“Wir brauchen unser eigenes Nürnberg” – Der Nürnberger Prozess als Bezugspunkt für die Aufarbeitung der Vergangenheit in Lateinamerika

18. August 2002 | Von | Kategorie: Weltregionen, Strafgerichtsbarkeit, Vergangenheitspolitik, Amerika

von Rainer Huhle (*)

VIERNES 11. FRANKFURT-NUREMBERG-VIENA

Desayuno en el hotel. Salida hacia Wurzburg para llegar a Nuremberg donde, durante el tiempo libre, podremos conocer esta famosa ciudad, cuna del genial pintor Alberto Durero y que fuera sede del Tribunal que juzgó los crí­menes de guerra tras la Segunda Guerra Mundial. Proseguiremos viaje, ví­a Regensburg y Passau, hacia la frontera con Austria y llegar, finalmente, a Viena. Alojamiento en el hotel.

Aus dem Angebot „Eurofabulosa – 24 dias de recurrido visitando 9 paises“ im Prospekt eines mexikanischen Reisebüros 2001

Dürer und der Nürnberger Prozess also, mittelalterliche Kunst und die Niederlage des Nationalsozialismus, nicht Bratwürste und Lebkuchen stehen an oberster Stelle in der Wahrnehmung der Stadt Nürnberg in einem beliebig ausgewählten lateinamerikanischen Land – zumindest wenn es sich um eine Bildungsreise handelt, die in 24 Tagen das Wichtigste aus neun europäischen Ländern zu vermitteln trachtet.

In anderen Zusammenhängen ist Dürer doch eher die bildungsbürgerliche Ausnahme. Weit bekannter ist „Nürnberg“ – sofern überhaupt – als Ort des Internationalen Militärtribunals, des „Tribunal de Nuremberg“ eben. Oft ist diese Chiffre mit abenteuerlichen Vorstellungen über die Bedeutung Nürnbergs als zentralem Ort des Nationalsozialismus überhaupt verbunden, entsprechend stark sind die Reaktionen. „Hitler“ steht noch immer in Lateinamerika – und sicher auch in anderen Teilen der Welt – für Stärke, für Selbstbehauptungswillen, für Größe. Seine Propaganda wirkt oft nahezu ungebrochen nach, die Niederlage wird in dieser Sicht dann als Fatum, nicht als notwendiges Ergebnis der nationalsozialistischen Politik interpretiert. Hitler als Vorname ist nicht selten – wenngleich nicht konkurrenzfähig mit den vielen Stalins oder Lenins[i] – und wird so wenig als ehrenrührig empfunden, dass man ihn selbst in Wahlkämpfen groß plakatieren kann, wie ich einst bei einer Bürgermeisterwahl in Ecuador beobachten konnte. Die positive Identifikation von „Hitler“ und „Deutschland“ in Lateinamerika auch heute noch, die natürlich nicht durchgängig anzutreffen ist, verrät normalerweise nicht mehr als ein wenig reflektiertes Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus.

Beim Namen Nürnberg werden die Assoziationen dann vollends unberechenbar.

Denn in dieser populären Assoziation der Stadt mit dem Nationalsozialismus kommen normalerweise keine „Nürnberger Rassegesetze“ und auch keine Nürnberger „Reichsparteitage“ vor. Die verbrecherische Seite des Nationalsozialismus bleibt in Bezug auf Nürnberg ausschließlich mit der Niederlage des Nationalsozialismus und der Sühne seiner Verbrechen verknüpft. In dieser populären Rezeption von „Nürnberg“[ii] ist also ein eine recht widersprüchliche Gemengelage festzustellen, die durchaus auch als Hintergrund für die Rezeptionsebene des Nürnberger Prozesses im Bereich der Politik und speziell der Menschenrechtspolitik relevant werden kann.

Der Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und schließlich die Niederlage Hitlers und seiner Verbündeten berührten Lateinamerika sicher weniger als andere Regionen der Welt. Gleichwohl konnten diese von Europa ausgehenden Entwicklungen Lateinamerika nicht unberührt lassen. Dazu gab es zu viele Abkömmlinge von Deutschen, Österreichern, Italienern, Kroaten und anderen, die sich aktiv für die eine oder andere politische Seite in den Ländern ihrer Vorfahren engagierten; zu viele Flüchtlinge vor dem Faschismus, die nach Lateinamerika gelangten und dort die Auseinandersetzungen weiterführten oder weiterführen mussten; zu viele politische und wirtschaftliche Verbindungen zwischen den Achsenmächten und einigen lateinamerikanischen Regierungen; zu viel Druck andererseits der USA, der schließlich die meisten Staaten zum formalen Eintritt in den Krieg auf Seiten der Alliierten brachte; und schließlich auch zu viel Entsetzen und Mitgefühl, als die Verbrechen des Nationalsozialismus in ihrem ganzen Umfang bekannt wurden.

Lateinamerika war dann nach dem Krieg ungewöhnlich aktiv an den Bemühungen um eine neue Weltordnung im Rahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Zu den 18 Staaten, die der ersten Menschenrechtskommission der UNO angehörten, die ab Januar 1947 die Ausarbeitung einer „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ unternahm, gehörten drei lateinamerikanische Länder: Panamá, Uruguay und Chile, letzteres vertreten durch den Juristen Hernán Santa Cruz, der zusammen mit dem Kanadier John Humphrey einer der wichtigsten Verfasser überhaupt dieser Erklärung wurde. In den verschiedenen Unterausschüssen und Redaktionskomitees, die im Lauf der knapp zwei Jahre an den verschiedenen Entwürfen der Erklärung arbeiteten, nahmen außerdem noch Delegierte aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kuba, der Dominikanischen Republik, Ekuador, Haiti, Mexico und Venezuela teil.

Während der Arbeit an der Allgemeinen Erklärung lag allen Delegierten die umfangreichen, von der „War Crimes Commission“ der Vereinten Nationen zusammengestellten Beweismittel vor, der sogenannte „War Crimes Report“, der auch eine Zusammenfassung der Beweiserhebungen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses enthielt. Insofern ging der Nürnberger Prozess, der ja kurz vor Beginn der Arbeit an der Allgemeinen Erklärung geendet hatte, direkt in die Erarbeitung dieser Menschenrechtserklärung ein und machte natürlich auch auf die lateinamerikanischen Delegierten großen Eindruck, wie sich aus zahlreichen damaligen Bemerkungen belegen lässt.[iii]

Dass der Nürnberger Prozess auch unter den deutschen Emigranten in Lateinamerika großes Interesse fand, erscheint selbstverständlich. Eher erstaunt die zurückhaltende Art und Weise, in der das Verfahren auch in Kreisen der antifaschistischen Opposition kommentiert wurde. Die Empfindlichkeiten bezüglich des Problems der „Siegerjustiz“ waren auch dort durchaus spürbar. Als Beispiel sei ein Abschnitt aus einem Aufsatz des heute kaum noch bekannten Udo Rukscher zitiert, den dieser Ende 1946 wenige Tage nach dem Ende des Hauptkriegsverbrecherprozesses in der Zeitschrift „Deutsche Blätter“ in Santiago veröffentlichte[iv]:

„Will man dem Grundsatz wirklich für die Zukunft Geltung verschaffen, will man Missbrauch und Willkür einschränken, dann muss man auf dem eingeschlagenen Weg entschieden fortfahren. Dann darf die Aburteilung solcher Fälle nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben und keinesfalls einem ad hoc berufenen Sondergericht, sondern dann müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, zwei Mindestgarantien für die Zukunft zu schaffen: einmal muss eine ständige und möglichst objektive Instanz von vornherein für alle künftigen Fälle geschaffen werden und zweitens muss das materielle und formelle Recht für diese Prozesse in einer internationalen Konvention niedergelegt werden. Geschieht das, dann hat man in Nürnberg neues Recht für alle geschaffen und aus dem Präjudiz wird die Regel. Unterbleibt es, dann ist jener Satz der Charter ein Ausnahmegesetz gegen überwundene Feinde und deshalb verwerflich.“

Die Herausgeberin der „Deutschen Blätter“, die 1943 bis 1947 in Santiago erschienen, die 1980 verstorbene Nürnberger Sozialarbeiterin, Gewerkschafterin und Sozialdemokratin Anna Landmann – deren Namen heute in Nürnberg nach jahrelangem Hin und Her die ehemalige Treitschkestraße trägt – sah die Bemühungen um Bestrafung der NS-Verbrecher wohl ähnlich zurückhaltend, als sie in der gleichen Zeitschrift ihre bekannte „Guttäterliste“ als Gegenstück zu den Listen deutscher NS-Verbrecher veröffentlichte.

Die Rezeption des Prozesses im besiegten und auch später im Deutschland des Wiederaufbaus war bekanntlich ebenfalls zwiespältig, ja ausgesprochen polarisiert[v]. Anhänger und Gegner des Verfahrens an sich und seiner Legitimität standen sich in entgegengesetzten Lagern anfangs oft unversöhnlich gegenüber. In der Wissenschaft, aber auch im menschenrechtlichen Diskurs ist man dem gegenüber zu differenzierten Beurteilungen gelangt, bei denen die Unzulänglichkeiten des Verfahrens anerkannt werden, in erster Linie jedoch die enorme, für ein neues Verständnis von Menschen- und Völkerrecht bahnbrechende Bedeutung des Prozesses im Blickfeld bleibt. Der Nürnberger Prozess ist heute weltweit ein Referenzpunkt für Diskussionen über Gerechtigkeit, Strafe und „impunidad“.

In der lateinamerikanischen Rezeption, so scheint es, sind die positiven wie negativen Urteile über den Prozess oft noch in ihrer ganzen Schärfe erhalten geblieben. Am Anfang der lateinamerikanischen Rezeption des Prozesses steht der Bericht der wohl einzigen Person aus Lateinamerika unter den zahlreichen internationalen Beobachtern des Nürnberger Prozesses: der argentinischen Schriftstellerin Victoria Ocampo. In dem Bericht, den sie über ihre Eindrücke vom IMT schrieb[vi], spielt das Problem der gerechten Bestrafung der Täter keine zentrale Rolle. Viel aufregender war für sie, dass sie mitten im zerstörten Nürnberg plötzlich auf den „vertrauten Tangorhythmus, … auf beim Tanzen eng aneinander geschmiegten Männer und Frauen“ stieß, oder dass weder unter den Angeklagten noch unter den Richtern Frauen waren. Und doch scheint der bekennend unpolitischen Herausgeberin der Literaturzeitschrift „Sur“ die Idee des Gerichtshofs gefallen zu haben. Wie aus dem 1999 veröffentlichten Briefwechsel mit ihrem französischen Dichterfreund Roger Caillois hervorgeht[vii], verfocht Ocampo 1945 ernsthaft die Idee, den ihr verhassten Perón vor das Nürnberger Militärtribunal zu bringen. Sie meinte, nach den Naziverbrechern müssten nun auch deren „Komplizen“ vor das Gericht, und die Amerikaner hätten dazu freie Hand. Während sich die Machtergreifung Peróns im Juni des folgenden Jahres bereits abzeichnete, hoffte Ocampo 1945 offenbar, wie andere Antiperonisten auch, darunter nicht zuletzt die Kommunisten, auf eine Intervention der USA gegen Perón als Komplizen der Nazis. Nach dem Attentat auf Perón vom April 1953 büßte die Schriftstellerin ihre oppositionelle Einstellung mit 26 Tagen Haft im Gefängnis „Buen Pastor“. Wie auch immer man Ocampos Idee von 1945 beurteilen mag, es dürfte sich um einen der ersten Ansätze für das handeln, was später zum geflügelten Wort in vielen Ländern des Kontinents wurde: „Wir brauchen unser eigenes Nürnberg.“

Neben seiner rechtspolitischen Bedeutung war das Nürnberger Militärtribunal nicht zuletzt eine ungemein wichtige historische Quelle über das ungeheure Ausmaß der NS-Verbrechen, die über den genannten „War Crimes Report“ weltweite Verbreitung fand. Wo immer seither staatliche „Makrokriminalität“ stattfand, lagen die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und der Bezug auf die Ergebnisse des Nürnberger Prozesses und die dort angewandten rechtlichen Kategorien nahe. Da auch lateinamerikanische Diktatoren, zum Teil sogar direkt über die zahlreichen dorthin geflüchteten NS-Verbrecher[viii], sozusagen in die Schule der Nazis gingen, konnte auch für die Opfer und diejenigen, die sich für die Menschenrechte in Lateinamerika einsetzen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen nie abreißen.

Großen Raum im Nürnberger Prozess nahm der sogenannte „Nacht- und Nebelerlass“ Hitlers vom 7. Dezember 1941 ein, dessen gehorsame Durchführung dem Angeklagten Keitel nachgewiesen wurde. Der „Nacht- und Nebelerlass“ beauftragte die Wehrmacht mit „Maßnahmen, die die Angehörigen und die Bevölkerung über das Schicksal des Täters im Ungewissen lassen.“ Hitler verstand diesen Befehl bewusst als Kampfmaßnahme gegen möglichen Widerstand. „Wie man Revolutionen und Aufstände unterdrückt, …davon verstehe ich mehr als Generäle und Juristen,“ erklärte Hitler laut einer Aussage des mit der Durchführung des Erlasses beauftragten Robert Lehmann im Kriegsverbrecherprozess der USA gegen das OKW. Anders als später meist in Lateinamerika wurde im Nationalsozialismus aber auch das „Vernebeln“ – dies war tatsächlich der gebrauchte Ausdruck – mit deutscher Behördengründlichkeit dokumentiert: „Wie gewöhnlich wickelte die deutsche Behörde die Rechtlosigkeit auf dem Rechtsweg ab.“[ix]

Das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen wurde in Lateinamerika erstmals in massiver Weise in den sechziger Jahren in Guatemala praktiziert[x]. In den siebziger Jahren wurde es dann zum schrecklichen Markenzeichen der Diktaturen vor allem in Chile und Argentinien, wo gerade diese Praxis des Verschwindenlassens bis heute auch die größten Nachwirkungen zeitigt. FEDEFAM, der lateinamerikaweite Dachverband der Familienangehörigen von Verhaftet-Verschwundenen, gibt als Gesamtzahl der Opfer dieser terroristischen Praxis 90.000 bis 100.000 an. Auf den Vorläufer des „Verschwindenlassens“, eben das „Vernebeln“ durch die Nazis, haben Täter wie Opfer immer wieder Bezug genommen. So lautet etwa der Titel der kolumbianischen Vierteljahreszeitschrift, die im Land als zuverlässigste Quelle für die Registrierung von Menschenrechtsverletzungen gilt, „Noche y Niebla“ (Nacht und Nebel).

Dass prominente Nazis, derer man nach dem Krieg nicht habhaft wurde, immer wieder, und oft genug zu Recht, in Lateinamerika vermutet und gesucht wurden, hielt ebenfalls die Erinnerung an die NS-Verbrechen und die Gefahren wach, die mit dem straflosen Agieren dieser Täter in Lateinamerika verbunden waren. Der Name des schließlich 1979 während eines Badeurlaubs in Brasilien ertrunkenen Josef Mengele, der Jahrzehnte unbehelligt in Paraguay gelebt hatte, ist auch in Lateinamerika zur Symbolfigur einer entmenschten Medizin geworden. Der Fall des 1960 aus Argentinien nach Israel verbrachten Adolf Eichmann rollte nicht nur weltweit erneut alle ethischen, politischen und juristischen Fragen wieder auf, die in Nürnberg zur Debatte gestanden hatten, sondern brachte, ebenso wie später der französische Barbie-Prozess, auch die Verbindungen lateinamerikanischer Regierungen mit diesen Tätern ins Bewusstsein.

Dass Argentinien nach dem Krieg zu einem bevorzugten Ziel der „Flucht vor Nürnberg“ wurde, wie der Historiker Holger Meding die massenhafte Absetzbewegung von NS-Tätern an den Rí­o de La Plata nannte[xi], ist heute ausgiebig dokumentiert. Es gab in Argentinien nach dem Krieg keine politische Öffentlichkeit, die den Nürnberger Prozess in seiner welthistorischen Bedeutung wahrnahm. Für die meisten Menschen war die Angelegenheit einfach zu weit entfernt von ihren Problemen, wie das Sprachrohr der deutsch-jüdischen Emigranten in Argentinien, die “Jüdische Wochenschau“ beklagte:

„Sehr schnell sollte es sich jedoch zeigen, dass der unbeteiligte Südamerikaner vielleicht ein- oder zweimal diese Meldungen studiert, dann aber das Interesse dafür verliert, was sich in Nürnberg abspielt. Sehr schnell sollte sich zeigen, dass lokale Ereignisse, politische Entwicklungen im eigenen oder im benachbarten Land das Interesse viel stärker in Anspruch nehmen, sodass die einem durchschnittlichen Zeitungsleser zur Verfügung stehende Zeit gar nicht mehr ausreicht, das zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, was wir selbst als wesentlich, und nicht allein für uns wesentlich ansehen.“[xii]

Die herrschende politische Klasse, die zumindest ahnte, welche potentiellen Folgen für Unrechtsregime in den Prinzipien des Nürnberger Prozesses verborgen war, reagierte mit geradezu hysterischer Ablehnung des Verfahrens. Perón etwa beschrieb später vom Madrider Exil aus seine Haltung so: „In Nürnberg fand damals etwas statt, was ich persönlich als Infamie betrachtete und als eine verhängnisvolle Lehre für die Zukunft der Menschheit. Und nicht nur ich, sondern das ganze argentinische Volk. Ich erwarb die Gewissheit, dass die Argentinier den Nürnberger Prozess ebenfalls als eine unwürdige Infamie der Sieger betrachteten, die sich aufführten, als wären sie keine Sieger. Jetzt verstanden wir, dass sie es verdient hätten, den Krieg zu verlieren. Wie viele Reden habe ich während meiner Regierungszeit über Nürnberg gehalten, welches die größte Monstrosität ist, die von der Geschichte nicht vergeben werden wird!“[xiii]

So selbstherrlich die Geste des Generalspräsidenten ist, mit der er gleich sein ganzes Volk für seine Ansichten vereinnahmt – dass es Ausnahmen gab, zeigt die erwähnte Haltung von Victoria Ocampo -, so sicher ist andererseits, dass seine Ansichten von vielen geteilt wurden. Peróns einstiger Industrieminister Antonio Cafiero gab in seinen 1983 von Hugo Gambini aufgezeichneten Erinnerungen preis, dass er zwar nach Peróns Sturz dem Gefängnis entgangen sei, dass er aber von einer Reihe von „kleinen Nürnberger Tribunalen“ belästigt worden sei, bestehend aus 8 bis 10 Angehörigen der neuen Militärregierung, die ihm alle möglichen Untaten der Perónzeit vorgeworfen hätten.[xiv]

Reduziert sich in des Ex-Ministers Erinnerung der Begriff „Nürnberger Tribunal“ auf ein banales Symbol für lästige, unsinnige und ungerechte Verfahren, so fahren andere bald wieder schwerere Geschütze auf. Im August 2000 erschien in Chile eine Kolumne eines gewissen Jorge Rodrí­guez, die in folgenden, mit zahlreichen Ausrufungszeichen versehenen Sätzen gipfelte: „Jemand muss einmal die Wahrheit sagen! Jemand muss seine Stimme erheben! Schluss mit den ewigen Lügen und Heucheleien! Es gibt keine Versöhnung ohne vollständige Wahrheit. Es gibt keinen Übergang zur Demokratie ohne vollständige Gerechtigkeit.“[xv]

Wer wollte dem nicht zustimmen. Seltsam war nur die Überschrift der Kolumne: “Pinochet es un héroe de la talla de O’Higgins” (Pinochet ist ein Held von der Größe [des Gründervaters von Chile, General] O’Higgins). Im wesentlichen ging es in dem Artikel darum, die Diktatur Pinochets nicht nur zu rechtfertigen, sondern als große patriotische Tat zur Rettung des Vaterlands darzustellen, eine Sicht, die ja noch immer ein nicht geringer Teil der Chilenen teilt. Diese Rechtfertigung hatte sich damals allerdings bereits auf dem Hintergrund der internationalen gerichtlichen Verfolgung des Helden des Vaterlands zu bewähren. Und das erste, was dem Autor dazu einfiel, war einer der meistgebrauchten Einwände gegen den Nürnberger Prozess: „In Nürnberg wurden die Nazis angeklagt, aber kein Land und kein Gericht hat je die Kommunisten abgeurteilt.“

Interessant an dem Satz ist weniger seine fulminante historische Ignoranz als die bruchlose Kontinuität des Arguments der Einseitigkeit des Nürnberger Prozesses, die sich seit 1945 durch die Geschichte als einer seiner Interpretationsstränge zieht, in Lateinamerika wie im Rest der Welt. Weil nicht alle Missetäter verurteilt wurden, ist der Prozess ungerecht. Der Einwand darf als Kritik des historischen Prozesses natürlich durchaus ernst genommen werden, doch als solche ist er weder hier noch sonst gewöhnlich gemeint. Intendiert ist vielmehr ein prinzipieller – und als solcher unzulässiger – Einwand gegen das Verfahren von Nürnberg als Strafverfahren, das sich wie jeder Strafprozess an der konkreten Straftat orientiert und nicht einen historischen Prozess umfassender Ursachenforschung betreibt, bei dem es schließlich, und das ist die unausgesprochene Absicht, keine Schuldigen mehr gäbe. Aufrechnung soll in dieser Polemik gegen den Nürnberger Prozess an die Stelle der Justiz treten.

Unter den gängigsten Einwänden gegen den Nürnberger Prozess darf das Argument der „Siegerjustiz“ nicht fehlen. Wie weit es unter den besiegten Deutschen verbreitet war, wurde bereits am Beispiel der „Deutschen Blätter“ gezeigt. Auch dieses Argument hat, nüchtern betrachtet, selbstverständlich seine Berechtigung. Die Nürnberger Prozesse wurden von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs organisiert und durchgeführt, während Vertreter des besiegten NS-Regimes auf der Anklagebank saßen. Das Ressentiment derer, die sich mit dem besiegten Regime identifizieren, ist zumindest verständlich, wenn es auch am Kern der Sache vorbeigeht, dass eben von den Siegern gerade ein im wesentlichen faires Verfahren über die Besiegten durchgeführt wurde.

Komplizierter wird das Argument, wenn, wie häufig nach den Diktaturen Lateinamerikas, die Frage gar nicht so klar ist, wer Sieger und Besiegte sind. Das Mitglieder der argentinischen Junta, General Roberto Viola, erklärte 1981, als er noch de facto Präsident Argentiniens war, einem Journalisten der Tageszeitung Clarí­n: „Wenn ich recht verstehe, schlagen Sie ein Untersuchung gegen die Sicherheitskräfte vor. Das kommt nicht in Frage. In diesem Krieg gibt es Sieger, und die Sieger sind wir. Sie können sicher sein, wenn im letzten Weltkrieg die Truppen des Reichs [im Original deutsch] gewonnen hätten, dann hätte der Prozess nicht in Nürnberg, sondern in Virginia stattgefunden.“[xvi]

Drei Jahre später stand Viola mit den anderen Generälen der Junta vor dem Bundesgericht in Buenos Aires und wurde zu 17 Jahren Gefängnis wegen Freiheitsberaubung, Folter und Diebstahls verurteilt. Sein Mitangeklagter, Admiral Emilio Massera, gab dem Gericht eine überraschende neue Variante des Topos von der Siegerjustiz, nämlich die einer Justiz gegen besiegte Sieger: „Ich bin nicht hier, um mich zu verteidigen. Niemand – erklärte Massera – muss sich verteidigen, weil er einen gerechten Krieg gewonnen hat. Und der Krieg gegen den Terrorismus war ein gerechter Krieg. Ich stehe hier vor Gericht, weil wir diesen gerechten Krieg gewonnen haben.“[xvii] Siegerjustiz also einmal anders herum: die Verlierer – Massera machte im weiteren Verlauf des Prozesses deutlich, dass er auch die Richter und Staatsanwälte dazu zählte – sitzen über die Sieger zu Gericht. Wie aber konnten die Sieger auf die Anklagebank kommen? Um das zu erklärten schlug das eloquenteste der Juntamitglieder einen großen rhetorischen Bogen, der die Umwertung aller Werte durch ein „äußerst effizientes“ und weitverzweigtes System psychologischer Kriegsführung mit den Menschenrechtsverteidigern an der Spitze beschrieb, die schließlich in einem Akt „satanischer Diskriminierung“ die Sieger auf dem Feld der Waffen der Früchte des Siegs beraubten. Anders als bei Hitler, der bei Massera des öfteren als Held im Hintergrund auftaucht, steht diese Dolchstoßlegende allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende der Bewegung.

Auch der Ankläger im Prozess gegen die Juntas, Staatsanwalt Julio César Strassera, fragte sich, ob das Verfahren dem Nürnberger Prozess gleiche[xviii]. Die Argumente für seine Ansicht, dass der Prozess kein „neues Nürnberg“ sei, sind ebenfalls aufschlussreich. Anders als in Nürnberg, wo ja auch u.a. die SS und die Gestapo verurteilt wurden, stünden keine Institutionen, sondern nur Personen vor Gericht. Im übrigen sei der Prozess nicht politisch motiviert, ein Argument, das ungewollt den Kritikern des Nürnberger Prozesses, die in ihm ein Paradigma politischer Justiz gegen Regierende sehen, Vorschub leistet.

Wieder vom Kopf auf die Füße gestellt, taucht das Motiv der Siegerjustiz auch in Zentralamerika auf. In der Zeitschrift der Universidad Autónoma de Centro América von Costa Rica beschrieb ein Autor „drei Methoden“ der Vergangenheitsbewältigung: Rache, Vergessen, und „die Methode Nürnberg“, nämlich „Die Sieger verurteilen die Verlierer“. Obwohl, setzt der Autor ebenso bitter wie aufschlussreich, und dann doch wieder im Sinne Masseras hinzu, manchmal auch die Verlierer über die Sieger richten können, dann nämlich, wenn letztere sich in London befinden.[xix]

Schon fünf Jahre früher hatte sich der später in London Befindliche selbst in einem langen Interview mit der chilenischen Tageszeitung „La Tercera“ ähnlich geäußert[xx]. Damals waren gerade Pinochets langjähriger Geheimdienstchef Manuel Contreras und dessen Stellvertreter Pedro Espinoza wegen der Ermordung des ehemaligen Verteidigungsminister Orlando Letelier in Washington zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Das Urteil war unangemessen milde, doch es war das erste mal, dass ein chilenisches Gericht die Mauer der Straflosigkeit durchbrach. Für Pinochet war das Urteil, immerhin handelte es sich um zwei erwiesene Morde, schlicht „ungerecht“. Mehr noch, es sei ein politisch motiviertes „fabriziertes Urteil“, ausgesprochen von einem „ad-hoc-Gerichtshof vergleichbar dem Nürnberger Tribunal“. Tatsächlich handelte es sich um ein ganz normales[xxi] Verfahren vor einem ordentlichen Gericht nach der chilenischen Strafprozessordnung.

Auch an Pinochets Ausbruch ist weniger der sachliche Bezug von Interesse – der hier im Grunde nicht vorhanden ist – sondern die ungefilterte Kontinuität eines weiteren tradierten Arguments gegen die Nürnberger Prozesse: sie seien nicht von ordentlichen Gerichten, sondern von Sondergerichten durchgeführt worden, wobei weder die historischen Umstände, die dies rechtfertigten, in Betracht gezogen werden, noch die Tatsache, dass auch ein Sondergericht in der Sache gerechte Urteile fällen kann.

Da wundert es nicht, dass der Nürnberger Prozess dann auch den Gegnern Pinochets gelegentlich für fragwürdige Analogien herhalten muss. So erinnerte die chilenische Wochenzeitung Punto Final anlässlich des Tauziehens um den Gesundheitszustand von Augusto Pinochet und der damit verbundenen Frage seiner Verhandlungsfähigkeit daran, dass die Richter im Nürnberger Prozess ja auch den Angeklagten Rudolf Heß aufgrund mehrerer psychiatrischer Gutachten für verhandlungsfähig erklärt und schließlich verurteilt hätten.

Mehr historisches Verständnis bewiesen da die Mitglieder des kolumbianischen Parlaments, die im April 2001 einen Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Statuts des kommenden Internationalen Strafgerichtshofs einbrachten[xxii]. In ihrer Begründung bezeichnen zwar auch sie den Nürnberger Prozess als „Siegerjustiz“. Doch zugleich erinnern sie daran, dass damals die ganze Welt „einen Schrei des Nunca Más“ ausgestoßen habe, und dass eine internationale Instanz zur Verurteilung solcher Verbrecher wie der Täter des Holocaust allgemein gefordert worden sei. Lange habe es gedauert, aber nun erlaube die Entwicklung der Rechtsprechung endlich die Errichtung eines allgemeinen und unabhängigen ständigen Gerichtshofes für solche Verbrechen, die keinen machtpolitischen Interessen unterworfen sei.

Für aufgeklärte lateinamerikanische Politiker ist diese Haltung inzwischen unproblematisch. Bis auf Surinam haben alle Staaten Südamerikas das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) unterzeichnet und zum größten Teil auch bereits ratifiziert. Anlässlich einer diesbezüglichen Debatte im chilenischen Parlament nahm auch Justizministerin Soledad Alvear auf den Nürnberger Prozess als Vorläufer des IStGh Bezug und sah den historischen Fortschritt des letzteren gegenüber Nürnberg darin, dass das Nürnberger Gericht erst im Nachhinein konstituiert werden konnte, während der Vorzug des künftigen internationalen Gerichts in seinen klaren und transparenten Regeln beruhe, die eben bereits vor den abzuurteilenden Taten bestehen.

Solchen Einsichten schließen sich die meisten unabhängigen Menschenrechtsverteidiger in Lateinamerika an. Allerdings haben sie das Internationale Militärtribunal von Nürnberg von Anfang an als ungemein positiven Bezugspunkt für ihren Kampf gegen die Straflosigkeit betrachtet. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die „Nürnberger Prinzipien“ ein, die von der Völkerrechtskommission der UNO 1950 in Anlehnung an das Statut des Internationalen Militärtribunals als verbindliche völkerrechtliche Richtlinien formuliert wurden. Über sie erlangte der Nürnberger Prozess im Nachhinein seine völkerrechtliche Legitimierung, die während des Verfahrens selbst vom amerikanischen Ankläger Robert Jackson noch in eindrucksvollen Passagen seiner Eröffnungsrede vor allem aus dem Völkergewohnheitsrecht und den unabdingbaren Grundsätzen der Zivilisation hergeleitet werden musste.

Auch die lateinamerikanischen Staaten nahmen diesen Impuls des Nürnberger Militärtribunals ausdrücklich auf. Im Frühjahr 1945, also noch ehe der Prozess selbst begann, fand im mexikanischen Chapultepec eine „amerikanische Konferenz über Probleme des Krieges und des Friedens“ statt, in deren Schlussdokument die damals bereits im Umlauf befindlichen Formulierungen aufleuchten, die dann in das Statut des Nürnberger Prozesses und die späteren Nürnberger Prinzipien einflossen: Im zweiten Weltkrieg seien Verbrechen begangen worden, die „Verstöße gegen das Kriegsrecht, gegen bestehende Verträge und die Vorschriften des Völkerrechts, gegen das Strafrecht der zivilisierten Nationen und gegen die Vorstellungen von Zivilisation“ überhaupt darstellten. Außerdem stellten sich die amerikanischen Staaten ausdrücklich hinter die Absicht der alliierten Regierungen, „in dem Sinn, dass die Schuldigen, Verantwortlichen und Komplizen derartiger Verbrechen vor Gericht gestellt und verurteilt“ werden müssten[xxiii].

In unzähligen Schriftsätzen lateinamerikanischer Anwälte und Autoren findet sich seither der Bezug auf die Prinzipien von Nürnberg wieder, als Kern einer Argumentation, die in der Durchsetzung von Rechtsnormen auch gegenüber den individuellen Tätern die Grundlage nicht nur einer rechtsstaatlichen Zivilisation, sondern auch für erfolgreiche Demokratisierung und schließlich gesellschaftliche Versöhnungsprozesse sieht.

So nimmt einer der großen „Nunca Más“-Berichte aus Lateinamerika, der 1989 vom Servicio Paz y Justicia in Uruguay herausgegebene Bericht über die Verbrechen der Diktatur in Uruguay, im Vorwort ausgiebig auf „Nürnberg“ Bezug:

„Nürnberg ging in die Annalen der Geschichte als die Instanz ein, in der die internationalen Gemeinschaft und das kollektive Gewissen der Völker sich zusammenfanden, um schwerste Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen und die rechtlichen, politischen und ethischen Grundlagen zu schaffen, damit sich der Nazi-Wahnsinn niemals wiederhole und die Straflosigkeit der Verantwortlichen ein Ende finde. Uns ist bewusst, dass in Nürnberg nur einige wenige vor Gericht standen. Aber die Wirkung dieses Prozesses für das Gewissen und das Gedächtnis der Völker war beispielhaft.“[xxiv]

Fabiola Letelier, die chilenische Rechtsanwältin und Schwester des 1976 in Washington auf Befehl von Pinochet und seinen Geheimdienstchefs ermordeten ehemaligen Ministers Orlando Letelier, wurde in ihrem Einsatz für die Bestrafung der Mörder ihres Bruders nicht müde, auf „Nürnberg“ zu verweisen. „Lateinamerika hat sein Nürnberg noch nicht erlebt,“ sagt sie und meint damit die andauernde Straflosigkeit von staatlich gedeckten Tätern, die zeige, dass „die auf Nürnberg zurückgehenden Systeme zum Schutz der Menschenrechte in Lateinamerika versagt haben.“ Für Fabiola Letelier und die vielen anderen, die ähnlich denken und reden, geht es dabei nicht um die einfache Anwendung eines einmal gefundenen Verfahrens: „Der Geist, der das Tribunal von Nürnberg beherrschte, muss lebendig und erneuerungsfähig bleiben, wenn wir in Lateinamerika die Ketten der Straflosigkeit zerreißen wollen, die das Erblühen einer wahrhaften Demokratie in unserm Kontinent verhindern.“[xxv]

Kurz vor dem Sturz des Fujimori-Regimes in Peru erinnerte der langjährige Direktor der Andinen Juristenkommission, Diego Garcí­a Sayán, an Nürnberg als Präzedenzfall für die Durchsetzung von Gerechtigkeit, der es erlaubt habe, eine neue Seite in der Geschichte Deutschlands aufzuschlagen, während in Peru das wasserdichteste Amnestiegesetz ganz Lateinamerikas jede Aufarbeitung der Vergangenheit unterbinde.[xxvi] Wenig später fand sich Garcí­a Sayán als Justizminister im Kabinett der neuen Regierung von Valentí­n Paniagua wieder und konnte unter Berufung auf entsprechende Urteile auch des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Aufhebung der Amnestie betreiben und zahlreiche Prozesse wieder in Gang bringen.

In Argentinien urteilte, aus den gleichen Gründen und ebenfalls in Anlehnung an Entscheidungen des interamerikanischen Gerichtshofs, der Richter Gabriel Cavallo, dass die unter der Regierung von Präsident Alfonsí­n in den achtziger Jahren verabschiedeten Amnestiegesetze verfassungswidrig seien. Einer spanischen Zeitschrift gegenüber erklärte er dazu: „Während der letzten zwanzig Jahre versuchte man in Lateinamerika ständig, die barbarischen Taten, die unter den Diktaturen begangen wurden, unter den Teppich zu kehren. Jetzt geht es darum, sie ans Licht zu holen. Wir brauchen in Lateinamerika unser eigenes Nürnberg, wir müssen die Verantwortlichkeiten annehmen, die uns zukommen.“[xxvii]

„Wir brauchen in Lateinamerika unser eigenes Nürnberg.“ – „Nürnberg“ steht in einer solchen Sicht nicht nur für einen ersten ernsthaften Ansatz von internationaler Rechtsprechung, sondern für allgemeine Prinzipien des Rechts, die damals angelegt wurden und seither, weil unerfüllt geblieben, als permanente Herausforderung für eine menschenrechtliche Ordnung bestehen:

  • das Prinzip individueller Verantwortlichkeit, auch für staatliche Funktionsträger;
  • kein Ausschluss von Verantwortung unter Berufung auf die Gehorsamspflicht für unrechtmäßige Befehle;
  • Primat des Völkergewohnheitsrechts über geschriebenes nationales Recht;
  • die Idee eines internationalen Strafrechts und Gerichtshofs schlechthin;

Es liegt auf der Hand, dass diese in Nürnberg angelegten Prinzipien mit einer Reihe charakteristischer Verfahrensweisen gerade auch in den Perioden nach Militärdiktaturen, die gern und allzu pauschal als „Transitionsperioden“ bezeichnet werden, in Konflikt geraten. Insbesondere sind sie unvereinbar mit der verbreiteten Tendenz zur Straflosigkeit auch größter Verbrechen, für die mit bemerkenswerter Kreativität im Lauf der Jahre die unterschiedlichsten Formen und Namen gefunden wurden. In Uruguay etwa verstieg man sich, um den Begriff „Amnestie“ zu vermeiden, zu der absurden Bezeichnung „Gesetz über die Hinfälligkeit des staatlichen Strafanspruchs“. In Argentinien erfand man, um den nach dem Ende der Diktatur zunächst erfolgreichen Bemühungen der argentinischen Justiz einen Riegel vorzuschieben, ein „Schlusspunktgesetz“, das die Absicht gewissermaßen in einen auch hierzulande populären Slogan goss, und ein „Gesetz über den schuldigen Gehorsam“, das schon im Titel diametral einem der Nürnberger Prinzipien widerspricht.

Für den argentinischen Schriftsteller Osvaldo Bayer sind beide Gesetze „verderbenbringende, feige und knechtische Gesetze“, die seinem Land zur Schande gereichen. In einem Anfang 2001 in Argentinien veröffentlichten Artikel[xxviii] hält auch er den Betreibern der Straflosigkeit den Nürnberger Spiegel vor: „Nürnberg, – schreibt er – welch ein Symbol! Wo die Statthalter Hitlers verurteilt wurden. [..] Nürnberg, das Tribunal über die rassistischen Mörder und die Mörder der Gaskammern.“

Doch Nürnberg als Symbol gegen die Straflosigkeit hat für Bayer und viele Argentinier, insbesondere für die Opfer der Militärdiktatur, eine weitere, eine neue Farbe in seinem Bedeutungsspektrum bekommen. Seit die zähen Bemühungen der in der „Koalition gegen die Straflosigkeit“ zusammengeschlossenen deutschen und argentinischen Menschenrechtsorganisationen zur Eröffnung einer Reihe von Strafverfahren in Nürnberg gegen Angehörige der argentinischen Diktatur geführt haben, und vor allem seit mittlerweile bereits mehrere internationale Haftbefehle durch die Nürnberger Staatsanwaltschaft ergingen, schließt sich für Osvaldo Bayer ein Kreis: „Die Geschichte fügt die Teile des Ungedachten zusammen, um Gerechtigkeit zu schaffen“, schreibt er im gleichen Artikel. „Nürnberg, das Tribunal über die uniformierten argentinischen “šVerschwindenlasser‘. Die Geschichte hat eine unerbittliche Logik, eine Hand, die kein Verbrechen über die Zeit hinweg straflos lässt. Nürnberg, ein Symbol, wie es unsere Militärs der Diktatur verdienen. […] Jetzt wird Gericht über sie in Nürnberg gehalten, dem greifbarsten Symbol der Gerechtigkeit für die Menschenrechte.“

Symbol der Gerechtigkeit und der Strafe für die Großen, die normalerweise unberührbar bleiben: Das ist der Kern, auf den sich im populären Gedächtnis Lateinamerikas das komplexe welthistorische Ereignis des Nürnberger Prozesses kondensiert hat. Der folgende Brief einer Mapuche-Bäuerin drückt die darin enthaltene Hoffnung ebenso plastisch aus wie die seither erfahrenen Enttäuschungen. Er sei hier abschließend im Original zitiert, da keine Übersetzung den aufschlussreichen Zwischentönen dieses Zeugnisses gerecht werden kann.

Lautaro, 21 de diciembre 1998

Querida amiga:

Espero que al recibo de esta presente se encuentre bien junto a su

trabajo y sus gentes queridas. Paso a contarle que estoy lo mas bien, la

cosecha parece que Dios permita sea buena, los chicos terminaron la escuela y los grandes vendran a pasar al ano nuevo con nosotros.

Bueno, vemos en la tele que es Pinocho de siempre esta por esos lados.

Ojala no le hagan mucho caso, porque Ud. sabe que justicia no va a haber y

el estara popular otra vez. Naiden nos va a escuchar a nosotras, pero si a

este criminal. Yo le rezo a mi Diocito para que ocurra un milagro y tambien

para que no le pase nada a Ud. El viejo esta cuidao, y no se lo van a

sentar como hicieron a los malos en el juicio de Numbeg que fue por esos lados.

Lorenza C., mapuche de Lautaro[xxix]

Hoffen wir, dass die Nürnberger Justiz den hohen Erwartungen Osvaldo Bayers und Lorenza C.s gerecht werden wird.

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* Vortrag auf der Konferenz “Konfliktive Geschichte. Die Erinnerung an Diktaturen und Bürgerkriege in Lateinamerika”, die vom 7. – 9. Februar 2002 in Nürnberg stattfand.

[i] „Vladimiro Lenin Montesinos“ ist z.B. der volle Name des jetzt einsitzenden ehemaligen peruanischen Geheimdienstchefs

[ii] es gibt m. W. keine empirische Untersuchung dazu, ich stütze mich aber auf einige Jahrzehnte eigener Erfahrung.

[iii] Johannes Morsink: The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting and Intent, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1999 (zum War Crimes Report, s. S. 345 Fußnote 9)

[iv] Rukser, Udo: „Zum Nürnberger Prozess“, in: Deutsche Blätter 34, 1946, S. 20-23 (hier S.23)

[v] ausführlich dazu: Anneke de Rudder: Öffentliche Reaktionen auf den Nürnberger Prozess in Deutschland undden Vereinigten Staaten von Amerika, Magisterarbeit an der FU Berlin, 1995

[vi] Steffen Radlmaier (Hg.): Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Frankfurt/M 2001, S. 241-250

[vii] Correspondencia Victoria Ocampo-Roger Caillois (1939-1978). Prólogo, selección y notas de Odile Felgine, Editorial Sudamericana. 1999

[viii] ein bekanntes Beispiel ist der ehemalige Gestapokommandant von Lyon, Klaus Barbie, der in Bolivien als „Klaus Altmann“ unter den Diktaturen von Barrientos, Banzer, und vor allem als rechte Hand des Innenministers Luis Arce Gómez während des blutigen Regimes von Garcí­a Meza seine vielfältigen Kenntnisse schmutziger Repressionstechniken in den Dienst seiner neuen Herren stellte.

[ix] Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges, München 1993, S. 338-342

[x] Ana Lucrecia Molina Theissen, „La desaparición forzada de personas en América Latina“, in: Instituto Interamericano de Derechos Humanos (ed.): Estudios Básicos de Derechos Humanos, tomo VII, San José de Costa Rica 1996, S. 63-129 (65)

[xi] Holger M. Meding, Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien, 1945–1955, Köln, Weimar, Wien 1992.

[xii] Jüdische Wochenschau, 18.1.46, zit. in Kerstin Schirp: Die Wochenzeitung „Semanario Israelita“, Münster etc. 2002, S. 93f

[xiii] „En Nuremberg se estaba realizando entonces algo que yo, a tí­tulo personal, juzgaba como una infamia y como una funesta lección para el futuro de la humanidad. Y no sólo yo, sino todo el pueblo argentino. Adquirí­ la certeza de que los argentinos también consideraban el proceso de Nuremberg como una infamia indigna de los vencedores, que se comportaban como si no lo fueran. Ahora estamos dándonos cuenta de que merecí­an haber perdido la guerra. ¡Cuántas veces durante mi gobierno pronuncié discursos a cargo de Nuremberg, que es la enormidad más grande que no perdonará la historia.!“ Zit. in Goñi, Uki: Perón y los alemanes, Buenos Aires 1998, S. 268f nach Tomás Eloy Martí­nez: Las Memorias del General, Buenos Aires 1996

[xiv] Das Buch steht im Internet unter www.antoniocafiero.com.ar/librocafiero.doc

[xv] ¡Alguien tiene que decir la verdad en este paí­s!. ¡Alguien tiene que dar la cara! ¡Basta de tanta hipocresí­a y mentiras! Ninguna reconciliación es posible si no hay VERDAD TOTAL. Ninguna transición es posible si no se hace JUSTICIA TOTAL

http://www.granvalparaiso.cl/politicos/63ta.htm

[xvi] Clarí­n, 18 de marzo de 1981: “Me parece que lo que Ud. quiere decir es que investiguemos a las Fuerzas de Seguridad, y eso si que no. En esta guerra hay vencedores, y nosotros fuimos vencedores y tenga la plena seguridad que si en la última guerra mundial hubieran ganado las tropas del Reich, el juicio no se hubiera hecho en Nuremberg sino en Virginia.“

(zitiert in: Nunca Más. Informe de la Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas, Buenos Aires 1984, S. 476)

[xvii] Sergio Ciancaglini/Martin Granovsky: Nada más que la verdad. El juicio a las Juntas, Buenos Aires 1995, S. 203

[xviii] Luis Roniger / Mario Sznajder: The Legacy of Human Rights Violations in the Southern Cone: Argentina, Chile, and Uruguay, Oxford 1999, S. 65

[xix] José Calvo: PinoChile, in: Revista Acta Académica (Universidad Autónoma de Centro América), Número 24, Mayo 1999

[xx] La Tercera, 15. Juni 1995; s.a. Mark Ensalaco: Chile under Pinochet. Recovering the Truth, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2000, S.235; Ensalaco zieht eine Parallele von der Verurteilung Keitels wegen der „Nacht- und Nebel-Aktionen“ zum Verschwindenlassen unter Contreras und Pinochet. Doch Contreras wurde nicht wegen seiner systematischen Anwendung des „Verschwindenlassens“ belangt.

[xxi] „Normal“ ist hier im wörtlichen Sinn, also abgeleitet vom Substantiv „Norm“ gemeint. Normal im Sinn von üblich war das Verfahren keineswegs, im Gegenteil, lange Jahre blieb es das einzige in Chile, in dem Verbrecher der Pinochetdiktatur nach rechtsstaatlichen Normen vor Gericht standen – s. Rainer Huhle: „‘Von Nürnberg nach Santiago‘. Anmerkungen zum Prozeß in Chile gegen die Mörder Orlando Leteliers“, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hg.): Von Nürnberg nach Den Haag, Hamburg 1996, S. 198-206

[xxii] INFORME DE PONENCIA PARA PRIMER DEBATE EN DEL PROYECTO DE ACTO LEGISLATIVO NUMERO 014 DE 2001, SENADO

Por medio del cual se incorpora a la Constitución Colombiana el Estatuto de Roma de la Corte Penal Internacional

Bogotá D.C. Abril 2 de 2001-04-01

[xxiii] Marcelo Sancinetti / Marcelo Ferrante, “El derecho penal en la protección de los derechos humanos“, Hammurabi, Buenos Aires, 1999, S. 438

[xxiv] Servicio Paz y Justicia Uruguay: Uruguay Nunca Más. Informe sobre la Violencia a los Derechos Humanos (1972-1985), Montevideo 1989, S. 6

[xxv] Fabiola Letelier: „Ein einsames Urteil. Der “šFall Letelier‘ und der Kampf für die Menschenrechte in Lateinamerika“, in: Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hg.): Von Nürnberg nach Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht – Zur Aktualität des Nürnberger Prozesses, S. 190-197

[xxvi] s. Revista Caretas, Lima, 19. Oktober 2000

[xxvii] EresMas 31.8.01; das Urteil selbst (causa Nro. 8686/2000 – “Simon, Julio, Del Cerro, Juan Antonio s/sustracción de menores de 10 años“ vom 6. März 2001) geht über mehrere Seiten ausführlich auf Geschichte und juristische Relevanz der Nürnberger Prozesse ein.

[xxviii] Osvaldo Bayer: „La Argentina en Nuremberg“, in: Página 12, 20.1.2001

[xxix] Lorenza C. schrieb den Brief nach London an die chilenische Forscherin Roberta Bacic während der dortigen Demonstrationen gegen Pinochet („Pinocho“). Roberta Bacic hatte mehrere Jahre mit den Mapuche im Süden Chiles über die spezifischen Folgen der Diktatur für die indigene Bevölkerung gearbeitet. (pers. Mitteilung)

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