Münchner Frühling Verlag, München 2010, 128 Seiten Großformat
Die Idee ist so einfach. Links ein Foto (fast immer Schwarz-Weiß), rechts ein Farbfoto. Der Ort der Aufnahme ist derselbe, die Personen ebenso, nur sind sie auf dem rechten Bild ein paar Jahrzehnte älter. Doch entscheidend, und sofort beunruhigend, ist, was auf dem zweiten Foto nicht zu sehen ist. Von den ursprünglich fotografierten Menschen fehlt mindestens einer, auf einem Foto ist sogar eine leere Landschaft zu sehen.
Eine einfache Idee also, und doch so eindringlich. Zu sehen, was „Verschwunden“ durch die argentinische Diktatur bedeutet, ist etwas anderes als es zu wissen. Ausencias, „Abwesenheiten“ heißt der Titel dieser Fotoserie, und auch dieser Titel bringt gerade durch seine Schlichtheit die Dramatik des Geschehenen ins Bewusstsein.
Der argentinische Fotograf Gustavo Germano hat viele Jahre an diesem Projekt gearbeitet. Das verweist darauf, dass das Vorhaben in Wirklichkeit keineswegs einfach, sondern höchst kompliziert war. Germano arbeitete daran als professioneller Fotograf, aber auch als Betroffener. Seine eigene Geschichte ist Teil des Projekts, und tatsächlich steckt sie mitten in der Ausstellung und dem Buch drin. Neben einem Foto von vier Jungen sehen wir eines von drei nachdenklichen Männern. Einer der vier Brüder fehlt, der „verschwundene“ Eduardo Germano. Im Interview mit der Zeitung „Página 12“ schilderte Gustavo Germano, wie sich die Idee zu seinem Projekt allmählich herausbildete, wie er die teilnehmenden Familien fand, wie schwierig es war, die emotionalen und die professionellen Anforderungen zusammen zu bringen. Die Rückkehr an den Ort eines alten Familienfotos bedeutete die Rückkehr in die Vergangenheit, ein unberechenbarer Weg für die Teilnehmenden wie für den Fotografen. Mit der Gegenüberstellung der rund dreißig Jahre auseinander liegenden Fotos wird die „ständige Anwesenheit der Abwesenden“, wie Germano seine Mutter zitiert, schmerzhaft sichtbar. Das Fehlen eines Kindes, eines Geschwisters, eines Elternteils, eines Ehepartners auf diesen Fotos, das Fehlen also von Teilen elementarer menschlicher Bindungen wird als etwas Schreckliches allerdings erst erfahrbar durch etwas Weiteres, was auf den Fotos fehlt und nicht gesehen werden kann, sondern gewusst werden muss: die Repression der Diktatur. Erst das Wissen darum, dass das Fehlen der Personen auf den heutigen Bildern nicht dem Zufall, sondern den Mördern eines politischen Systems geschuldet ist, macht das Unheimliche dieser Familienfotos aus.
Dieses Wissen vermitteln die Herausgeber des Münchner Frühling im zweiten Teil des Buches mit einer Reihe von Texten, die von der Erfahrung der Diktatur handeln. Mit Sachkenntnis und Sensibilität haben sie gewichtige Texte so bekannter Autoren wie Juan Gelman oder Rodolfo Walsh, die selbst Opfer der Diktatur wurden, aber auch weniger bekannte einprägsame Zeugnisse, Gedichte und Szenen zusammengetragen, die zusammen ein bewegendes literarisches Echo der Zeit der Diktatur geben. Form und Gehalt dieser Texte sind durchaus unterschiedlich – von Borges etwa stehen mehrere kurze Statements nebeneinander, die seine zögerliche Abwendung von der Diktatur beleuchten – , doch in der Gesamtheit sind sie wie ein Prisma, das je nach Blickwinkel neue Einsichten erlaubt. Da ist jeder belehrende Kommentar überflüssig, stattdessen geben die Herausgeber die nötigen Sachinformationen zu den Autoren und dem Entstehungszusammenhang der Texte. Die gleiche Sorgfalt gilt auch den Biografien der im Fototeil abgebildeten Personen, die im letzten Teil des Bandes zusammengestellt sind und damit den Kreis der Gesamtkomposition dieses Buches schließen.
Die äußere Gestalt des Buchs entspricht diesem hohen Niveau. Vielleicht kann nur, wenn Verleger als Herausgeber selbst Hand anlegen, ein Buch entstehen, bei dem Typografie und Layout so perfekt auf den Inhalt abgestimmt sind. Auch darin zeigt sich der Respekt nicht nur vor dem Werk von Gustavo Germano und den versammelten AutorInnen, sondern vor denen, um die es in diesem Werk geht, den „Abwesenden“. „Ohne Gesicht, ohne Grund sahen sie durch das Fenster ihrer Abwesenheit“, schrieb Mario Benedetti 1984 in einem Gedicht von den Verschwundenen. Das vom Münchner Frühling Verlag so fürsorglich gestaltete Buch lässt diese Gesichter wieder aufscheinen.
von Rainer Huhle