von Otto Böhm
Dr. Melanie Wager, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, nimmt die oft gestellte Frage auf: Wie konnten die Deutschen zu Nazis werden, wie konnten sie so treue Gefolgsleute und verbrecherische Akteure werden? Sie will mit ihrer Untersuchung weg von der Antwort, sie seien Opfer einer Gehirnwäsche, einer allmächtigen Propaganda geworden. Stattdessen arbeitet sie in ihrer wissenschaftlichen Untersuchung (Dissertation) die Interaktion der Leserinnen und Leser mit der Stürmer-Schriftleitung heraus. Die „Kommunikation“ war organisiert und beidseitig intendiert.
Das Werk von Wager gibt viel Grundlegendes und Detailliertes über das „Paar“ Streicher/Stürmer her: zum Aufstieg: „Adolf Hitler und Julius Streicher wurden etwa zur selben Zeit politisch aktiv und gewannen in ihren jeweiligen lokalen politischen Gruppierungen schnell Zuspruch, nicht zuletzt für ihren radikal antisemitischen Kurs.“ (S. 33) „Julius Streicher, Volksschullehrer, Frankenführer mit schwäbischem Akzent, war der Gründer der NSDAP-Ortsgruppe in Nürnberg, die er am 20 Oktober 1922 in Anwesenheit von Hitler gründete.“ (S. 35); und zum Absturz: Die „Vorwürfe der Korruption, Misshandlung von Häftlingen und anstößigem Lebenswandel“ (S.70) führten im Februar 1940 dazu, dass er aller seiner Parteiämter enthoben wurde. Das Alliierte Militärtribunal verurteilte ihn 1946 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode; er wurde am 16. Oktober 1946 hingerichtet.
Das Politisch-Biografische muss hier nicht weiter gewürdigt werden; es soll nur um zwei Fragen gehen, die mit der Bildungsarbeit zusammenhängen, wie sie ein Team von NMRZ und Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg seit Jahren auch im Saal 600 und im Memorium konzipieren und durchführen. Zum einen: Auch aus Schulklassen heraus wird immer wieder die oben formulierte Schlüsselfrage zum Thema gestellt. Wie kann die eigenständige und begeisterte Beteiligung der Bevölkerung unter den Bedingungen der zeitlichen Knappheit in der Politischen Bildung beantwortet werden? Vielleicht mit einem Beispiel? Streichers Stürmer war ja nicht nur die Obsession eines Psychopathen, sondern ein frühes Modell für eine moderne Leser-Blattbindung. Das antisemitische Boulevardblatt lebte vom Engagement der Belegschaft und der Gesamtredaktion ebenso wie vom Merchandising: Stürmer-Schaukästen, Stürmer-Taschen, Stürmer-Fahrräder, Stürmer-Märsche“ (S. 97 ff), alles in reichsweiter Verbreitung. Breiten Raum nahmen auch die begeisterten Leser- und Leserinnen-Zuschriften ein. Ein besonderes Markenzeichen waren die Hass-Karikaturen des Zeichners Fips, alias Philipp Ruprecht, von denen Wager eine große Anzahl in den Band aufgenommen hat.
Die Autorin fasst ihr Fazit (ab Seite 346) unter die folgenden Begriffe: „Mehr Interaktion als Indoktrination“, „Selbstermächtigung der Leserschaft“, „Omnipräsenz im öffentlichen Raum“ und „Übungsfeld der Vergemeinschaftung“.
Die zweite Frage ist eine völkerstrafrechtliche: Warum saß der am Ende in der NS-Hierarchie unbedeutende Streicher auf der Anklagebank im Saal 600 und wurde zum Tode verurteilt?
„Als einziger noch verbliebener Hauptrepräsentant der Judenverfolgung stand nur noch Streicher zur Verfügung“ (S.77). Seine propagandistische Tätigkeit wurde als zentraler Faktor für die Judenvernichtung eingestuft. Unter der Überschrift „Konträre Urteile, Todesstrafe versus Freispruch“ (S. 322 – 325) entwickelt Wager eine kurze Bewertung des Falles Streicher vor dem IMT, auch in Bezug auf den Freispruch für den Mann aus dem Propaganda-Ministerium, Hans Fritzsche. „War das Urteil für Streicher im juristischen Sinne gerecht, obwohl er an der physischen Judenvernichtung weder persönlich noch in offizieller Funktion beteiligt war?“ (S. 323) Wie kann der Anteil seiner Propaganda juristisch bewertet werden? Maßgeblich war die Verbindung mit dem Gesamttatkomplex. Dabei war nicht ein „Kausalzusammenhang“, sondern „der subjektive Tatbestand und die Tatabsicht“ (S.323) für die Richter entscheidend. Dafür war Streichers permanenter öffentlicher Aufruf zur Ausrottung der Juden für das Gericht Beweis genug. Zudem: „Nach heutiger Rechtslage wäre Streicher wegen Anstiftung zum Völkermord ebenfalls verurteilt worden, jedoch nicht zum Tode.“ (S. 324)
Wagers Werk sollte vor allem für die erste, umfangreichere Frage, warum „so viele mitgemacht haben“, als substanzielle Quelle genutzt werden.