Die Nürnberger Nachfolgeprozesse – endlich eine Gesamtdarstellung

24. Juli 2012 | Von | Kategorie: Rezensionen

Kevin Jon Heller:  The Nuremberg Military Tribunals and the Origins of International Criminal Law, Oxford University Press 2012, 509 Seiten

Über das Internationale Nürnberger Militärtribunal (IMT), kurz den “Nürnberger Prozess” gibt es eine kaum noch zu überschauende Fülle an wissenschaftlicher und populärer Literatur. Über die zwölf weiteren Prozesse, die danach im gleichen Gerichtssaal gegen NS-Verbrecher stattfanden, ist die Literatur hingegen bis heute erstaunlich spärlich. So konnte der in Australien lehrende Straf- und Völkerrechtler Kevin Jon Heller 2011 tatsächlich das erste Buch vorlegen, das einen Gesamtüberblick über diese zwölf „Nürnberger Nachfolgeprozesse“, die von den amerikanischen Behörden durchgeführten „Nuremberg Military Tribunals“ (NMT) gibt. Das allein würde das Buch bereits zu einem Ereignis machen. Dass es sich dabei um eine sowohl historisch wie juristisch ungemein gründliche und wohldurchdachte Studie handelt, macht das Buch zu einem seltenen Glücksfall. Heller gehört zu den internationalen Juristen, die den Entstehungsprozess des Internationalen Strafgerichtshofs eng begleiteten, er hat an der Verteidigung mehrerer Angeklagter im Jugoslawiengerichtshof mitgearbeitet und die meisten heutigen internationalen und gemischten Gerichtshöfe mit kritischen Analysen begleitet, u.a. in dem Blog „Opinio Juris“. Sein Blick auf die Nachfolgeprozesse ist daher von vornherein geschärft durch Fragestellungen, die sich aus den Problemen der heutigen internationalen Strafgerichtsbarkeit ergeben. Diese Fragen, die sich u.a. auf die Rechtsgrundlagen und Legitimität der Prozesse, auf die Straftatbestände, auf die Prozess- und Beweisführung und die Urteile und ihre Begründungen selbst beziehen, strukturieren das Buch.

Auch das IMT hat auf alle diese Fragen Antworten gegeben, aber nicht nur quantitativ fördert eine Analyse der NMT weitaus reichhaltigeres Material zutage. Dabei ist die erste Herausforderung natürlich die Sichtung der primären Quellen, insbesondere der Protokolle der zwölf Prozesse, die in 15 jeweils über tausend Seiten umfassenden Bänden vorliegen. Ihre genaue Durchforstung war selbstverständlich Grundlage von Hellers Analyse, so selbstverständlich, dass er es leider nicht einmal erwähnt. Weder in der Bibliographie noch im Abkürzungsverzeichnis (welches auch sonst äußerst lückenhaft ist) taucht diese wesentlichste aller Quellen auf, obgleich sie Heller natürlich bei seinen juristischen Analysen ständig heranzieht und im Text auch – in abgekürzter, aber nicht erläuterter Form – zitiert. Auch in einiger anderer Hinsicht macht es Heller dem Leser schwerer als nötig. So bringt er im vierten Kapitel eine knappe Übersicht der zwölf Verfahren, in denen jeweils die Anklagepunkte, die Zahl der Angeklagten, kurze Charakterisierungen der Richter sowie die Urteile genannt werden. Die Namen der Angeklagten werden gelegentlich genannt, in andern Fällen muss man sie sich aus dem Anhang am Ende des Bandes suchen. Dort sind sämtliche Angeklagten der zwölf Verfahren gelistet, dazu ihre Funktion im NS-Staat, die ihnen vorgeworfenen Verbrechen, das Urteil zu jedem der einzelnen Anklagepunkte, die verhängte Strafe und, besonders nützlich, die von  General McCloy bei der Revision verfügte Strafe (meist, aber nicht immer eine erhebliche Reduktion) und schließlich, soweit Freiheitsstrafen verhängt wurden, das Jahr der tatsächlichen Haftentlassung. Die Zusammenführung des genannten Kapitels mit diesem Anhang wäre zweifellos eine bessere Option gewesen.

Doch Hellers Augenmerk gilt ganz offensichtlich nicht in erster Linie einer historisch-didaktischen Darstellung der Prozesse, sondern ihrer juristischen Analyse. Eine genaue Darstellung der Genese dieser Nachfolgeprozesse gehört da allerdings dazu, schon deswegen, weil es, wie Heller minutiös nachzeichnet, lange Zeit unterschiedliche Ansichten unter den Alliierten und nicht zuletzt unter den Amerikanern gab, in welcher Form man nach dem IMT weitere NS-Verbrecher anklagen sollte. Ein zweites IMT war lange im Gespräch, ebenso der Aufbau deutscher Gerichtshöfe oder nationaler Gerichte der Alliierten für diese Verfahren. Heller stellt die interessante Frage, was juristisch gesehen die NMT eigentlich waren, und kommt zu dem Schluss, dass sie, trotz ihrer Rechtsgrundlage im Kontrollratsgesetz Nr. 10 keine internationalen Gerichte, aber auch keine amerikanischen oder deutschen Gerichte (für letzteres ließ sich mit der Hoheitsgewalt der Militärregierung argumentieren) waren, sondern etwas Eigenes. Doch schon in dieser Frage, und damit auch in der Frage, auf welches Recht sich die Prozesse eigentlich stützten, gab es jedenfalls unter den Richtern der zwölf Verfahren sehr konträre Ansichten. Telford Taylor, der Koordinator all dieser Prozesse, äußerte sich zu allen rechtspolitischen Fragen, sei es in seinen Eingangsstatements, sei es in Interviews, akademischen Artikeln oder seinem zu Recht gerühmten Abschlussbericht. Doch die Richter, einmal im Amt, waren an solche Vorgaben nicht mehr gebunden, und bei einigen Freiheiten, die Heller immer wieder anführt, fragt man sich doch, nach welchen Kriterien manche Richter ausgewählt wurden.

Die NMT sind aber nicht in erster Linie wegen ihrer besonderen Konstruktion als von den USA organisierte Gerichte in der Nachfolge des IMT interessant. Sie weisen auch einige rechtspolitische Züge auf, die sich vom IMT unterscheiden. Wichtig ist hier z.B. dass einige der Gerichte den Terminus „Crimes against Humanity“ anders als das IMT definierten, nämlich ohne notwendige Anbindung an Kriegsereignisse. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10, auf dem die Nachfolgeprozesse beruhten, stellte, anders als das Urteil des IMT , einen solchen Zusammenhang nicht zwingend her. Allerdings, darauf weist Heller zu Recht hin, gab es auch in dieser Frage keine einheitliche Auffassung in den verschiedenen Verfahren. So ist es in keiner Frage möglich, sich auf „die Nachfolgeprozesse“ zu berufen, da es praktisch in keinem Punkt eine einheitliche Rechtsprechung gab.

In den zwölf Verfahren waren insgesamt  177 führende Nationalsozialisten oder dem NS-Regime verbundene Personen angeklagt, wobei die Zahl der Angeklagten zwischen einem und maximal 24 pro Prozess variierte. Gegenüber dem IMT mag das viel erscheinen, doch standen die Planer und Organisatoren der NMT vor den gleichen Problemen der Selektivität wie schon das IMT. Der detaillierte Bericht, den Heller über das Verfahren der Reduktion von insgesamt rund 2.500 vorgesehenen Angeklagten auf die schließlich übrig gebliebenen gibt, ist einigermaßen ernüchternd.  Insbesondere die Entscheidung, die Prozesse nach „Berufsgruppen“ oder Funktionen aufzuteilen, erweist sich im Nachhinein als wenig geeignet, die Komplexität des nationalsozialistischen Verbrechensregimes zu erfassen. Obwohl Taylor persönlich immer wieder die zentrale Bedeutung des Judenmords in der Schreckensbilanz der Nazis betonte, gelang es auch in den Nachfolgeprozessen, trotz des relativ spät und erst auf heftigem Insistieren von Benjamin Ferencz konzipierten Einsatzgruppenprozesses, nicht, dies in den Verfahren insgesamt angemessen darzustellen.

Nach der ausführlichen Darstellung und juristischen Diskussion der zwölf Verfahren unterzieht Heller im letzten Teil des Buches auch die Nachwehen der Prozesse einer genauen Analyse. Bekanntlich wurden die Urteile der zwölf Prozesse zwar keiner gerichtlichen Revisionsinstanz vorgelegt, wohl aber gleich zweimal auf politischem Weg revidiert, zunächst von General Clay in seiner Eigenschaft als Militärgouverneur und damit höchster auch politischer Instanz, nach Clays Abschied dann von General McCloy, der im September 1949 sein Amt als amerikanischer Hoch-Kommissar für Deutschland antrat, also zu einem Zeitpunkt als aus den drei Westzonen bereits die Bundesrepublik Deutschland geworden war. Heller geht relativ knapp auf den viel diskutierten politischen Druck aus den verschiedenen Lagern ein, dafür zeichnet er sehr genau die einzelnen Handlungsschritte der beiden US-Generäle und der von ihnen herangezogenen Kommissionen nach und unterwirft sie einer juristischen Prüfung. Sein Ergebnis ist, dass jedenfalls die von McCloy angeordneten Änderungen des Strafmaßes (mit wenigen Ausnahmen wurden die Strafen, teils drastisch, herabgesetzt) einen unzulässigen Eingriff darstellten. Die schon damals von verschiedener Seite formulierten Einwände führen erneut zur Frage nach dem Rechtscharakter der Prozesse, denn ein wesentliches Argument war, dass McCloy gar nicht ohne die Zustimmung der übrigen Besatzungsmächte, jedenfalls der westlichen, hätte handeln dürfen. Von Seiten prominenter Beteiligter an den Nürnberger Verfahren kam denn auch harsche Kritik, so etwa vom britischen IMT-Ankläger Shawcross, vor allem aber vom Chefankläger der NMT, Telford Taylor. Wie Heller deutlich macht, war  McCloy letztlich in einer unmöglichen Situation und keineswegs der einzige Entscheidungsträger. Am Ende waren weder die Amerikaner, die in den Strafmilderungen eine Umwertung ihrer moralischen Kriegsziele sahen, noch diejenigen Deutschen, die eine sofortige Rehabilitierung der Landsberger Gefangenen verlangten, zufrieden.

Abschließend zieht Heller eine knappe aber klare Bilanz der Verfahren. Als Strafverfahren sieht er sie insgesamt, trotz einiger merkwürdiger Verfahrensweisen und Urteile (immer zugunsten der Angeklagten) als gelungen an, auch wenn die verhängten Strafen kaum die Schwere der verhandelten Verbrechen angemessen reflektieren konnten. Der Anspruch vor allem Taylors, dass die NMT ähnlich wie das IMT nicht zuletzt auch didaktische Funktionen haben sollten, blieb hingegen insofern uneingelöst, als der von Taylor mit großer Energie verfolgte Plan, auch die Protokolle der NMT in englischer und deutscher Sprache zu edieren, nicht realisiert wurde – wohl aus politischen Gründen, wie einige Quellen nahelegen. Für die politische Absicht, den NMT möglichst wenig publizistische Nachwirkung zu geben, spricht auch der – letztlich vergebliche – Versuch der US-Armee, sogar die Veröffentlichung des Abschlussberichts von Telford Taylor zu verhindern, der den Umgang der amerikanischen Militärbehörden mit den Ergebnissen der Verfahren teils scharf kritisierte. So war das einzige weit verbreitete Dokument über die NMT in Deutschland ausgerechnet der „Landsberg-Bericht“ von General McCloy, der die Verfahren mit dem Ziel der Rechtfertigung der Strafmilderungen in ein schiefes Licht setzte und damit deutscher Kritik an ihnen Vorschub leistete.

Die Rolle der NMT als Rechtsquelle des Völkerstrafrechts durchzieht Hellers Analyse in praktisch allen Kapiteln. Am Ende greift er wesentliche Aspekte noch einmal heraus. Die Unklarheit über den Status der NMT – international oder nicht – hatte Auswirkungen auf ihre Anerkennung als Beleg für Völkergewohnheitsrecht, wie kontroverse Beispiele aus dem Jugoslawien-Gerichtshof der UNO deutlich machen. Heller hält die Relevanz der NMT in dieser Hinsicht für eher gering. Wichtig erscheint ihm hingegen die Rechtsprechung der NMT im Hinblick auf das Verbrechen des Angriffskriegs. Gleiches gilt für einige der NMT-Urteile bezüglich der Verbrechen gegen die Menschheit, wenngleich hier in wichtigen Fragen keine einheitliche Rechtsprechung bei den NMT vorliegt und vor allem das „Nexus-Problem“, also die Frage einer notwendigen Verbindung von Verbrechen gegen die Menschheit mit Kriegssituationen auch hier nicht befriedigend gelöst war. Sehr bedeutsam war hingegen die Rechtsprechung der NMT hinsichtlich der Verantwortlichkeit aufgrund von Befehlsgewalt, einer der wichtigen rechtspolitischen Erbschaften von Nürnberg.

Auch wenn der Aufbau des Buches und einige formale Darstellungen besser lösbar gewesen wären, unterm Strich ist Hellers Gesamtdarstellung der Nürnberger Nachfolgeprozesse ein mit souveräner Übersicht über die Materie geschriebenes Werk, das aufgrund seines dezidiert analytischen Ansatzes für lange Zeit zum Standardwerk über diese Verfahren werden dürfte.

Rainer Huhle

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