von Friedrich Paul Heller, September 2006
Nach Jahrzehnten von Enthüllungen und Skandalen müsste eigentlich die Wahrheit bekannt sein. Aber hinter der Colonia Dignidad verbergen sich Verbrechen, die erst in Umrissen bekannt sind. Die deutsche Siedlung war nicht nur ein geheimes Folterlager des Pinochet-Geheimdienstes DINA, sie war auch an einem Massaker an politischen Gefangenen beteiligt, die zu den “Verschwundenen” gehören. Außerdem schmuggelte und produzierte sie biologische und chemische Waffen.
Die Colonia Dignidad ist eine 1961 in Südchile gegründete deutsche Siedlung. Sie ging aus einer Sekte hervor, die sich in den fünfziger Jahren von den deutschen Freikirchen abgespalten hatte. Ihr Führer Paul Schäfer wurde wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen von der Staatsanwaltschaft gesucht und musste Deutschland verlassen. Über 200 seiner Anhänger folgten ihm. Sie gründeten das als “Colonia Dignidad” bekannte landwirtschaftliches Gut.
Durch Nachzug von Familienangehörigen und Zwangsadoption chilenischer Kinder hatte die Siedlung zeitweise etwa 350 Bewohner. Nach dem Abtauchen Paul Schäfers 1997 und vor allem nach seiner Verhaftung in Argentinien 2005 verließen viele Siedler die Colonia Dignidad, die heute Villa Baviera heißt.
Dieses verschrobene deutsche Dorf in den Vor-Anden war die Drehscheibe eines internationalen Waffenhandels und die Produktionsstätte von biologischen und chemischen Waffen. Pinochet persönlich sah sich 1974 in der Siedlung eine Ausstellung von originalen und davon nachgebauten Waffen an. Die Colonia Dignidad hat 454 Chemikalien mit teilweise hochexplosiven Stoffen gelagert. Es gab dort Gifte wie Arsen und das im Amazonasgebiet aus Bambus gewonnene Curanin. Die Gifte der Sekte konnten über Nahrungsmittel, Einatmen oder die Haut aufgenommen werden und ihre Opfer sofort oder langsam töten. Opfer waren Gegner des Pinochetregimes und eigene Mitwisser wie ihr in Waffen- und Giftschmuggel verwickeltes Mitglied Alfred Schaak.
Es gibt recht deutliche Hinweise, dass die Colonia Dignidad in den Schmuggel mit Materialien zum Bau von Atombomben verwickelt ist. Die Sekte produzierte und schmuggelte in großen Umfang chemische Waffen (Sarin und Senfgas) und hatte mit der Produktion bakterieller Waffen durch das chilenische Militär zu tun. Sie war eine Drehscheibe für den illegalen Handel mit konventionellen Waffen. Damit war Schäfers Sektendorf mit seiner bayerischen Musik und dem schwarzwälder Kuchen eine Attrappe für die Vorbereitung einer ABC-Kriegsführung. Diese Schlussfolgerung klingt übertrieben, ist aber durch immer mehr Zeugensaussagen und Archivfunde erhärtet.
Schäfers Sekte war außerdem der Tummelplatz rechter Terroristen und mehrerer Geheimdienste. Auch der deutsche BND hat sich der Colonia Dignidad bedient. Das ist der Grund, warum die deutsche Diplomatie aus Chile ausreisenden ex-Colonia-Bewohnern sagt, dass sie bitte keinen neuen Skandal auslösen mögen.
Wie konnte die Colonia Dignidad jahrzehntelang stabil bleiben und eine derartige politische Bedeutung erlangen? Schäfer war ein Meister der Manipulation Anderer, der Gehirnwäsche und des Teile-und-Herrsche. Religiöser Druck und die Verzerrung der Sexualität gehörten zu seinen Herrschaftsmitteln. Gestützt durch die Pinochetdiktatur und in den schlimmsten Jahren der Repression gedeckt durch die deutsche Botschaft in Santiago, konnte Schäfer mit Hilfe einer Führungsclique die Mehrzahl der Siedler unterdrücken und zu seinen fügsamen Helfern machen.
Auch juristisch war der Sekte nicht beizukommen. In Chile bestach sie Richter, fälschte Beweise, log und trog. Ein Prozess der Colonia Dignidad gegen amnesty international in Bonn dauerte 20 Jahre und endete mit einem Sieg von ai, der aber zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung mehr hatte. Da es mittlerweile in Deutschland etwa 100 frühere Siedler gibt, versucht die Führungsclique – zum Teil aus dem chilenischen Gefängnis heraus – zu verhindern, dass diese Menschen, die Jahrzehnte ihres Lebens und ihre Gesundheit in Chile verloren haben, reden und Prozesse anstrengen. Das Problem Colonia Dignidad hat sich auf diese Weise nach Deutschland zurückverlagert, von wo es im Sektenmilieu der fünfziger Jahre ausgegangen war.
F.P. Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas : die Hintergründe der Colonia Dignidad. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl., Schmetterlingverlag Stuttgart 2006, 138 S.