Helmut Frenz: … und ich weiche nicht zurück: Chile zwischen Allende und Pinochet

4. Oktober 2010 | Von | Kategorie: Rezensionen

Wie ein Dorfpfarrer zum Kämpfer für die Menschenrechte wurde – Helmut Frenz schreibt seine Autobiografie.

Er war Dorfpfarrer. Dann hörten er und seine Frau von den Problemen der „Dritten Welt“, wie es damals hieß. Sie wollten etwas tun. Deshalb wurde Helmut Frenz, der 2010 seine Lebenserinnerungen auf Deutsch veröffentlicht hat, Pfarrer in einer deutschen evangelischen Gemeinde in Chile. Das Ehepaar merkte, dass es in einem sprachlichen und kulturellen Ghetto gelandet war. Frenz suchte sich eine Vertretung und machte einen Intensivkurs in Spanisch. Mit diesem Ausbruch aus dem reaktionären Milieu der Deutsch-Chilenen begann ein politischer Werdegang, der ihn mitten hinein in geschichtliche Umbrüche führte.

Die linke Allende-Regierung (1970-1973) verfolgte er mit einiger Sympathie. Seine Kirche organisierte Sozialprojekte für Lateinamerikaner, die aus ihren diktatorisch regierten Ländern nach Chile geflohen waren. Der Putsch am 11.9.1973 traf Frenz, obwohl viele ihn erwarteten, unvorbereitet. Bald kamen Verfolgte zu ihm. Da die Militärs eine Ausgangssperre verhängt hatten, hatte er Zeit, mit ihnen zu diskutieren. Er, ein politischer Neuling, lernte von Menschen, die mit allen Wassern gewaschen waren. Währenddessen klingelte das Telefon und Gemeindemitglieder berichteten, wie glücklich sie über den Putsch waren. Es war der Anfang eines Spagats, den er für den Rest seines Lebens immer wieder gekonnt aufführte. In seinem Buch nennt er es „Doppelexistenz“.

Am 11.9. war der Putsch, am 18. ist der Jahrestag der Unabhängigkeit Chiles. An diesem Tag findet traditionell in der Kathedrale von Santiago ein Gottesdienst statt, an dem die Regierung teilnimmt. Die Kirchen brauchten nach dem Putsch einen Draht zu den neuen Machthabern, und die Geistlichen sprachen sich ab, wer wen anspricht. Aus Sicherheitsgründen findet der Gottesdienst diesmal in einer anderen Kirche statt. Über ihr fliegen Hubschrauber, in der Umgebung sind Scharfschützen postiert, die Gottesdienstbesucher werden durchsucht, an jeder Säule der Kirche steht ein Soldat in Uniform mit Maschinenpistole. Applaus für die Junta, wenn auch spärlich. Beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst verabreden sich die Geistlichen mit „ihren“ Ministern. Frenz ist hinterher in Schweiß gebadet. Das ist die eine Seite der Doppelexistenz.

Die andere Seite, seine Arbeit für die Verfolgten, polarisierte seine mehrheitlich pinochettreue Kirche. Die Konflikte führten schließlich zur Spaltung. Die Kirche hatte ihm erlaubt, den Titel „Bischof“ (obispo) zu führen, da es für seine Amtsbezeichnung „Propst“ kein spanisches Wort gibt. Nach der Spaltung nannten seine Gegner ihn den „falschen Bischof“.

Es wurden immer mehr, die sich vor den Massenverhaftungen der Militärdiktatur zu ihm flüchteten. Er tarnte die Flüchtlingsgruppe als „Bibelseminar“, mit Schaubildern und Lesezeichen in der Bibel. Auch diejenigen unter ihnen, die dem parteioffiziellen Atheismus anhingen, büffelten nun die Bibel oder mussten so tun, bis die Sache aufflog, das Gebäude umstellt wurde und alle „Seminaristen“ verhaftet wurden. Sie wurden in einen Militärbus gezwungen. Frenz mischte sich unter sie. Durch rasche und gezielte Intervention von Freunden kamen fast alle frei. Der am stärksten Gefährdete war, als die Militärs kamen, in einem Einbauschrank des „Bibelseminars“ versteckt worden. Frenz erzählte den Soldaten, die das Gebäude systematisch durchsuchten, dafür gebe es keinen Schlüssel, es sei irgendwelches Zeug darin, und der Trupp gab sich damit zufrieden. Als die Militärs weg waren, brach der Mann den Schrank auf und konnte sich retten. Frenz berichtet von weiteren Rettungsaktionen, die er selbst ausrichtete: Abgelenkte Wachen, eine gefolterte Frau, die als seine Sekretärin posieren musste, und mit der er in die rettende Botschaft fuhr. Er hätte noch weit mehr solcher Aktionen berichten können.

Frenz schildert, wie er es durch Intervention bei Bundeskanzler und Bundespräsident schaffte, dass der zögerliche deutsche Botschafter in Santiago, Lüdde-Neurath („Das sind doch alles Tupamaros!“), nach Druck von oben Flüchtlinge in seiner Residenz aufnimmt und dem „lieben Bischof“ ganz stolz „seine Tupas (Tupamaros)“ zeigt. Lernprozesse im diplomatischen Apparat bedürfen starker Interventionen von außen.

Hilfe für eine Vielzahl von Menschen erfordert Organisation, Geld, die richtige Reaktion in unvorhersehbaren Situationen, gute Nerven, wo andere vor Angst vergehen würden, einen Blick für Lücken im System, Verstellkunst, Drähte zur Macht, Auslandsreisen mit Blitzlichtgewittern und Audienzen. Frenz und seine „Mitstreiter“ (wie er gerne sagte) gründeten ein Flüchtlingskomitee für die Lateinamerikaner, die nach Chile geflohen waren und dort nach dem Putsch in der Falle saßen. Sie gründeten ein ökumenisches Friedenskomitee. Es war „eine Gemeinschaft von Frauen und Männern, die gar nicht anders konnten, als für andere, in Not geratene Menschen Hilfe zu leisten. Sie wurden von einer Kraft bewegt, die sie selbst gar nicht ins Werk gesetzt hatten. Sie waren von einem Geist besessen und beseelt, den sie nicht gerufen hatten“, so Frenz. Sie halfen Tausenden, retteten Hunderten das Leben.

Kraft? Geist? Besessen und beseelt? Welche Motive treiben jemanden an, der so ein Leben lebt, welche Theorien hat er im Kopf? Hätte Frenz nach einer schlüssigen Theorie handeln wollen, hätte er nicht handeln können. Sein Leben ist bis heute ein Lernprozess. Er hat, noch unter dem Eindruck der Polarisierungen während der Allende-Zeit und wegen der Ausgangssperre beim Putsch abgeschnitten von Informationen, Verständnis für den Putsch geäußert. Ehrlich bis auf die Knochen druckt er in seinem Buch auch dieses Dokument ab. Es dauerte nicht lange, und er erfuhr von den systematischen Folterungen und Morden der chilenischen Militärs. Diese Menschenrechtsverletzungen erwiesen sich als die Stelle, an der die Diktatur angreifbar war. Vor allem das „Friedenskomitee“ wurde wenige Monate nach dem Putsch zu Pinochets erstem ernstzunehmenden innenpolitischen Gegner. Menschen wie Frenz und die Angehörigen der politischen Gefangenen waren der Anfang einer chilenischen Zivilgesellschaft mitten im Militärstaat. Solche Gründungen gelingen nur, wenn sie nicht beabsichtigt sind. Sie müssen die sich abzeichnende gesellschaftliche Dynamik auf den Begriff bringen.

Das Motiv, das Frenz antrieb, benennt er in seinem Buch sehr lapidar: Das Evangelium. Dieser feste Boden erlaubte ihm einen Dauerspagat zwischen Politik und Kirche, improvisierten Rettungsaktionen und bischöflichem Habitus, der ihn bis in die Höhle des Löwen trieb. Er berichtet von einer Audienz bei Pinochet, auf die er und ein katholischer Bischof sich mit gründlichen Dokumentationen und sorgfältigen Sprachregelung vorbereiteten. Frenz erschien im „Kampfanzug“ . Die beiden Bischöfe sagten etwas von „physischem Druck“, bis Pinochet sie unterbrach: „Sie meinen Folter?“, die sei nötig, damit die Kommunisten singen. Nach Pinochets Verhaftung in London 1998 schilderte Frenz diese Episode vor einem spanischen Gericht.

1975 wurde Frenz aus Chile ausgewiesen. Hier endet sein Buch, aber nicht sein Kampf für die Menschenrechte, und der sei hier angedeutet. 1976 wurde Frenz Generalsekretär der deutschen Sektion von amnesty international. Jetzt betrieb er professionell, aber immer noch nicht konventionell, was er in Chile gelernt hatte. Er wurde Emissär der realen Welt, in der Folter und Mord herrschen, gegenüber den Behörden. Er drang wegen Verhafteter in Argentinien in das Auswärtige Amt (AA) ein, in diese Burg der Amtskollegen und Aktenhüter. Die Niederschrift des AA vom ersten Gespräch mit ihm klingt wie das Protokoll einer gestörten Paarbeziehung. Der “sogenannte” Bischof Frenz sei “aggressiv” gewesen u.s.w.. Die universelle Geltung der Menschenrechte war damals in der bundesdeutschen Außenpolitik nicht verankert, wie sie es heute ist. Der Anstoß musste von außen kommen.

Frenz wurde Flüchtlingsbeauftragter in Schleswig Holstein, ging 2004 nach Chile und wurde Ehrenbürger dieses Landes. Er arbeitete in einer Stiftung, die sich mit Opferentschädigung befasste. Er ist Professor an einer chilenischen Universität, wo er über die Menschenrechte lehrt. All diese Ämter waren oder sind mit großem Arbeitsaufwand verbunden. Wie das alles zusammenpasst? Der Buchtitel “…und ich weiche nicht zurück“ ist ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja. Mitten in Frenz` flüssig geschriebenem Text stehen theologische Reflexionen zum „Gottesknecht“ bei Jesaja. Es ist eine Staumauer im Erzählfluss, und man möchte die Passage überblättern. Das sollte man nicht tun. Diese Seiten sind die Begründung für seine Arbeit. Ohne Kampfanzug und Spagat.

Helmut Frenz: … und ich weiche nicht zurück: Chile zwischen Allende und Pinochet. Leipzig, Verlag Gustav-Adolf-Werk 2010, ISBN 978 -3-87593-109-9

von Dieter Maier

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