist aber auch kein Wunder. Das Genozid hatte insofern Erfolg, als es eine ganze Generation kritischer und sozial engagierter Kräfte der Bevölkerung vernichtet hat. Es handelte sich um die 68iger und Ausläufer-Generation.

Um uns eine Ahnung von dem zu geben, was damals in Argentinien geschah, bräuchte man doch nur die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn ein ähnlicher Typ von Genozid, nämlich ein “ideologisch und entwicklungsbedingter Genozid” in Deutschland stattgefunden hätte: Wer unter den heute “Regierenden” hatte damals quer zu den Vorstellungen der Herrschenden gestanden? Die Namen derer, die damals in Argentinien die ersten Opfer gewesen wären, werden ja derzeit bei uns wegen ihrer 68iger Vergangenheit heftig diskutiert.

Mir scheint an den heute vormittag eingereichten Anzeigen wichtig: Wir betreten hier einen neuen heuristischen Horizont. Argentinien ist nicht nur unter dem Begriff von Staatsterrorismus oder dem der Verschwundenen zu diskutieren. Argentinien ist unter dem Begriff Genozid in seiner breiten theoretischen Diskussion, wie sie unter Wissenschaftlern stattfindet, zu verorten. Der Genozidbegriff hat deshalb eine heuristische Funktion: Er hilft uns, Theologen, Geschichtswissenschaftler, Juristen und Politiker zu begreifen und beschreiben zu können, was in den sieben Jahren Militärdiktatur in Argentinien geschehen ist. Wichtig ist: Die Diskussion fängt mit diesen Anzeigen erst an. Und eine juristische Engführung gilt es von vorneherein zu vermeiden. Natürlich hat die Genozidkonvention der Vereinten Nationen 1948 ein gewisses Raster vorgegeben. Aber auch hier gilt: Das Raster ist gerade einmal 53 Jahre alt. Wenige Juristen haben sich mit dem Genozid in seiner Breite der Erscheinungsformen eingearbeitet. Es wird darum gehen, auch in unserem Fall das vorhandene Raster der Genozidkonvention unter dem Blickwinkel der sich rasant entwickelnden Genozidforschung auszulegen und zu interpretieren. Ich denke, dass erste recht gut gelungene Versuche Ihnen heute von unseren Juristen vorgelegt werden.

Hier gilt es also, noch viel an Denk- und Forschungsarbeit zu leisten. Und ich hoffe, dass die heute eingereichten Völkermordanzeigen ein Beitrag dazu sind, auch unter Deutschen Völkerrechtlern einen entsprechenden Diskussionsprozess in Gang zu setzen. Es liegt m.E. auch an uns allen hier, dafür zu sorgen, dass diese Anzeigen nicht mit einigen dürren juristischen Ausführungen abgewiesen werden. Damit würde man weder den Opfern des Genozids, noch der argentinischen Gesellschaft wirklich gerecht werden können. Wir werden heute noch hören, dass die Juristen in Spanien uns gerade in der Diskussion um Argentinien einen großen Schritt voraus sind. Aber dies muß ja nicht so bleiben.

III. Neuland: Empfehlungen und Problemanzeigen

Im dritten Teil meines Beitrages möchte ich Ihnen in einer kurzen Zusammenfassung die lange Liste von Problemanzeigen und Handlungsbedarf aufzeigen, die wir als Koalition gegen Straflosigkeit in drei Jahren produktiven Engagements entdeckt und aufgedeckt haben. Es ist kein Zufall, dass wir heute hier im Reichstagsgebäude, d.h. unter den kritischen Augen von Sachkennern, Politik und Öffentlichkeit auftreten. Wir wissen, dass die Problemanzeigen, auf die wir gestoßen sind, unsere Kräfte als NGOs bei weitem übersteigen. Nur wenn Wissenschaftler, Öffentlichkeit und auch Politiker mit ihren weit besser ausgestatteten Apparaten anfangen, die von uns aufgezeigten Problemfelder anzupacken, werden diese Problembereiche, die ich im Folgenden kurz benennen werde, zu einem produktiven Ergebnis geführt werden können.

1. Juristische Problemanzeigen:

Als erstes möchte ich hier ein grundsätzliches Problem ansprechen: Es ist unserer Meinung nach ein für den deutschen Rechtsstaat höchst bedenklicher Vorgang, wenn trotz der klaren gesetzlichen Verpflichtungen die deutschen Strafverfolgungsbehörden 25 Jahre die dringend notwendigen Ermittlungsverfahren nicht einmal für die deutschen Opfer eingeleitet haben. Wo müssen die Gründe für dieses Versagen gesucht werden? Hat die Justiz deshalb keine Ermittlungen eingeleitet, weil es außenpolitisch nicht opportun war?

Ein zweiter Bereich, den ich ansprechen möchte, ist die Kategorie der jüdischen Fälle, die wir vor nun fast schon zwei Jahren (Oktober 1999) eingereicht haben. Was bis heute ungeklärt ist, ist die Frage nach dem Schutzbereich des § 7 des Strafgesetzbuches.

Ein drittes Problemfeld, auf das wir mit unseren Fällen stoßen, ist, dass das Deutsche Strafrecht gewisse Straftatbestände, wie z.B. das Verschwindenlassen gar nicht kennt, diese also auch nicht unter Strafe stellt. Das Verschwindenlassen ist aber durchaus eine eigene Form von Verbrechen. Es handelt sich um ein Verbrechen, das, bis zur Aufklärung des Verbleibs des Opfers, ständig begangen wird, d.h. also nicht abgeschlossen ist und deshalb auch nicht verjähren kann. Insofern müßten dringend vom Gesetzgeber diese neuen Straftatbestände geschaffen werden.

Hinzukommt das weite Feld fehlender Ausführungsbestimmungen, die die Umsetzung internationaler Rechtsentwicklungen im Deutschen Strafrecht bisher verhindern. Hier gilt es schnell Abhilfe zu schaffen.

Neben diesen eher rechtsdogmatischen Problemstellungen stoßen wir auf ein weites Problemfeld bei der Durchführung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungstätigkeiten:

Die Verbrechen mit denen wir es zu tun haben, können wegen ihres staatsterroristischen Hintergrunds nicht mit den herkömmlichen Mitteln einer durchschnittlich ausgestatteten Staatsanwaltschaft bearbeitet werden. Da die Taten sich noch dazu im Ausland zugetragen haben, müssen völlig neue, aber auch kostspielige Ermittlungswege beschritten werden.Die Koalition gegen Straflosigkeit hat deshalb schon seit einiger Zeit an die zuständigen Behörden appelliert, die Staatsanwaltschaft mit den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten. Dies ist aber nach unserer Ansicht bis heute nicht hinreichend geschehen. Wir gehen davon aus, daß für die nächsten beiden Jahre mindestens zwei volle Stellen eingerichtet werden müßten. Es gibt bisher gerade einmal zwei halbe Stellen. Ich darf deshalb nochmals den dringenden Appell an die bayerischen Justizbehörden richten, die Staatsanwaltschaft mit den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten. Auch auf Grund der schwierigen politischen Implikationen, um die es sich handelt, wäre die Einrichtung einer Sonderstaatsanwaltschaft, vergleichbar etwa mit jener, die DDR-Regierungskriminalität aufgearbeitet hat, ein wirklicher Fortschritt für schnelle und effektive Ermittlungstätigkeiten.

2. Politische Problemanzeigen:

Uns ist klar, dass wir von Deutschland aus nur kleine Schritte zur Beendigung der Straflosigkeit in Argentinien gehen können. Aber es gilt auch: Argentinien hat immer schon auf Deutschland und Europa geblickt. Was hier in Europa geschieht, hat Auswirkungen auch bis auf das ferne Argentinien. Demokratische Politiker in Europa müssen unserer Meinung nach ihren Kollegen deutlich machen: Demokratie und Rechtsstaat sind nicht auf dem Boden von Straflosigkeit für Massenmörder zu schaffen. Deshalb ist es unseres Erachtens auch im mittel- bis langfristigen Interesse unserer Politik, ernsthaft die Straflosigkeit in Argentinien anzugehen. Dazu stellen die Ermittlungen in Deutschland den stärksten Hebel dar, den je Deutsche Politik gehabt hat, um dieses Anliegen legitimerweise und ohne falschen interventionistischen oder kolonialistischen Zungenschlag zu verfolgen.

Dennoch stoßen wir innerhalb der politischen Klasse bisher auf wenig Problembewußtsein.

Die Koalition gegen Straflosigkeit geht davon aus, dass, je weiter die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft voranschreiten, umso mehr auch die Deutsche Politik gefordert sein wird. Dies fängt jetzt schon beim Umgang mit den in Argentinien vorliegenden Rechtshilfeersuchen an. Ist die Deutsche Außenpolitik bereit, Druck auszuüben, damit die argentinische Seite, diesen Rechtshilfeersuchen nachkommt. Oder – und das scheint sich bisher anzudeuten, geht man weiterhin auf Schmusekurs, nur um keinen Konflikt mit dem wirtschaftlichen Partnerland einzugehen. Ich habe im ersten Teil schon davon gesprochen, dass ich dies für ein skandalöses Verhalten halte. Aber im Verhältnis zu den Herausforderungen, die sich an die Deutsche Politik stellen werden, wenn erst einmal ein Haftbefehl vorliegt, wenn es tatsächlich gelingt, den ein oder anderen Täter irgendwo im Ausland zu stellen, und dann sogar möglicherweise ein Gerichtsverfahren in Gang kommen wird, ist dies nur ein allererster Anhaltspunkt für den Ernst der Lage.

Aus diesem Grund hat die Koalition jüngst bei einer Fachtagung in Bad Boll mit Vertretern des Justizministeriums und des Außenministeriums sowie den Justizbehörden Bayerns den Vorschlag gemacht, eine “ad hoc-Arbeitsgruppe” zu den Strafverfahren gegen argentinische Militärs einzurichten. Die juristische wie außenpolitische Lage ist derart komplex, dass es unseres Erachtens dringend geboten ist, eine solche ad-hoc Arbeitsgruppe bestehend aus BMJ, AA, Vertretern der Länder sowie der nichtstaatlichen Organisationen zu bilden. Auf dieses Angebot hat man bisher faktisch nur ausweichend reagiert. Unser Angebot zur Zusammenarbeit liegt vor – wir erhoffen, dass die staatlichen Stellen darauf reagieren.

Mit unseren Anzeigen haben wir aber nicht nur komplexe außenpolitische Fragestellungen in Bewegung gebracht. Wir meinen auch, daß parallel zu den juristischen Prozessen auch an einer Aufklärung und politischen Neubeurteilung der Rolle der Bundesrepublik während des Völkermords in Argentinien gearbeitet werden muß. Obwohl das Außenministerium bisher jede “Komplizenschaft” mit der Militärdiktatur energisch von sich gewiesen hat, so stellt sich doch die Frage, ob der Völkermord in Argentinien nicht durch “Schutzmächte toleriert” wurde d.h. durch bewußtes Hinwegsehen und das Unterlassen von Handlungen gefördert wurde. Dies dürfte zweifelsohne damals durch das Verhalten der Bundesdeutschen Politik der Fall gewesen sein und bedarf deshalb einer Aufarbeitung in mehrfachem Sinne.

Eine Entschuldigung gegenüber den Opfern ist von der Bundesdeutschen Regierung gefordert.

Eine parlamentarische Diskussion über das Verhalten der Deutschen Politik während und nach der Militärdiktatur ist dringend geboten. Erst wenn politische Entscheidungsträger sich diesen Fragen stellen, wird es möglich sein, zu einem klaren Verhältnis zur Militärdiktatur in Argentinien und zur eigenen Vergangenheit zu kommen

Eine unabhängige Expertenkommission sollte die notwendigen Expertisen über die Verstrickungen bundesdeutscher Politik in das genozidäre Projekt der argentinischen Militärs erstellen. Es gilt sowohl den Komplexen Waffenhandel und Militärberatung als auch das Verhalten von Wirtschaft, sowie das Verhalten von Diplomatie, Dt. Botschaft, Außenministerium Bundeskanzleramt oder das des Deutschen Sportes aufzuarbeiten.

Wer sich nicht erinnert, ist dazu verurteilt die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die bisher fehlende Bereitschaft zur Erinnerung innerhalb der Politik führt geradewegs dazu, daß man Fehleinschätzungen aufsitzt, daß heute wie damals den Opfern nicht genügend Schutz zuteil wird.

Die Opfer blicken mit ihren leeren und doch so erfahrungsvollen Augen auf uns. Werden Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Kraft haben, diesen Blick zu erwidern?

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* Missionszentrale der Franziskaner

Menschenrechtsreferent, Sprecher der Koalition gegen Straflosigkeit

Albertus Magnus Str. 39

53177 Bonn

Tel.: 0228-9535320

FAX.: 0228- 9535441

e-mail: herbst.mzf@t-online.de

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