Menschenrechtspädagogik an einem Erinnerungsort des Nationalsozialismus – Ein Beispiel aus Nürnberg

17. Januar 2003 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen

von Rainer Huhle

Vortrag auf der 37. Tagung Gedenkstättenpädagogik in Weimar, Mai 2002[1]

In vielen Gedenkstätten an die Opfer des Nationalsozialismus und sonstigen Erinnerungsorten an die NS-Zeit ist „Gegenwartsbezug“ eine drängende Frage geworden angesichts immer größerer Besucheranteile, die den emphatischen antifaschistischen Impuls vieler Angehöriger der ersten Nachkriegsgeneration nicht mehr selbst erleben, weil sie in einer völlig anderen Lebenswelt mit anderen brennenden Fragen aufgewachsen sind. Wie die 37. Gedenkstättentagung in Weimar im Mai 2002 bewies, geben die Mitarbeiter zahlreicher Gedenkstätten eine Vielzahl verschiedener Antworten auf diese Herausforderung, die letztlich die Frage nach dem Sinn historischen Gedenkens aufwirft.

In Nürnberg wurde, sieht man von einer schlichten und nur einige Monate im Jahr zugänglichen Vorgängerausstellung im Innern der „Zeppelintribüne“ ab, erst Ende 2001 im ehemaligen „Reichsparteitagsgelände“ eine umfassende Ausstellung zu den dortigen NS-Bauten und ihrer Funktion im Gesamtsystem des Nationalsozialismus in einem dafür umgestalteten Teil der sogenannten Kongresshalle eröffnet. Integriert in das Raumkonzept des neuen „Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände“ wurde ein „Studienforum“, in dem eine Reihe von öffentlichen und privaten Facheinrichtungen Gespräche und Studientage zu über zwanzig Themen anbieten, die in der Ausstellung berührt sind. Neben „naheliegenden“, weil direkt ortsbezogenen Themen wie NS-Propaganda, NS-Architektur oder „Nürnberger Gesetze“ finden sich im Angebot auch einige Veranstaltungen, entwickelt und durchgeführt vom „Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V“ und dem „Jugendzentrum für kulturelle und politische Bildung“, die direkt Bezug auf die Menschenrechte nehmen.

Unter den nach einem halben Jahr bereits weit über 300 gebuchten Veranstaltungen machen diese etwa ein Zehntel aus. Menschenrechte sind also ein Thema, das durchaus als sinnvolles Angebot an einem ehemaligen NS-Ort angenommen wird.

Nun hat Menschenrechtspädagogik ihre eigene, von den NS-Erinnerungsorten und der Gedenkstättenpädagogik ganz unabhängige Geschichte. Ausgehend von zahlreichen Initiativen in Staaten mit massiven Menschenrechtsverletzungen wie z.B. in Lateinamerika wurde und wird Menschenrechtserziehung nicht zuletzt von den Vereinten Nationen und ihren Untergliederungen wie der UNESCO weltweit gefördert. An diesem globalen Netzwerk ist Deutschland allerdings bisher relativ wenig beteiligt.

In Nürnberg war es der israelische Künstler Dani Karavan, der mit seinem preisgekrönten und schließlich 1993 an prominenter Stelle im öffentlichen Raum realisierten Entwurf einer „Straße der Menschenrechte“ die Menschenrechte als Antwort auf den Nationalsozialismus pointiert ins Bewusstsein rückte. Seit der Eröffnung dieser wuchtigen Reihe von Säulen, die jeweils einen Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) tragen, ist Menschenrechtserziehung ein wichtiger Teil außerschulischer – aber in großen Teilen durchaus schulbezogenen – Bildungsarbeit in Nürnberg geworden. Das Nürnberger Menschenrechtszentrum und das Jugendzentrum für kulturelle und politische Bildung blicken also auf eine zehnjährige kontinuierliche Arbeit auf diesem Gebiet zurück. Im Mittelpunkt stand dabei, anknüpfend an den spezifischen Ort „Straße der Menschenrechte“, das wichtigste Menschenrechtsdokument der Geschichte, eben die AEMR.

Die Menschenrechte als Reaktion auf den NS

Der Schritt von einer allgemeinen Menschenrechtspädagogik zu spezifischen Angeboten im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände folgte einer Logik, die, wie sich bei der Vorbereitung zeigte, in der Sache selbst bereits sehr deutlich vorgezeichnet war. Schon ein Blick auf den historischen Kontext der Redaktion der AEMR zeigt den engen Zusammenhang dieser ersten universalen Menschenrechtserklärung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Die mit dieser Aufgabe betraute Menschenrechtskommission der im Juni 1945 gegründeten UNO nahm ihre Arbeit an der Redaktion der AEMR im Januar 1947 auf, also ein knappes Vierteljahr nach dem Ende des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg mit seiner umfassenden Beweisaufnahme über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Schock über diese schier unfassbare Barbarei war noch frisch und hatte keineswegs nur die unmittelbar vom Krieg und der Besatzung betroffenen Staaten erreicht. Wie Johannes Morsink[2] in seiner gründlichen Studie über die Entstehung der AEMR gezeigt hat, gaben auch die Delegierten aus den arabischen, asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten immer wieder ihrer Erschütterung angesichts des ans Licht kommenden Umfangs der Verbrechen und des dahinter stehenden Vernichtungswillens Ausdruck. Die Verbrechen des Nationalsozialismus wurden also schon damals weltweit als Herausforderung für eine globale menschenrechtliche Antwort verstanden. Der zweite Satz der Präambel nimmt darauf direkt Bezug, wenn es dort unter den Begründungen für die Notwendigkeit der AEMR heißt, dass

„die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen…“

„Das Gewissen“, hatte Hitler dagegen in „Mein Kampf“ geschrieben, sei eine „jüdische Erfindung“, eine für Herrenmenschen unbrauchbare Kategorie.

Für Hitler waren die Menschenrechte etwas für „notorische Schwächlinge“, die über die nationalsozialistischen „Eingriffe in die heiligsten Menschenrechte jammern und klagen.“ Und weiter: „Nein, es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Menschenrecht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen, daß das Blut rein erhalten bleibt…“

Vielleicht ist in dieser bewussten und radikalen Negation der Menschenrechte durch Hitler der Gegensatz von Barbarei und Menschlichkeit auf seine einfachste und zugleich tiefste Formel gebracht, an der jede Menschenrechtspädagogik ihren Ausgangspunkt nehmen kann.

Doch die Auseinandersetzung der Verfasser der Menschenrechtserklärung von 1948 beschränkte sich nicht auf diese allgemeine Ebene der Gegenüberstellung von Barbarei und Menschlichkeit. Ihre Mitglieder waren großenteils geschulte Völkerrechtler, und so war es ihr natürliches Bestreben und ihr Auftrag, mit möglichst klaren Formulierungen dafür zu sorgen, dass künftig niemand mehr im Zweifel sein könnte, welches die unabdingbaren Rechte der Menschen sind.

Den Delegierten der Menschenrechtskommission und den von ihnen herangezogenen Bearbeitern lagen die umfangreichen, von der „War Crimes Commission“ der Vereinten Nationen für den Nürnberger Prozess zusammengestellten Beweismittel vor. Für nahezu alle Artikel der AEMR lässt sich zeigen, dass in den Debatten einzelne Delegierte auf ihnen bekannte Verbrechen und Vorgehensweisen der Nazis Bezug nahmen und Formulierungen suchten, die ihnen geeignet schienen, derartige Verbrechen für die Zukunft wenigstens normativ auszuschließen[3]. Eine der schwierigen Erfahrungen des eben abgeschlossenen Nürnberger Militärtribunals war ja gerade die mangelnde völkerrechtliche Normierung vieler Tatbestände, die „die moderne Zivilisation nicht dulden kann“, wie es der amerikanische Ankläger in Nürnberg formulierte, weswegen für ihn „die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts … die Zivilisation [war]“.

Ein ähnlicher historischer Lernprozess lässt sich exemplarisch z.B. auch an der Biografie des Trägers eines prominenten NS-Namens zeigen. Der Sohn des Leiters der Parteikanzlei und Privatsekretär Hitlers, Martin Bormann, beschreibt, wie er selbst als Reaktion auf die bei seinem Vater erlebte NS-Ideologie, die bei seinem Vater überdies in besonderer Weise antireligiös geprägt war, über den Katholizismus zur Idee der universellen Menschenrechte als weltanschaulichen Kontrapunkt fand:

Für mich – gerade 15 Jahre alt – und viele meiner Altersgenossen, die wie ich in der Gedankenwelt des Nationalsozialismus aufgewachsen waren, war das ein totaler Zusammenbruch, nicht nur ein verlorener Krieg. Es war der Zusammenbruch unserer Sinn- und Werteordnung, und die folgenden Wochen waren furchtbar, weil sie uns konfrontierten mit all den Wahrheiten, die manche heute aufs neue zu verdrängen suchen. Wir konnten nicht verdrängen, denn die Bilddokumente und die überlebenden Zeugen sowohl auf Seiten der Opfer wie der Täter konfrontierten uns in ihrer Fülle unausweichlich mit der dunklen, entsetzlichen, unvorstellbar grausamen und menschenverachtenden Seite der NS-Ideologie in ihren Auswirkungen.

[…]

Aus der Erfahrung des totalen Zusammenbruchs wuchs allmählich die Erfahrung einer neuen Geborgenheit in der Gemeinschaft der Christen und durch sie auch die Erfahrung einer Führung durch die nahe Liebe Gottes. Das war Voraussetzung für eine angstfreie, kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. An deren Ende stand der Zusammenbruch von 1945 als Beginn einer Befreiung von der Ideologie des Hasses, die die Menschen in Über- und Untermenschen unterschied, und die Befreiung zur Liebe zu allen Menschen als Kinder des einen Vaters im Himmel. Daraus folgte für mich die Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” der UNO vom 10.12.1948 formuliert sind. Ihre Anerkennung von allen Menschen für alle Menschen ist Grundlage für die Möglichkeit von Frieden.[4]

Wenn demnach der historische Prozess der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu einem entscheidenden Teil als direkte Reaktion auf die Verbrechen der Nationalsozialisten begriffen werden muss, so lässt sich diese Erkenntnis erst recht analytisch nachvollziehen und dann auch methodisch für die Menschenrechtspädagogik nutzen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus können in einem ersten Schritt im Spiegel der AEMR als Verbrechen gegen die Menschheit bzw. im weiteren Sinn als Menschenrechtsverletzungen analysiert werden. Ein Besuch der Dauerausstellung etwa des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, der jedem „Projekttag Menschenrechte“ vorausgeht, führt in diesem Sinn zu einer Liste von Menschenrechtsverletzungen. Auch ohne Vorkenntnisse der Menschenrechtserklärungen und Pakte lässt sich diese Liste bereits in eine Art Prototyp einer Menschenrechtserklärung wenden, in einem Reflektionsprozess, bei dem die Teilnehmer im Grund in der gleichen Situation stehen wie die Redakteure der Allgemeinen Erklärung 1948.

Teil dieses Prozesses war historisch und ist in jeder so angelegten Menschenrechtspädagogik aber auch die keineswegs selbstverständliche Erkenntnis der Rechtsnatur von Menschenrechten. Die Negation der Verbrechen des Nationalsozialismus fand und findet ja in vielen Dimensionen statt: dem puren Entsetzen, dem Wunsch nach Vergeltung, dem Entwurf von Gegenethiken, dem weiten Feld politischer demokratischer Alternativen, dem Gedenken der Opfer und vielem mehr. Menschenrechtspädagogik muss alle diese Formen der Reaktion auf Systemunrecht anerkennen und würdigen, zugleich aber das Spezifikum der menschenrechtlichen Antwort und ihre Bedeutung aus aktueller Sicht herausarbeiten.

Menschenrechte sind immer und nur da entstanden, wo Menschen diese Recht für sich entdeckt haben, in der Philosophie, in der Praxis und zuletzt im Rechtssystem. Diese Voraussetzung, dass die Menschen sich ihrer Rechte bewusst geworden sind und damit Selbst-Bewusstsein entfaltet haben, ist auch heute, wo die Menschenrechte weltweit in Dutzenden von Konventionen verankert sind, keineswegs selbstverständlich. Eine schlichte Frage, die wir im „Projekttag Menschenrechte“ stellen, macht dies immer wieder deutlich: „Hatten die Gefangenen in den KZs eigentlich Menschenrechte?“

Die spontane Reaktion der meisten Teilnehmer ist ein klares „Nein“, oft begründet durch eine lange Aufzählung der Rechte, die die Gefangenen der Konzentrationslager nicht hatten, vom Recht auf privaten Briefverkehr bis zum Recht auf Leben. Die Frage nach den Menschenrechten der Gefangenen kann, wem diese Realität vor Augen steht, zunächst nur absurd erscheinen.

Über den in dem Verbum „Haben“ der Frage verborgenen Doppelsinn lässt sich jedoch eine entscheidende Dimension der Menschenrechtsidee erschließen, die zugleich eines der wichtigsten Lernziele von Menschenrechtspädagogik ist: die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte:

· Den Gefangenen der Konzentrationslager wurden de facto sämtliche Menschenrechte genommen, sie konnten keines durchsetzen gegen die nackte Gewalt. In diesem Sinn „hatten“ sie keine Rechte.

· In einem emphatischen Sinn, der auch dem juristischen Verständnis der Menschenrechte zugrunde liegt, „hatten“ sie jedoch Menschenrechte, die ihnen niemand nehmen konnte, weil sie Teil ihres Menschseins waren.

Die AEMR insistiert schon in der Präambel auf dieser Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, wenn es dort heißt, dass

… die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.

Artikel 1 der Erklärung gießt diesen Satz von der angeborenen Würde und den angeborenen Rechten dann in das Fundament aller Menschenrechte:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Aus der durch Geburt jedem Menschen eigenen Menschenwürde und den darauf basierenden Menschenrechten ergibt sich unmittelbar ein weiteres Grundprinzip der Menschenrechte: ihre Unteilbarkeit. Ein entscheidender Aspekt dieser Unteilbarkeit ist das Verbot jeder Diskriminierung, das in den zitierten Passagen bereits durchscheint und im Artikel 2 dann in aller Unmissverständlichkeit und Deutlichkeit durch eine ausführliche Auflistung der Merkmale, nach denen nicht diskriminiert werden darf, präzisiert wird:

Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

In dieser besonderen Betonung der Gleichheit aller Menschen unterscheidet sich die AEMR deutlich von den frühen Menschenrechtsdeklarationen der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Diese neue Gewichtung hat ihren Grund ebenfalls in der Erfahrung der extremen Folgen der Politik systematischer Diskriminierung im Nationalsozialismus. Da auch die Ausstellung des „Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände“ der rassistischen Diskriminierung große Aufmerksamkeit widmet, ergeben sich hier für die Menschenrechtspädagogik Anknüpfungspunkte, die umso fruchtbarer zu machen sind, da ja die bekannteste Manifestation der rassistischen NS-Politik wiederum mit dem Namen Nürnbergs verbunden ist: die so genannten „Nürnberger Gesetze“.

Wir beschäftigen uns daher ausführlich mit den Rassegesetzen, die 1935 während des Reichsparteitags in Nürnberg in einem völlig illegitimen Verfahren durchgepeitscht wurden. In Nürnberg fand außerdem der jetzt durch den Film „Leo und Claire“ bekannt gewordene Prozess gegen den Kaufmann und Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Leo Katzenberger statt, der aufgrund der Rassegesetze sowie der „Verordnung gegen Volksschädlinge“ 1942 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ihm ist an der Stelle der abgerissenen Synagoge im Zentrum Nürnbergs heute ein Weg gewidmet.

An diesen Bespielen ist uns zweierlei wichtig:

– der Zusammenhang zwischen dem frühen „bürgerlichen Tod“ der Juden und anderen Ausgegrenzten und ihrer späteren physischen Vernichtung. Die im „Reichsbürgergesetz“ getroffene Unterscheidung von Reichsbürgern und Staatsbürgern ist nicht nur diskriminierend. Sie öffnet durch ihre subjektive Definition des Reichsbürgers das Tor zur absoluten Willkürherrschaft über alle Bürger unter Hitlers Herrschaft.

– Diskriminierung ist immer zweischneidig und trifft letztlich alle. So wie in Nürnberg nicht nur Leo Katzenberger, sondern auch die Deutsche Irene Scheffler vor dem Richter Rothaug stand, trifft Diskriminierung immer alle, die nicht diskriminieren bzw. nicht ihre persönlichen Freiheiten einem Diskriminierungszwang unterordnen wollen. Die Rassegesetze trafen Juden und Deutsche, wenn auch mit unterschiedlich dramatischen Folgen.

Gerade dieser Punkt ist sehr fruchtbar zu machen für heutige Fragen um Diskriminierung. Die Erfahrung oder Beobachtung von Diskriminierung ist gerade vielen jugendlichen Teilnehmern gegenwärtig. Anders als bei Menschenrechtsthemen wie Folter oder Todesstrafe können sie hier eigene Erlebnisse und nicht selten auch eigene Reflexionen einbringen. Das Kennenlernen der brutalen Eingriffe der Nazis selbst in das harmlose Privatleben ganz „normaler“ Bürger auf Grund ihrer Rassenideologie erlaubt spontane Brückenschläge zur eigenen Lebenswelt, die die Grundlage für eine Verankerung der Idee der Menschenrechte bilden. Der Gefahr einer Relativierung der rassistischen Verbrechen des Nationalsozialismus muss dabei durch entsprechende Sachinformation begegnet werden, wobei der starke Eindruck der vorher gesehenen Ausstellung eine Verharmlosung kaum aufkommen lässt.

Andererseits geht es an dieser Stelle der Menschenrechtspädagogik sehr wohl darum, grundlegende Mechanismen jeder Diskriminierungspolitik und ihre potentiellen Folgen aufzuzeigen. Den „Nürnberger Gesetzen“ ist ein Prinzip der „Unteilbarkeit von Diskriminierung“ eingeschrieben, das durchaus universell ist. Mit ihm ist negativ beschrieben, was wir positiv als Begriff der „Unteilbarkeit der Menschenrechte“ vermitteln wollen: Man kann die Menschenrechte nicht nur für einen Teil der Menschen einhalten oder sie für andere abschaffen. Die verletzten Rechte der einen sind immer auch Verletzungen der Rechte aller, also auch der eigenen.

Wenn wir mit Schülern arbeiten, beschließen wir diesen Komplex oft mit einer kurzen Passage aus dem Buch „Papa, was ist ein Fremder? – Gespräch mit meiner Tochter“ des marokkanischen Dichters Tahar Ben Jelloun[5], die aus der positiven Perspektive und von der einer heutigen Problemstellung her diese Doppelgesichtigkeit von Diskriminierung bzw. gegenseitiger Achtung anspricht:

“Sieh dir in der Schule alle deine Mitschüler an, und du wirst merken, dass sie alle verschieden sind und dass diese Vielfalt etwas Schönes ist. (Sie ist eine Chance für die Menschheit. Diese Schüler kommen aus ganz unterschiedlichen Welten, sie können dir Dinge geben, die du nicht hast, so wie du ihnen auch etwas geben kannst, das sie nicht kennen. Auf diese Weise ergänzen und bereichern wir uns gegenseitig.)

Jedes Menschengesicht ist ein Wunder. Es ist einzigartig. Du wirst niemals zwei genau gleiche Gesichter sehen. Was bedeutet schon Schönheit oder Hässlichkeit? (Das sind relative Begriffe.) Jedes Gesicht ist ein Symbol für das Leben. Jedes Leben verdient Achtung. Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu demütigen. Jeder hat einen Anspruch auf Menschenwürde. Wer andere Menschen achtet, würdigt dadurch das Leben in seiner ganzen Schönheit, in seinem Zauber, seiner Verschiedenheit und seiner Unerwartetheit. Und wer andere würdig behandelt, zeigt damit auch Achtung vor sich selbst.”

(Dieser letzte Satz ist uns der entscheidende.)

Bei der weiteren Beschäftigung mit den 30 Artikeln der AEMR – die in Nürnberg ja auch in der „Straße der Menschenrechte“ massiv im Stadtbild verankert sind – arbeiten wir dann den zweiten Aspekt der „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte heraus: So wie die Menschenrechte verloren gehen, wenn sie nur für bestimmte Menschengruppen und nicht für Alle gelten, so kann man auch nicht aus der Gesamtheit der Menschenrechte einen Teil herausstreichen. Gewöhnlich erarbeiten wir diesen Aspekt auf spielerische Weise mit der Methode des „Ballonfahrerspiels“, das oft ganz erstaunliche Einsichten bringt.

In Kleingruppen – „Ballonbesatzungen“ – erhalten die Teilnehmer dabei die Aufgabe, von dem „Ballast“ der bisher erarbeiteten Menschenrechte die Hälfte abzuwerfen, um den Ballon am Abstürzen zu hindern. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen werden dann verglichen, wobei sich übereinstimmende Lösungen, aber auch gegensätzliche Entscheidungen zeigen. Wenn eine Gruppe bestimmte Rechte „über Bord geworfen“ hat, eine andere Gruppe sich gegenteilig entschieden hat, ergeben sich oft lebhafte Debatten zwischen den Teilnehmern um die „richtige“ Entscheidung. Die Ergebnisse sind immer spannend. Im Wesentlichen lassen sich drei Strategien der „Ballonfahrer“ erkennen, das Problem zu lösen:

1. Einzelne Menschenrechte werden als weniger wichtig eingestuft und „abgeworfen“, manchmal mit sehr aufschlussreichen Argumenten, die eine längere Diskussion erfordern und Gelegenheit geben, bestimmte Rechte in ihrer Bedeutung näher zu erläutern. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte als Einheit ist bei dieser „Überlebensstrategie“ oft noch wenig begriffen und wird entsprechend zum Thema.

2. Das „Schachtelprinzip“: die Gruppe untersucht die Inhalte der einzelnen Menschenrechte und stellt fest, dass z.B. das Verbot der Sklaverei des Art. 4 der AEMR im Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, wie es Art. 3 garantiert, bereits enthalten sei. Die Teilnehmer werfen also Rechte ab, die sie in anderen aufgehoben sehen. Auf diese Weise erarbeiten sie sich selbst ein Verständnis des wechselseitigen Zusammenhangs der Menschenrechte. Diskussionspunkt ist dann z.B. die Frage nach der Notwendigkeit der Konkretisierung der Menschenrechte.

3. Die Unbedingten: die Gruppe entscheidet sich, eher das Risiko des Absturzes einzugehen als auch nur eines der Menschenrechte abzuwerfen. Eine Verletzung der Spielregeln, deren Begründung ebenfalls lebhafte Diskussionen auslöst.

Die Unteilbarkeit der Menschenrechte im doppelten Sinn ist damit als wichtiges Lernziel festgehalten. Zugleich stellt sich, vor allem wenn die dritte der genannten „Strategien“ beim „Ballonfahren“ ins Spiel kommt, die Frage nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten. Auch hier will und kann Menschenrechtsarbeit am historischen Ort der Selbstdarstellung des Nationalsozialismus historische Bezüge herstellen. Im Begriffspaar „Widerstand und Zivilcourage“ lässt sich dabei eine Brücke von der Ausstellung zur Lebenswelt der Besucher schlagen.

Die Ausstellung bringt das Thema Widerstand in Erinnerung. Dort geht es allerdings ausschließlich um politisch organisierten Widerstand. Dieser war nicht vielen Menschen möglich. Widerstand in einem weiteren Sinn konnten aber Menschen auf die verschiedenste Weise und in den verschiedensten Lebenssituationen leisten. Widerstand, so möchten wir zeigen, hat auch mit Menschenwürde zu tun. In diesem Sinn werden in kurzen Ausschnitten aus dem Film “Nein! Zeugen des Widerstands in München 1933-1945“ von Katrin Seybold zwei Frauen vorgestellt, die auf verschiedene Weise Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, und zwar aus „Achtung vor sich selbst“, wie es in dem vorher erwähnten Zitat von Tahar Ben Jelloun formuliert war: eine Zeugin Jehovas, die trotz Folter niemanden denunziert hat; und eine katholische Nonne, die im Lager Dachau Briefe von Häftlingen unter Lebensgefahr geschmuggelt hat. Beide Frauen drücken aus, dass für sie dieser Widerstand, diese Courage lebensnotwendig war, sie wären sonst an sich und der Welt verzweifelt. Zivilcourage kommt also aus dem Glauben an sich selbst, an die eigenen Rechte und an die der anderen.

Damit wird abschließend ein weiteres wesentliches Lernziel jeder Menschenrechtspädagogik zum Thema: den besonderen Charakter der Menschenrechte als Rechte zu erkennen. Hier liegt das Spezifikum von Menschenrechtspädagogik etwa gegenüber Religions- oder Ethikerziehung.

Der menschenrechtliche Ansatz geht vom Gedanken des Rechts, also eines normativ begründeten und gesellschaftlich anerkannten Anspruchs aus. Bei den Menschenrechten geht es allerdings nicht darum, dass wir nur unsere eigenen Rechte durchsetzen. Nicht „recht haben“ ist gefragt, sondern dass wir Rechte haben, also unsere Bedürfnisse, Forderungen, Wünsche, Interessen so formulieren, dass sie mit denen von andern kompatibel sind und folglich auch allgemein eingesehen, akzeptiert und auf dieser Basis dann auch eingefordert werden können – deshalb heißt es „Allgemeine“ Erklärung der Menschenrechte. Und deshalb wurde auf dieser Basis seit 1948 auch ein umfassendes internationales System von Schutzinstrumenten für die Menschenrechte errichtet, das auch in die meisten nationalen Verfassungen und Gesetzgebungen eingegangen ist.

Der Einsatz für die Menschenrechte anderer ist deshalb nicht in erster Linie ein Akt der Philanthropie. Er ist notwendig, um unsere eigenen Menschenrechte zu verteidigen, unsere eigene Menschenwürde. Denn in der Verletzung der Menschenrechte anderer ist immer schon die Verletzung der allgemeinen, und damit auch unserer Menschenrechte angelegt. Menschenrechte sind also gerade nicht, wie Hitler meinte, für „Schwächlinge“, sondern sie sind Ausdruck von selbstbewussten Menschen, die in der Lage sind, ihre eigenen Interessen kommunikativ und kooperativ mit denen der andern abzustimmen. Auch diese Botschaft soll Menschenrechtspädagogik deutlich machen: Repression und Gewalt sind die Stärke der Schwachen, wahre Stärke ist die couragierte und selbstbewusste Wahrnehmung von Menschenrechten – für sich und die anderen.

___________________

[1] abgedruckt im „GedenkstättenRundbrief“ 109, 2002

[2] Johannes Morsink: The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting and Intent, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1999

[3] ebd.

[4] Martin Bormann: Leben gegen Schatten, Gütersloh 1996, S. 75f.

[5] Tahar Ben Jelloun: Papa, was ist ein Fremder? – Gespräch mit meiner Tochter, Reinbek 2000, S. 98

Schlagworte: , ,

Kommentare sind geschlossen