25 Jahre Militärputsch und Völkermord in Argentinien. Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen aus der Sicht von amnesty international

12. Mai 2001 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen, Weltregionen, Vergangenheitspolitik, Amerika

von Angela Dencker

Hearing der „Koalition gegen Straflosigkeit”, 21. März 2001

Statement:

Alarmiert durch den dramatischen Anstieg an Menschenrechtsverletzungen nach dem Putsch der argentinischen Militärs unter General Videla, reiste im November 1976 eine Delegation von amnesty international nach Argentinien. Die Veröffentlichung der Ergebnisse dieser Faktensuche und Zeugenbefragungen – unter anderem eine 16-seitige Liste von „verschwundenen” Frauen, Männern und Kindern – war eine der ersten detaillierten Dokumentationen der Verbrechen, die von den argentinischen Militärs in ihrem als „schmutziger Krieg gegen die Subversion” legitimierten Terrorregime begangen wurden. Einem „Staatsterrorismus” (Dr. Julio Strassera, Ankläger im Verfahren gegen die Befehlshaber der Militärjunta), dessen Feindbild letztlich darauf abzielte, jeden Ansatz gesellschaftskritischen Handelns und demokratischen Gedankenguts gewaltsam zu vernichten.

Wie der ai-Bericht schon 1976 aufzeigte, war bei systematischen Geheimoperationen der argentinischen Militärs, die dem Land ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Gewalt brachten, der Staatsapparat zu einem Instrument des Verbrechens an der eigenen Bevölkerung geworden: Militärische Hauptquartiere und Einrichtungen des Sicherheitsdienstes wurden zu Zentren des „Verschwindenlassens”, der Folter und staatlichen Morden. Zehntausende wurden Opfer.

Bei den Gräueltaten, die unter den Militärjuntas zwischen 1976 und 1983 begangen wurden, handelte es sich nicht nur um Menschenrechtsverletzungen: Aufgrund ihres Umfangs und ihrer Schwere stellen die in Argentinien dokumentierten Menschenrechtsverletzungen –insbesondere die systematische Praxis des „Verschwindenlassens” und der Folter – gemäß internationalem Recht Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Ein Vierteljahrhundert später eröffnet sich nun endlich die Perspektive, die jahrzehntelange Hoffnung auf eine Aufklärung der nach wie vor ungewissen Schicksale Tausender „Verschwundener” sowie auf ein Ende der anhaltenden Straflosigkeit für die Täter erfüllt zu sehen. Nach der Einleitung verschiedener Verfahren gegen Mitglieder der argentinischen Militärs im Ausland, hat kürzlich die mexikanische Regierung im Fall des argentinischen Ex-Marineoffiziers Ricardo Miguel Cavallo (alias Miguel Angel Cavallo) eine internationale Präzedenzentscheidung getroffen: Erstmals soll nun ein wegen Menschenrechtsverbrechen angeklagtes Mitglied der argentinischen Militärs an einen strafverfolgenden Drittstaat, in diesem Fall Spanien, ausgeliefert werden. Inzwischen hat die Entscheidung des argentinischen Richters Gabriel Cavallo, die berüchtigten Amnestiegesetze „Ley de Punto Final” (Schlusspunktgesetz) und „Ley de Obediencia Debida” (Gesetz über den Befehlsnotstand) für verfassungswidrig und damit für ungültig zu erklären, auch Argentinien den Weg zu Wahrheit und Gerechtigkeit geöffnet. Sollte sich diese bislang nur in einem Einzelfall ergangene Entscheidung juristisch durchsetzen, könnten Tausende von Fällen von Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen doch noch gerichtlich geahndet werden.

Diese Entwicklung ist vor allem anderen dem Mut, der Kraft und der bewundernswerten Beharrlichkeit der Angehörigen der Opfer zu verdanken, aber auch dem Engagement von einzelnen Anwälten und Richtern sowie von Menschenrechtsorganisationen weltweit.

Ohne Zweifel ist es der Fall Pinochet, der auch in Argentinien die Betonfront der Straflosigkeit für die Verbrechen der Vergangenheit brüchig werden lässt: Selbst wenn der Ex-Diktator seine gerechte Strafe nicht mehr erleben sollte, steht doch außer Frage, dass sein Fall dem Weltrechtsprinzip zum Durchbruch verholfen hat. Dies ist von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der universellen Gerichtsbarkeit, wonach schwere Menschenrechtsverletzungen unabhängig vom Tatort und der Nationalität der Täter oder Opfer weltweit strafrechtlich verfolgt werden können. Darüberhinaus ist das, was der spanische Richter Baltazar Garzón angestoßen hat, v.a. von Relevanz für die Zukunft der Länder, die an dem Gewalterbe der Vergangenheit leiden: Pinochet angeklagt zu sehen, betonte Chiles Präsident Ricardo Lagos, habe „eine befreiende Wirkung auf die Öffentlichkeit in Chile”.

amnesty international hält die juristische Aufarbeitung von staatlichem Unrecht und den damit verbundenen Kampf gegen Straflosigkeit für eine der wichtigsten Aufgaben der Justiz und des Rechtstaates. Für die Arbeit von ai als internationaler Menschenrechtsorganisation hat der Einsatz gegen die Straflosigkeit einen zentralen Stellenwert.

Warum ist die strafrechtliche Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen, die Strafverfolgung der Täter – der Verantwortlichen für Mord, Folter, „Verschwindenlassen”, für das namenlose Leiden der Opfer und ihrer in quälender Ungewissheit verbliebenen Familien – von solcher Tragweite? Das Bestreben von Menschenrechtsarbeit sollte doch zukunftsorientiert sein – stellt da der Einsatz gegen die Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsverletzungen nicht eine rückwärtsgewandte, in der Vergangenheit befangen bleibende Bemühung dar?

Dies ist nur auf den ersten Blick richtig: Denn die Straflosigkeit von Gräueltaten, wie sie von den argentinischen Sicherheitskräften begangen wurden, erschüttert jedes Vertrauen in rechtstaatliche Strukturen auf Dauer, verhindert ein Unrechtsbewusstsein für die Verbrechen und fördert somit die Wiederholung solcher Taten. Die notwendige Bestrafung der Täter ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Anerkennung des Leidens der Opfer, um Wiedergutmachung und Entschädigung sowie um das dringende Bedürfnis der Hinterbliebenen zu erfahren, was tatsächlich geschehen ist.

Die Bedeutung der strafprozessualen Aufarbeitung durch eine staatliche Instanz – auch wenn sie im Ausland stattfindet – besteht darin, dem Menschenrechtsverbrechen die Aura der mit staatlicher Autorität verbundenen Legitimität zu entreißen: Nur damit kann das Unrechtsbewusstsein (auch innerhalb der Täterfraktion!) wieder hergestellt werden, das die betroffene Gesellschaft verloren hat. Und damit wird die zukunftsorientierte Relevanz des Einsatzes gegen die Straflosigkeit deutlich: als einem außerordentlich wichtigen Beitrag zur Prävention künftiger Menschenrechtsverletzungen, als Beitrag zur Versöhnung der Gesellschaft insgesamt sowie zur Stärkung des auf Menschenrechten und der Geltung von Recht und Gesetz aufbauenden Rechtstaates.

Vor diesem Hintergrund hat sich amnesty international in der internationalen Arbeit gegen die Straflosigkeit 5 Ziele gesetzt:

  1. Die für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Täter sollen zur Rechenschaft gezogen werden.
  2. Gesetzliche und strukturelle Hindernisse der Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen (z.B. die Amnestiegesetze in Argentinien) müssen beseitigt werden.
  3. Der Internationale Strafgerichtshof muss baldmöglichst errichtet werden.
  4. Die Verfahren gegen Täter müssen internationalen Standards für faire Verfahren entsprechen, die Todesstrafe und andere Formen grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Bestrafung müssen ausgeschlossen sein.
  5. Die Opfer müssen entschädigt, die Untersuchungsergebnisse veröffentlicht werden.

Als Mitglied der „Koalition gegen Straflosigkeit” begrüßt amnesty international die Anzeige gegen argentinische Militärs wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die heute morgen im Namen deutscher und deutschstämmiger Familienangehöriger aus Argentinien sowie im Namen des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel eingereicht wurde. Diese Anzeige stellt einen wichtigen politischen Schritt dar,

  • einerseits als Beitrag zur Aufarbeitung und Ahndung der begangenen Verbrechen, zur Strafverfolgung der Täter sowie zur Feststellung von Wahrheit, Schuld und Verantwortung in Argentinien selbst;
  • andererseits aber, weil die Anzeige indirekt einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung des Weltrechtsprinzips in Deutschland darstellt, das bisher nur lückenhaft geregelt ist und damit hinter den Entwicklungen des Völkerrechts zurückbleibt.

Schluß:

Verbrechen wie die von den argentinischen Militärregierungen begangenen stellen eine Beleidigung des menschlichen Wesens und des Gewissens der Menschheit dar: Deshalb unterliegen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit dem Grundsatz der universellen Jurisdiktion. Wo es im betroffenen Land an strafrechtlichen Möglichkeiten zur Ahndung dieser Verbrechen fehlt, darf dies nicht als Hindernis zur Verurteilung und Bestrafung der Täter angeführt werden. Es ist vielmehr die Pflicht jedes einzelnen Mitglieds der internationalen Staatengemeinschaft, die Täter dieser Verbrechen zu verfolgen – dafür gibt es keine Grenzen.

Wünschenswert ist es natürlich, wenn die vom Ausland ausgehenden Impulse zur strafrechtlichen Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverbrechen im betroffenen Land selbst Prozesse in Gang setzen, Wahrheit und Gerechtigkeit herzustellen, Schuld und Verantwortung zu klären. Die Hoffnung bleibt, dass dies auch in Argentinien geschehen wird, und dass die heute eingereichte Anzeige dazu beitragen wird.

Amnesty international hat Argentinien für die bedeutende Rolle, die der Staat in der Vorbereitung des 1998 in Rom verabschiedeten Status für den Internationalen Strafgerichtshof gespielt hat, sowie für dessen jüngst erfolgte Ratifizierung Anerkennung ausgesprochen. Wir gehen davon aus, dass die Umsetzung in die nationale Gesetzgebung Argentiniens rasch folgen wird. Im Hinblick auf internationales Recht kritisiert amnesty international jedoch den Mangel an Bereitschaft der argentinischen Behörden, juristische Ermittlungen zu unterstützen, die in anderen Ländern mit dem Ziel der Aufklärung des Schicksals der „Verschwundenen” und der Bestrafung der Täter stattfinden. ai appelliert daher eindringlich an die argentinische Regierung, solchen juristischen Initiativen im Ausland künftig aktiv zuzuarbeiten.

Ob die international zur Verfügung stehenden juristischen Instrumente jedoch tatsächlich dafür eingesetzt werden, um Straflosigkeit zu beenden und Folterer vor Gericht zu stellen, wird auch in Zukunft in entscheidendem Maße von dem Druck abhängen, der von der Zivilgesellschaft ausgeht. Die bisherige Arbeit der Koalition gegen Straflosigkeit und die Erfahrungen amnesty internationals belegen dies.

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