Am 21. Dezember 2010 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 30. August zum weltweiten Tag der Opfer des Verschwindenlassens. Anlass war die Verabschiedung am gleichen Tag des jüngsten der 10 großen Menschenrechtsverträge, des „Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“. Dieser Vertrag, dem bis heute 43 Staaten beigetreten sind, ist der vorläufige Schlussstein eines Schutzsystems, mit dem die UNO seit den siebziger Jahren versucht, dieses Verbrechen zu verhüten und zu bekämpfen.
In einigen Staaten wie Argentinien oder Chile hatten die Diktatoren damals entdeckt, dass es eine noch schrecklichere Methode als den politischen Mord gab, um ihre Gegner (und bald auch wahllose ganze Bevölkerungsgruppen) zu terrorisieren. Sie verhafteten unliebsame Personen, verbrachten sie in Geheimgefängnisse, gaben aber keine Auskunft über den Verbleib der Verschleppten. In aller Regel wurden sie brutal gefoltert und früher oder später ermordet, so wie z.B. die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann 1977 in Argentinien. Die Ungewissheit über das Schicksal dieser bald allgemein als „Verschwundene“ bezeichneten Menschen, so das Kalkül, verunsicherte die Angehörigen und Freunde der Opfer weit mehr als ein offensichtlicher Mord. Angst und Hoffnung vermengten sich auf unerträgliche Weise.
Und doch ging das Kalkül nicht auf. Denn die Angehörigen erkannten die Strategie ihrer Unterdrücker. Da es niemand gab, den sie bestatten konnten und ihnen jede Auskunft verweigert wurde, verlangten sie beharrlich nach den „Verschwundenen“, so wie die Mütter der Plaza de Mayo, die auf diesem zentralen Platz in Buenos Aires seit Jahrzehnten jeden Donnerstag ihre Forderung „Lebendig habt ihr sie geholt, lebendig wollen wir sie wieder!“ in die Öffentlichkeit tragen. Statt dem Psychoterror zu unterliegen, schöpften sie Energie aus dieser Ungewissheit, die immer auch einen Funken Hoffnung erlaubte.
Die Angehörigen der „Verschwundenen“ waren es, die als erste darauf aufmerksam machten, dass dieses Verbrechen etwas Besonderes war, das auch neuer Antworten im Völkerrecht verlangte. Schon Ende der siebziger Jahre reagierte die UNO, dank der Initiative des damaligen Leiters der Menschenrechtsabteilung, des Holländers Theo van Boven. Sein Einsatz für die Verschwundenen war so erfolgreich, dass er ihn im diplomatischen Gerangel der UNO schließlich seinen Job kostete, doch die Saat ging auf. Schon 1980 setzte die UNO eine fünf-köpfige Arbeitsgruppe über das Verschwindenlassen ein, die bis heute Fälle in aller Welt untersucht. 1992 verabschiedete die Generalversammlung eine „Erklärung“, die alle Staaten zur Bekämpfung dieses Verbrechens verpflichtet. Und seit 2010 gibt es das Übereinkommen, in dem sich die beteiligten Staaten verpflichten, alles zur Bekämpfung dieses Verbrechens zu tun. Dazu gehört auch, dass sie dem „Ausschuss gegen das Verschwindenlassen“, der den Vertrag überwacht, umfassend Bericht erstatten.
Besonders aktiv waren an der Formulierung dieses Abkommens gerade die südamerikanischen Staaten beteiligt, unter deren diktatorischen Regimen dieses Verbrechen seinen Ausgang genommen hatte. Es war ermutigend zu sehen, wie z.B. Argentinien und Uruguay bei der Vorlage ihres Berichts an den Vertragsausschuss ihre eigene Geschichte reflektierten, und dass in den Reihen dieser staatlichen Delegation etliche Angehörige oder Verteidiger von Opfern des „Verschwindenlassens“ waren.
Am 30. August gedenken wir der immer noch zahlreichen „Verschwundenen“ in vielen Teilen der Welt, aber auch des unermüdlichen mutigen Einsatzes unzähliger Menschen, diesem Verbrechen ein Ende zu setzen. Eine Erklärung des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen gemeinsam mit der UN-Arbeitsgruppe aus diesem Anlass findet sich auf http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=14970&LangID=E
Von Rainer Huhle