von Lea Dannich
In vielen Ländern der Welt werden MenschenrechtlerInnen aufgrund ihrer Arbeit und Überzeugungen verfolgt. Sie werden überwacht, bedroht, eingeschüchtert oder willkürlich verhaftet; oftmals drohen ihnen gewaltsames Verschwinden, Folter und sogar der Tod. Im Jahr 1998 verabschiedete die Generalversammlung der UNO die Erklärung zu den MenschenrechtsverteidigerInnen.[1] Die Resolution betont die Verpflichtung, MenschenrechtlerInnen in ihrer Arbeit zu schützen und zu unterstützen (OHCHR, o.D.). Leider hat sich die Lage von Menschenrechtsaktivisten in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Die NGO Front Line Defenders schätzt, dass im Jahr 2017 mehr als 300 Menschen wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte getötet wurden, was laut der Organisation einen starken Anstieg im Vergleich zu Vorjahren darstellt (Front Line Defenders, 2018). Vor allem weibliche Menschenrechtsverteidiger sind besonders in Gefahr, da sie zusätzlich geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt ausgesetzt sind (Amnesty International, 2017). Salil Shetty, Generalsekretärin von Amnesty International, beschreibt die Situation von MenschenrechtlerInnen mit folgenden Worten: “Was wir heute erleben ist ein Frontalangriff von Regierungen, bewaffneten Gruppierungen, Konzernen und anderen auf das Recht, Menschenrechte zu verteidigen” (Amnesty International, 2017, S. 5).
Das Projekt Shelter City
Eine der Organisationen, die sich mit dem Schutz von MenschenrechtlerInnen befassen, ist die niederländische NGO Justice & Peace. Sie rief im Jahr 2012 das Programm Shelter City ins Leben. Suzan Goes, Koordinatorin von Shelter City, erklärt die Idee hinter dem Projekt:
“MenschenrechtlerInnen in vielen Ländern befinden sich in Gefahr, und weltweit schrumpft der Freiraum für die Zivilgesellschaft immer weiter. Das Projekt Shelter City bietet diesen MenschenrechtlerInnen zeitweise einen sicheren Ort, wo sie sich erholen, an Trainingsprogrammen teilnehmen und ihre Netzwerke erweitern können. Wir glauben, dass dies ausschlaggeben ist, damit sie ihre wichtige Arbeit fortsetzen können.”
Unter dem Programm wird verfolgten MenschenrechtlerInnen drei Monate lang Schutz in einer niederländischen Stadt geboten. Dort können sie sich erholen und ihre Arbeit in Sicherheit fortsetzen. Außerdem wird den MenschenrechtsverteidigerInnen ermöglicht, ihre ausländischen Netzwerke zu erweitern und Bewusstsein für die Themen, mit denen sie sich befassen, im Ausland zu erhöhen. Zweimal im Jahr nimmt die Organisation Bewerbungen an. Letzten Dezember allein erhielt das Programm einen Rekord von 175 Anträgen. “Das zeigt, wie sehr unsere Unterstützung gebraucht wird”, fügt Suzan Goes hinzu. Die Teilnehmer werden dann von einem unabhängigen Komitee ausgewählt. Folgende Kriterien werden hierbei in Betracht bezogen:
- Ist der/die BewerberIn MenschenrechtsverteidigerIn? Fördert seine/ihre Arbeit die Menschenrechtsidee?
- Wird der/die MenschenrechtlerIn im Heimatland bedroht oder befindet sich anderweitig unter extremem Druck und kann deswegen von einem kurzfristigen Auslandsaufenthalt profitieren?
- Besteht die Möglichkeit, dass der/die MenschenrechtlerIn nach drei Monaten ins Heimatland zurückkehren kann?
- Erklärt sich der/die MenschenrechtlerIn bereit, in den Niederlanden öffentliche Reden zu halten und besitzt er/sie grundlegende Englischkenntnisse?[2]
- Ist der/die MenschenrechtlerIn bereit, alleine in die Niederlande zu kommen?
Suzan Goes erklärt, dass die Organisation leider nicht genug Kapazitäten zur Verfügung hat, um auch Familienmitglieder in das Programm aufzunehmen. Eine gründliche Untersuchung soll daher versichern, dass Familienmitglieder durch die Teilnahme ihrer Verwandten nicht zu Schaden kommen.
Die Teilnehmer
Bewerben können sich MenschenrechtlerInnen im weitesten Sinne, solange ihre Arbeit die Förderung von Menschenrechten mit friedlichen Mitteln zum Ziel hat. So können zum Beispiel Anwälte und Mitglieder von NGOs, aber auch Künstler und Schriftsteller am Projekt teilnehmen. Das Programm nimmt MenschenrechtlerInnen aus allen Regionen und mit verschiedensten thematischen Schwerpunkten auf. Teilnehmer kamen unter anderem aus Kenia, Mexiko, Thailand, Pakistan, Russland, und Mali, und behandelten Themen wie LGBTI-Rechte, Umweltrecht, Zugang zur Justiz, oder Meinungsfreiheit.
Alexéy Zalensky ist einer der Menschenrechtler, die am Projekt Shelter City teilnahmen. Als offen homosexuell lebender LGBTI-Aktivist war er in seinem Heimatland Russland Homophobie und Diskriminierung ausgesetzt. Er entschied sich, am Programm teilzunehmen, nachdem er auf offener Straße aufgrund eines Regenbogen-Stickers tätlich angegriffen wurde, aufgrund seiner sexuellen Orientierung von seiner Arbeit entlassen wurde, und sogar verhaftet wurde, nachdem er an einer friedlichen LGBTI-Kundgebung teilgenommen hatte. “Auf so viel Aggression und Diskriminierung war ich nicht vorbereitet und war überfordert”, erinnert sich Alexéy Zalensky. Deswegen beschloss er, Russland für drei Monate zu verlassen.
Auch Iyad Haddad ist einer der Teilnehmer in dem Programm. Seit 30 Jahren schon dokumentiert er Menschenrechtsverletzungen an der palästinensischen Bevölkerung, zuletzt für die Organisation B’Tselem. Derzeit arbeitet er mit Opfern und Zeugen von Übergriffen im palästinensischen Flüchtlingscamp Al-Jalazoon im Westjordanland. “Die Situation in meinem Land ist sehr schlecht und wird sich so bald nicht ändern. Ich hielt es für sinnvoll, zumindest einen Monat lang der miserablen Lage unter der Besetzung zu entfliehen”, erklärt Iyad Haddad. “Ich hoffte, dass ich nach der Teilnahme in dem Programm meine Arbeit mit neuer psychischer Kraft, erneuerter Energie und weniger Frustration wieder aufnehmen können würde.” Iyad Haddad nutzt für seine Arbeit in Palästina verschiedene Medien zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, darunter Zeugenaussagen, Filmausschnitte, und Unterlagen aus Krankenhäusern oder Leichenhallen. Daher nahm er es sich als Ziel, seine Fähigkeiten im Umgang mit verschiedenen Informationsträgern während des Programms zu verbessern.
Kiruba Munusamy ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin in ihrem Heimatland Indien. Dort setzt sie sich unter anderem für die Rechte von Minderheiten, einschließlich indigener Völker, für LGBTI-Rechte, gegen Diskriminierung im akademischen Bereich, gegen die Todesstrafe und für Meinungsfreiheit ein. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit befasst sich mit den aus dem indischen Kastensystem ausgeschlossenen Dalits, auch bekannt als die “Unberührbaren”. Dalits erleiden in Indien schwere Menschenrechtsverletzungen, von sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung über Benachteiligung im Bildungssystem bis hin zu sexueller Gewalt gegen Dalit-Frauen. Kiruba Munusamy, die selbst aus dieser unterdrückten Schicht stammt, arbeitet seit 2014 für den Obersten Gerichtshof und ist wegen ihrer öffentlichen Präsenz größtenteils vor staatlichen Repressalien geschützt. Allerdings wird sie aufgrund ihrer Arbeit immer wieder von verschiedenen sozialen Akteuren bedroht. Ein Ereignis, das ausschlaggebend für ihre Teilnahme im Shelter City Programm war, ergab sich aus ihrem Einsatz für die Rechte von Paaren aus unterschiedlichen Kasten: In Indien ist die Heirat zwischen Angehörigen verschiedener Kasten beinahe unmöglich; Ehrenmorde sind in solchen Situationen keine Seltenheit. In ihrer Funktion als Anwältin half Kiruba Munusamy mehreren solcher Paare. Die Umstände einer solchen Heirat führten dazu, dass sie auf offener Straße attackiert und schwer verletzt wurde. “Um meine Arbeit zu unterstützen und mir eine Pause von der ruhelosen Situation in meiner Heimat zu gewähren, wurde ich für das Shelter City Projekt ausgewählt”, erzählt Kiruba Munusamy.
In den Niederlanden
Vor ihrer Ankunft können Teilnehmer angeben, was sie während ihres Aufenthalts erzielen möchten. Sie können wählen zwischen Ruhe und Erholung, Trainingskursen, Networking, oder einer Kombination aus diesen Aktivitäten. Justice and Peace bietet auch ein Sicherheitstraining für die Teilnehmer an. Zusätzlich können MenschenrechtsverteidigerInnen verschiedene Kurse belegen, zum Beispiel Englischunterricht oder Meditationskurse. Sie treffen sich auch häufig mit anderen NGOs, dem niederländischen Außenministerium, oder Behörden in Brüssel. Oftmals werden auch Veranstaltungen an Universitäten organisiert, wo die MenschenrechtlerInnen Vorträge oder Workshops zu den Themen, an denen sie arbeiten, halten können.
Alexéy Zalensky nutzte seine Zeit in den Niederlanden vor allem zur Regenerierung. Er will Psychologie studieren und machte Gebrauch von der Infrastruktur der Universität Groningen, um sich fortzubilden. Was er vor allem von seinem Aufenthalt mitgenommen hat, war der Gegensatz zu seinem Heimatland: “Das Wichtigste war, dass ich eine komplett andere Kultur und Einstellung zu Minderheiten erlebt habe”, sagt er. Alexéy Zalensky fand es auch sehr bereichernd, sich mit anderen Teilnehmern auszutauschen und findet, dass dafür noch mehr Raum geschaffen werden könnte. Zukünftigen Teilnehmern rät er: “Seid ehrlich mit euren Gefühlen und Bedürfnissen.” Man solle sich nicht schuldig fühlen, falls man emotional nicht in der Lage ist, sich in der Zeit im Programm sehr aktiv zu betätigen.
Iyad Haddad hatte zunächst Schwierigkeiten, seine Heimat zu verlassen, da er nur aus Jordanien abreisen konnte. Um dorthin zu gelangen, musste er drei Checkpoints durchqueren. Seine Frau und drei Kinder musste er zuhause zurücklassen. Iyad Haddad gibt an, viel über physische, psychische und digitale Sicherheit gelernt zu haben, und auch sehr vom Networking in den Niederlanden profitiert zu haben: “Ich traf viele Abgeordnete, Journalisten, Mitglieder des Parlaments, Spender, und andere Menschenrechtsverteidiger und Aktivisten. Es war eine gute Gelegenheit, um mich mit ihnen zu vernetzen.” Er schätzte auch die Möglichkeit, in den Niederlanden über die Menschenrechtslage in Palästina informieren zu können.
Kiruba Munusamy lebte während ihrer Zeit in den Niederlanden in Nijmegen. “Da es eines der Hauptanliegen meiner Arbeit ist, globale Aufmerksamkeit auf das inhumane Kastensystem zu lenken, nahm ich den Aufenthalt als Möglichkeit an, mich international gegen kastenbasierte Diskriminierung auszusprechen”, erzählt sie. Während ihres Aufenthalts belegte sie Seminare, Menschenrechtskurse, und Englischunterricht an den lokalen Universitäten, hielt Vorträge, und traf sich beispielsweise mit dem Bürgermeister von Nijmegen und dem Koordinator für Indien des niederländischen Außenministeriums. Außerdem wurde sie während ihres Aufenthalts zum Anlass des Internationalen Frauentags zu den “Hague Talks” nach Den Haag eingeladen. Profitiert habe sie vor allem von dem in den Niederlanden erlernten Wissen, der neu gewonnene Stärke und der Erfahrung, Menschenrechte international zu verteidigen. “Meine Erlebnisse im Shelter City Projekt waren inspirierend und lebensverändernd. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich als Mensch mit vollem Respekt und Würde behandelt”, erinnert sich Kiruba Munusamy. Allerdings schlägt sie vor, dass Teilnehmer noch besser mit den Organen der EU und internationalen Organisationen, die für dieselben Themen eintreten, vernetzt werden könnten.
Rückkehr
Die meisten Teilnehmer können problemlos wieder in ihre Heimat zurückkehren. “Bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland starten die MenschenrechtlerInnen mit frischer Energie und neu erlernten Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, besser in ihrem herausfordernden Arbeitsumfeld zurechtzukommen”, erklärt Suzan Goes. Nur selten kommt es vor, dass die Situation im Heimatland der MenschenrechterInnen so eskaliert, dass eine Rückkehr zunächst nicht in Frage kommt. In solchen Fällen werden dann individuelle Lösungen konzipiert: “Einmal konnte beispielsweise ein Menschenrechtler aus Gambia nicht zurückkehren, also haben wir seinen Aufenthalt verlängert. Er hat sich für ein Studium an der Universität Groningen eingeschrieben. Danach konnte er nach Gambia zurück”, erinnert sich Suzan Goes. Auch Alexéy Zalensky und Iyad Haddad sind inzwischen wieder sicher in ihre Heimat zurückgekehrt – so sicher, wie sie denn sein können. “Meine Zukunft ist ungewiss. Wegen der Besetzung kann niemand mehr als einen Tag vorwegplanen”, erklärt Iyad Haddad.
Kiruba Munusamy merkt an, dass das Shelter City Projekt zwar vielen Teilnehmern wieder neue Kraft und Hoffnung gibt, sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat allerdings meistens wieder im selben Umfeld und mit geringen Möglichkeiten für Veränderung feststecken. Um die gewonnene Motivation am Leben zu halten, schlägt Kiruba Munusamy vor, einen Teil des Programms auf mögliche Initiativen in den Heimatländern der Teilnehmer zu konzentrieren. “Ich war sehr aufgeregt und enthusiastisch und wollte Großes bewegen, aber fühlte mich nach meiner Rückkehr etwas enttäuscht. Doch die Dinge, die ich gelernt hatte, halfen mir, darüber hinwegzukommen”, erklärt sie. Beispielsweise habe sie gelernt, kollektiv und organisiert für eine Sache zu arbeiten. Nach ihrer Rückkehr gründete sie mithilfe ihrer neu erlernten Fähigkeiten die Organisation “Legal Initiative for Equality”. Die Initiative konzentriert sich auf die Ausbildung von MenschenrechtlerInnen, die sich dann wiederum für Minderheiten in Indien einsetzen werden.
[1] Eigentlich: Erklärung über das Recht und die Verpflichtung von Einzelpersonen, Gruppen und Organen der Gesellschaft, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen
[2] Begrenzte Plätze stehen auch für französisch- oder spanischsprachige MenschenrechtsverteidigerInnen zur Verfügung.
Quellen
Amnesty International. (2017, 16.05.). Human rights defenders under threat – a shrinking space for civil society. Verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/act30/6011/2017/en/ [30.01.2018].
Front Line Defenders. (2018, 22.01.). Annual Report on Human Rights Defenders at Risk in 2017. Verfügbar unter https://www.frontlinedefenders.org/en/resource-publication/annual-report-human-rights-defenders-risk-2017 [30.01.2019].
OHCHR. (o.D.). Declaration on Human Rights Defenders. Verfügbar unter http://www.ohchr.org/EN/Issues/SRHRDefenders/Pages/Declaration.aspx [30.01.2018].