Militärregime und Völkermord aus politikwissenschaftlicher Sicht

12. August 2001 | Von | Kategorie: Weltregionen, Amerika

von Detlef Nolte

Unbestreitbar ist, dass während der letzten argentinischen Militärdiktatur, dem „proceso” (1976-1983), massiv die Menschenrechte verletzt wurden und das argentinische Militärregime von allen Diktaturen im südlichen Lateinamerika die meisten Menschenleben forderte. Die Zahlen schwanken zwischen 9.000 und 30.000 Personen, die genaue Zahl werden wir vermutlich nie erfahren. Dass nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind, ist allein auf den Druck von außen, die internen Konflikte im Militärregime und das Debakel im Malwinen-Konflikt zurückzuführen. In einer erst kürzlich veröffentlichten Biographie mit dem Titel „Der Diktator” hat Ex-Juntachef Videla in einem darin enthaltenen Interview offen das heimliche „Verschwindenlassen” von Regimegegnern verteidigt, weil die argentinische Bevölkerung Massenexekutionen nicht akzeptiert hätte. Der Massenmord als solcher wird als völlig legitim erachtet.

Was unterscheidet die Repression in Argentinien von anderen lateinamerikanischen Militärdiktaturen dieser Epoche? Vergleicht man Argentinien mit Chile, wo wir mittlerweile durch die teilweise Veröffentlichung von Dokumenten des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA und anderer Regierungsstellen über zusätzliche Informationen verfügen, so fällt auf:

  • In Chile entfielen die Hauptrepression und die größte Zahl der Todesopfer auf die Wochen und Monate unmittelbar nach dem Putsch. Die Liquidierung von Regimegegnern hatte zwei klare Ziele: die Beseitigung oder Abschreckung von Personen, denen die Militärs in einer Phase, in der sie noch ihre Macht konsolidierten, ein Widerstandspotential zuschrieben. Dies zeigt sich deutlich am Fall der „Todeskarawane”, wegen derer sich Pinochet zur Zeit – noch – vor Gericht verantworten muss. Danach war die Beseitigung von Regimegegnern eher selektiv und weitgehend zentral über die Geheimpolizei gesteuert. Nur ein Teil der Streitkräfte war nach der Putschphase, während der die gesamten Sicherheitskräfte an der Unterdrückung von Repräsentanten und Anhängern der Allende-Regierung beteiligt waren, in die institutionalisierte Repression involviert. Neben der Vernichtung von Regimegegnern wurde in großem Umfang auf Maßnahmen wie die zwangsweise Exilierung von tatsächlichen oder potentiellen Regimeoppositionellen zurückgegriffen.
  • In Argentinien stand der Terror weit weniger in einem zeitlichen und instrumentellen Zusammenhang zur Machtkonsolidierung der Militärs, er war weit weniger selektiv, hochgradig dezentralisiert und umfasste fast die gesamten Streitkräfte. Eine derartige Repressionspolitik geht zwangsläufig weniger vom individuellen Regimegegner aus, der als Bedrohung wahrgenommen wird und deshalb im Extremfall vernichtet werden muss, sondern von Oppositions- oder Feindgruppen, die relativ breit definiert sind, und über deren Zusammensetzung und Liquidierung in der militärischen Führung und im Offizierkorps ein breiter Konsens bestand.

Die relativ hohe Zahl an Todesopfern, die das argentinische Militärregime forderte, und die aus der Sicht des Regime relativ breite Definition der potentiellen Opfergruppen werfen die Frage auf, ob es sich im argentinischen Fall zumindest in Ansätzen um einen Genozid an Teilen des eigenen Volkes handelt; im Bewusstsein der Tatsache, dass nach der vorherrschenden Interpretation des Völkerrechts, politisch definierte Gruppen nicht unter die Genozidklausel fallen. Obgleich die spanische Audiencia Nacional – in einer abweichenden Rechtsauslegung – den Genozidbegriff auch auf den Versuch der Liquidierung nationaler Gruppen bezogen hat.

Folgende Argumente sprechen aus politikwissenschaftlicher Sicht dafür, den Massenmord durch das argentinische Militärregime als Genozid an Teilen des eigenen Volkes einzuordnen:

  1. Das weitgefächerte, ausgeklügelte System der Gefangenenlager, die Systematik bei der Ermordung und die große Zahl der Opfer sind Indizien dafür, dass die Militärs eine Vernichtungsmaschinerie aufgebaut haben, die nur bedingt auf die Verfolgung politischer Gegner, die eine reale oder potentielle Bedrohung für das System darstellten, ausgerichtet war, sondern auf die Vernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen bzw. gesellschaftlicher Subkulturen abzielte.
  2. Das argentinische Militär definierte sich im Krieg gegen einen inneren Feind, der nur zu einem Teil politisch definiert war: die bewaffneten Gruppen der Stadtguerilla und ihre unmittelbaren Unterstützungsgruppen. Darüber hinaus waren die Militärs nach einem organizistischen Staatsverständnis bestrebt, die argentinische Nation von aus ihrer Sicht kranken Elementen zu befreien, gegebenenfalls auch durch eine Notoperation. Die Militärs beriefen sich auf die abendländisch christlichen Werte und die argentinische Nation. Wer zur argentinischen Nation gehörte, definierten die Militärs. Die nationalen Gruppen, die nicht dazu gezählt wurden, waren in einer Art Kreuzzug – Videla spricht in diesem Zusammenhang von einem aus christlicher Sicht „gerechten Krieg” („schmutzige Kriege” gibt es nach seiner Geschichtsinterpretation nicht) – der Vernichtung frei gegeben. Es handelte sich dabei nur zum Teil um eine eng umgrenzte politische Gruppe, letztlich sollten bestimmte Subkulturen vernichtet werden. Dazu gehörten engagierte Gewerkschafter, kritische Intellektuelle, bestimmte Wissenschaftler (wie z.B. Sozialwissenschaftler), kritische Journalisten, sozial engagierte Christen (bzw. bestimmte religiöse Orden, die mit der Befreiungstheologie in Verbindung gebracht wurden), jüdische Mitbürger (insbesondere wenn diese noch weitere von den Militärs als negativ erachtete politische oder soziale Kriterien aufwiesen). Betroffen war potentiell jede Gesellschaftsgruppe, die nicht dem Weltbild der Militärs entsprach.
  3. Der Sachverhalt, dass es sich nicht um klar definierte politische Gruppen handelte, zeigt sich u.a. daran, dass die militärische Bedrohung des Regimes bereits 1976 weitgehend neutralisiert war, die Tötungsmaschinerie aber weiterlief. Die Systematik der Tötung und die große Zahl der Opfer deuten auf einen Gesamtplan zur Beseitigung der ausgegrenzten nationalen Gruppen hin. D.h., es waren keine Gewaltexzesse, sondern geplante Massenexekutionen, wie sie jetzt auch von Videla bestätigt wurden. Dies manifestierte sich auch darin, dass innerhalb der Streitkräfte nahezu alle Offiziere in einer Art „Blutpakt” an Tötungsaktionen beteiligt wurden, wie sie beispielweise in einem Interview mit dem ehemaligen Marineoffizier Scilingo, das später als Buch („Der Flug”/”El vuelo”) veröffentlicht wurde, beschrieben wurden.
  4. Die Strategie der Vernichtung bestimmter nationaler Gruppen zeigt sich auch daran, dass ganze Familien ausgelöscht bzw. in Sippenhaft genommen wurden. Unter den Opfern befanden sich Alte, Behinderte und Kinder, die keinerlei militärische Bedrohung darstellten.
  5. Die Strategie des „Verschwindenlassens”, der Ermordung ohne Zeugnis über den Verbleib der Opfer, zielte neben der Vertuschung der Verbrechen auf die Vernichtung der Identität ganzer Opfergruppen. Aus diesem Grund sind die Prozesse zur Aufklärung des Schicksals der „Verschwundenen”, wie beispielsweise die „Juicios por la Verdad” in Argentinien, die auch von der Interamerikanischen Menschrechtskommission unterstützt werden, so wichtig. Wer diese Verfahren in Frage stellt, unterstützt damit nachträglich die Strategie der Militärs, die Identität ihrer Opfer auszulöschen und ihnen damit den letzten Rest an Menschenwürde zu nehmen.
  6. Auch das Phänomen des Kindesraubes, d.h., dass man den Familien der Opfer die Kinder wegnahm, deutet auf eine Vernichtungsstrategie hin. Man wollte nicht nur bestimmte Personen liquidieren, sondern ganzen Familien, die man einer ausgegrenzten Subkultur oder nationalen Gruppe zurechnete, die Nachkommen nehmen. Die Kinder wurden zwar nicht als Personen liquidiert, aber es wurde ihre ursprüngliche Identität vernichtet und durch eine andere ersetzt, die den Kriterien der Militärs entsprach.

Es ist aus meiner Sicht ex post schwer nachzuprüfen, ob die Gesetze Alfonsí­ns zur Begrenzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Militärs oder die Amnestie Menems der einsitzenden und rechtskräftig verurteilten Junta-Generäle damals eine politische Notwendigkeit zur Stabilisierung der argentinischen Demokratie darstellten. Immerhin wurden die Demokratie und die Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen in den 90er Jahren durch diese Entscheidungen nicht negativ beeinflusst. Die argentinische Demokratie ist heute wesentlich stabiler als vor 15 oder noch vor zehn Jahren und die Militärs sind kein Machtfaktor mehr.

Diese positive Entwicklung sollte nicht als Entschuldigung genommen werden – mit dem Menetekel, wieder die Zustände der Vergangenheit heraufzubeschwören – , um einer Auseinandersetzung mit den offenen Fragen bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärherrschaft auszuweichen.

Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen nach dem Ende von Diktaturen ist immer ein Kompromiss zwischen dem politisch Machbaren, dem moralisch Wünschbaren und dem politisch Notwendigen. Das Gewicht, das den drei Orientierungspunkten für das Handeln zukommt, kann sich im Lauf der Zeit verändern. Während das moralisch Wünschbare bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen als relativ konstant angesehen werden kann, sind das politisch Machbare und das politisch Notwendige variable Größen.

Wenn die Demokratie nicht mehr bedroht ist und sich neue Spielräume für das politisch Machbare auftun, dann sollte die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen voran getrieben werden, auch wenn dies in der Sichtweise mancher liberaler Ökonomen als Störfaktor in der Außenwahrnehmung des Landes angesehen wird. Und es gibt eine politische Notwendigkeit: Die überlebenden Opfer und Täter werden älter, einige sind bereits gestorben, die Rekonstruktion der Vergangenheit wird damit schwieriger. Jeder Prozess und die damit verbundene Beweissicherung leistet einen Beitrag, um die Verbrechen der Vergangenheit für die Zukunft zu dokumentieren.

Vor diesem Hintergrund verdienen Richter wie Gabriel Cavallo in Argentinien, Juán Gúzman in Chile und nicht zuletzt Baltasar Garzón in Spanien, aber auch Nichtregierungsorganisation wie die „Gruppe der deutschstämmigen Familienangehörigen” in Argentinien oder die „Koalition gegen die Straflosigkeit” in Deutschland – um nur zwei Beispiele zu nennen – unseren höchsten Respekt. Sie stehen an vorderster Front in einem Kampf für einen besseren Schutz der Menschenrechte in der Gegenwart und in der Zukunft, indem sie gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit angehen. Nur auf diesem Wege kann die Forderung des „nunca más”, die über dem Bericht der argentinischen Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) von 1984 steht, Realität werden.

Stellungnahme im Rahmen des Öffentlichen Hearings „25 Jahre Militärputsch und Völkermord in Argentinien” der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Koalition gegen die Straflosigkeit am 21. März 2001 im Reichstagsgebäude in Berlin

Institut für Iberoamerika-Kunde · Alsterglacis 8 · D-20354 Hamburg

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