Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Kommentar von Jürgen Meyer / Sven Holscheidt (Hrsg.), Baden-Baden (Nomos) 2019, 5. Auflage, 1030 Seiten

5. November 2019 | Von | Kategorie: Rezensionen

von Rainer Huhle

 

Der Menschenrechtsschutz ist in Europa bei der ersten gesamteuropäischen Institution, dem Europarat, angesiedelt. Dort wurde die 1950 verabschiedete Europäischen Menschenrechtskonvention verabschiedet, und auch der 1959 errichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist entsprechend ein Organ des Europarats. Da alle Mitgliedsstaaten der erst später aus der Europäischen Wirtschaftsunion hervorgegangenen Europäischen Union auch Mitglieder des Europarats sind und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben – dies gehört sogar zu den Aufnahmebedingungen in die EU – sah man lange keine Notwendigkeit, dass die EU sich eine eigene Menschenrechtsverfassung geben müsste. Die Arbeit an einer verbindlichen Charta der Grundrechte für alle EU-BürgerInnen ergab sich im Zusammenhang mit Überlegungen zu einer europäischen Verfassung im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union von einer reinen Wirtschaftsunion zu einer politischen Union, die auch ihre gemeinsamen Grundwerte manifestieren sollte. So wurde im Rahmen einer Sitzung des Europäischen Rats im Dezember 2000 in Nizza feierlich die Charta der Grundrechte verabschiedet. Aus der angedachten europäischen Verfassung wurde jedoch nichts, und so blieb die Grundrechte-Charta zunächst alleine stehen. Allerdings verweist der 2007 reformierte EU-Grundlagenvertrag (Vertrag von Lissabon) auf die Charta, die nunmehr auf der gleichen Ebene gilt und verbindlich ist wie die EU-Verträge auch. Damit ist die Grundrechte-Charta in erster Linie ein Katalog von Grundrechtsnormen, auf die alle Organe und Institutionen der EU und die EU-Mitgliedstaaten, wenn sie EU-Recht anwenden und umsetzen, verpflichtet sind, und zwar im Rahmen des europäischen Rechts (Art. 51 der Charta).

Für Bürgerinnen  und Bürger der Europäischen Union, die sich in ihren Menschenrechten verletzt sehen, stehen damit im Prinzip, nach Durchlaufen der nationalen Rechtswege, zwei Wege offen: nach Straßburg zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), wenn sie eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch einen Mitgliedstaat der EU geltend machen wollen, oder nach Luxemburg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), wenn sie ein Recht aus der Grundrechte-Charta durch die EU selbst oder bei der Umsetzung von EU-Recht verletzt sehen. Zwar decken sich die Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Grundrechte aus der EU-Charta weitgehend. Sie sind jedoch nicht in allen Punkten identisch, und vor allem haben die beiden obersten europäischen Gerichtshöfe sehr unterschiedliche Prinzipien bei der Anwendung de jeweiligen Rechts entwickelt. Sie kommen auch nicht notwendigerweise zum gleichen Ergebnis, wie sich etwa bei Urteilen der beiden Gerichte zum Tragen religiös determinierter Kleidungsstücke in verschiedenen öffentlichen oder privaten Räumen, oder in Entscheidungen zu hate speech und Meinungsfreiheit ersehen lässt. Gleichwohl kann man es als eine Stärkung des Menschenrechtsschutzes verstehen, wenn aufgrund der Verabschiedung der Grundrechte-Charta nun auch der EuGH sich mit Menschenrechtsfragen befassen muss und damit die Grundrechte eben auch als Bestandteil des EU-Rechts sichtbar macht.

Bereits 2003, also gut zwei Jahre nach Verabschiedung der Grundrechte-Charta, legte Jürgen Meyer einen ersten wissenschaftlichen Kommentar zur Charta vor. Die nunmehr erschienene fünfte Auflage des Standardwerks, die als zweiten Herausgeber Sven Holscheidt einbezieht, ist inzwischen auf fast den doppelten Umfang angewachsen. Darin spiegelt sich die Entwicklung der Rechtsprechung allgemein, aber vor allem zu neueren Rechtsgebieten wie z.B. des Datenschutzes, aber auch der sozialen Rechte. Dass auch der Abschnitt über die Anwendbarkeit der Charta (der genannte Artikel 51 und die restlichen drei der insgesamt 54 Artikel) weitaus ausführlicher zu kommentieren ist, zeigt die gewachsene Relevanz dieser Charta der Grundrechte aller EU-BürgerInnen.

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