von Sophia Birner
Geboren 1924 in Fürth und geflohen 1936 nach Südafrika erlebte sie als junges Mädchen das Naziregime und als Jugendliche und Erwachsene die Apartheid in Südafrika. Heute ist Ruth Weiss renommierte Journalistin und setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und die Freiheit der Menschen ein. Am 26. Juli feierte sie ihren 100. Geburtstag.
Unermüdlich besucht Ruth Weiss auch im hohen Alter Kinder und Jugendliche in Schulen, um als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeug*innen über die Auswirkungen von Hass, Antisemitismus, Rassismus und rechtem Gedankengut zu informieren und zu warnen. Immer wieder erzählt sie in Interviews von ihren Erlebnissen als junges Mädchen in der Schule, als Adolf Hitler an die Macht kam und Ruth Weiss von einem Tag auf den anderen sowohl von ihren Mitschüler*innen als auch von den Lehrkräften ausgegrenzt und ignoriert wurde. Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Ruth Weiss über die heutige Jugend und deren Anfälligkeit für Antisemitismus sprechen. Außerdem gibt sie Einschätzungen zur deutschen Politik und Gesellschaft in Bezug auf Antisemitismus als auch zur Außenpolitik der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Israel-Gaza-Krieg ab.
Das Interview wurde am 18. Juli 2024 schriftlich mit Ruth Weiss geführt.
NMRZ: Frau Weiss, wenn Sie sich die heutige Jugend ansehen – wo sehen Sie speziell bei ihr Chancen für eine Überwindung von Rassismus und Antisemitismus und wo sehen Sie Gefahren?
Ruth Weiss: Die heutige Jugend mit ihrer Kultur der Parolen und kurzen Videos ist nicht wie vorige Generationen an lange Projekte oder Themen gebunden. Das Interesse vergeht schnell. Alles geht kurzfristig. Doch Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind leider Probleme, die über die vielen Jahrhunderte bestehen und aus verschiedensten Gründen zum Mosaik unterschiedlichster Gesellschaften gehören. Wenn wie heute der Antisemitismus durch den Gaza-Konflikt gestärkt Anhänger und Angriffspunkte findet, ist das gefährlich. Es ist leicht, sich den Altersgenossen anzuschließen ohne Wissen über die Ursachen und Hintergründe und ohne zu berücksichtigen, dass der Nahost-Konflikt nicht einseitig ist.
In deutschen Schulen wird weiter über den Holocaust gesprochen. Doch: wieviel davon kommt bei den Jugendlichen an? Genügen Gedenktage wie der Auschwitztag, um gegen Antisemitismus anzukommen? Ich denke nicht. Ich finde es schade, dass – soweit ich das verstanden habe – es an deutschen Schulen keine Debattenkultur gibt. Bei einer derartigen Veranstaltung mit „für” und „dagegen” muss der Redner für beide Seiten debattieren. Daraus lernen die andere Seite und die Zuhörer Tatsachen, die bei Protestaktionen sonst untergehen. Die Entscheidung für eine Seite am Ende der Diskussion wäre bewusster. Eventuell spornt eine Debattenkultur die Jugend dazu an, sich zu informieren? Veranstaltungen über Rassismus und Antisemitismus sowie von betroffenen Jugendorganisationen produzierte kurze Videos könnten ebenfalls ohne erhobenen Zeigefinger informieren.
NMRZ: Sie schildern in Ihrem Buch „Ein Lied ohne Musik” Ihre Erfahrungen mit Antisemitismus zum Zeitpunkt, als Sie noch ein Kind waren und die Nazis an die Macht kamen. Muss Aufklärung über Antisemitismus und Rassismus bereits in der Grundschule stattfinden? Wo sehen Sie die größten Angriffspunkte im Leben eines Menschen für eine antisemitische und rassistische Ideologisierung?
Ruth Weiss: Niemand ist mit Vorurteilen geboren. Theoretisch müsste man im Kindergarten anfangen, indem deutsche Kinder mit Kindern der „Anderen” spielen. In dem Alter sieht man keine Hautfarbe oder Religion. Aber das ist idealistisch. Vorurteile stammen aus der Familie und später aus dem Umfeld. Das lässt sich den Kindern in der Grundschule nahebringen, wenn dort alle Kinder zusammenkommen und dabei über ihre Gesellschaften selbst sprechen, abgekoppelt von familiären Einflüssen.
Für Ältere müsste es breitere Information über die Herkunft des Antisemitismus geben. Die Geschichte der Menschheit, die in Afrika begann, sollte man klar machen, um dem Rassismus entgegenzutreten. Um Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen, darf die Kultur anderer Völker nicht vergessen werden.
NMRZ: Was möchten Sie Menschen sagen, die Antisemitismus lediglich in der Vergangenheit verorten?
Ruth Weiss: Die Anzahl antisemitischer Angriffe und antisemitischer Aussagen – auch in den Medien – hat sich stark erhöht. Deswegen muss man Menschen fragen, für die Antisemitismus nur ein Problem der Vergangenheit ist:
„Leben Sie nicht in der Gegenwart? Ist Ihnen unbekannt, dass viele Juden in Deutschland heute mit Angst leben? Sie tragen in der Öffentlichkeit nicht mehr wie zuvor Symbole, die sie als Jude oder Jüdin identifizieren. Andere denken an Emigration.”
NMRZ: Wo sehen Sie in der deutschen Politik und Gesellschaft die größten Gefahren hinsichtlich eines aufkeimenden Antisemitismus und Rassismus?
Ruth Weiss: Es scheint, dass es in bestimmten Gegenden, in denen sich überproportional viele Menschen benachteiligt fühlen, ein Umfeld der Unzufriedenheit sowie der Ablehnung von Politiker*innen besteht und sich deshalb Menschen anti-demokratischen Parteien anschließen. Dagegen und damit muss sich vor allem die lokale Politik beschäftigen. Ebenso ist die Rolle der Regierungsvertreter, die Information über diese Themen verbreiten und erklären, sehr wichtig.
NMRZ: Vor wenigen Wochen hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Ägypter über das außenpolitische Handeln Deutschlands im Rahmen des Israel-Gaza-Kriegs. Der junge Mann verstand nicht und fragte mich, warum wir Deutschen uns immer noch schuldig für den Holocaust fühlen. Seiner Meinung nach sollten wir die Vergangenheit überwinden. Wie stehen Sie zu dieser Aussage? Sollten wir den Gaza-Krieg unabhängig von unserer Geschichte betrachten? Oder sollte die Sicherheit Israels weiterhin „Staatsräson” bleiben?’
Ruth Weiss: Die Sicherheit Israels muss „Staatsräson” bleiben. Das ist nicht nur für Israel wichtig, sondern das Bestehen Israels ist für alle Juden ein Schutz, dadurch sind sie nicht mehr eine Religionsgemeinschaft bzw. ein Volk, dessen Mitglieder ohne eigenes Land in anderen Staaten leben.
Die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 beruht auf einer UN-Resolution. Man hielt die Gründung eines eigenen Staates zum Schutz der Juden für notwendig, da weder 1938 noch nach dem Krieg andere Länder bereit waren, verfolgte Juden bzw. Überlebende der KZs aufzunehmen. Der Gaza-Krieg ist die Folge des dadurch entstandenen langen, unaufgearbeiteten Konflikts.