von Hermann Glaser
Warum war ich nicht derjenige den das Maschinengewehr niedermähte warum nicht diejenige die in dunkler Straße vergewaltigt wurde warum nicht der Hungernde der scheu hinter dem Hotel in einer Abfalltonne nach Essbarem sucht warum nicht das Kind auf einer Wiese spielend morgen schon deportiert umgebracht warum bin ich derjenige der nun beruhigt in Alpträumen versinkt?
Wen das Schicksal begünstigt hat, wer dem Moloch “Geschichte” auf längere Zeit entronnen ist – wie wir glücklich Überlebenden eines furchtbaren 20. Jahrhunderts -, wer Geschichte mit dem Anschein des Sinnlosen einen Sinn zu geben trachtet, wer also Da-sein trotz allem als Möglichkeit für Hoffnungen begreift, der soll und muss Trauer- wie Erinnerungsarbeit leisten – für diejenigen, denen das Lebensglück, das Glück, leben zu dürfen, zerstört wurde. Nicht durch ein unbestimmbares Schicksal, sondern als Folge der unfassbaren Bosheit von Menschen, hier von deutschen Menschen und ihrer wahnhaften Verblendung.
Die von den amerikanischen Autoren Frances Goodrich und Albert Hackett eingerichtete Bühnenfassung des “Tagebuchs der Anne Frank” – weltweit aufgeführt und allein 1957 mit 1420 Vorstellungen in 44 verschiedenen Inszenierungen das meistgespielte Theaterstück der Bundesrepublik – endet mit der Schlusszeile: “Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen.” Die Figur des einzig Überlebenden der Familie, des Vaters Otto Frank, dem bei seiner Rückkehr von Auschwitz nach Amsterdam das gerettete Tagebuch übergeben wurde, spricht über seine Tochter den Nachsatz: “Wie sie mich beschämt.” Von dem “Tagebuch” sollte eine positive Botschaft ausgehen; Otto Frank ging es um internationale Zusammenarbeit, wechselseitiges Verständnis, Toleranz, Bekämpfung des Rassenwahns, Versöhnung. Diese Botschaft ist angekommen und wird auch mit der Nürnberger Ausstellung viele, hoffentlich im Besonderen junge Menschen, erreichen, ergreifen, aufrütteln. “Wie dieses Mädchen uns beschämt” – in einer Zeit, Welt und Gesellschaft, die immer noch dem fern steht, was Albrecht Goes im Vorwort der ersten deutschen Ausgabe des “Tagebuchs” feststellte: “Dieses Buch, das ohne jede falsche Zutat die Wahrheit sagt, nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit.” Wahrlich eine Geschichte für heute!
Man kann sagen, dass es wohl kein Zeugnis aus der Zeit des nationalsozialistischen Terrors gibt, das weltweit so nachhaltig Empathie mit den jüdischen Opfern hervorrief und im Mitleiden eigenes Engagement für eine bessere Welt bewirkte – ein humanes Vermächtnis, von dem der niederländische Publizist Jan Komein 1946 in einem Artikel, welcher der Veröffentlichung des “Tagebuchs” den Weg bereitete, schrieb, dass es dabei helfe, den “Kampf gegen das Tier im Menschen” nicht verloren gehen zu lassen. Quantitativ gesehen: Das Buch ist in Millionen Exemplaren verbreitet; es ist eine viel verwendete Schullektüre in den Gymnasien und Gesamtschulen; den Namen Anne Frank tragen auf der ganzen Welt Schulen, Straßen, Kinderdörfer, Kirchen. Auf den Erfolg der Bühnenfassung wurde schon hingewiesen; auch der Film war äußerst erfolgreich. Tausende von Briefen erreichten die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam, die einen großen Andrang von Besuchern verzeichnet. Viele Bücher beschäftigen sich mit dem Schicksal des ermordeten Mädchens. Der Name “Anne Frank” muss mit rechtlichen Mitteln sogar laufend wie ein Markenzeichen vor Plagiaten und Missbrauch geschützt werden, so zum Beispiel, wenn ein Textilproduzent in China seine T-Shirts unter dem Namen “Anne Frank” auf den Weltmarkt zu bringen sucht.
Anne Frank – nicht nur eine Geschichte für heute, sondern auch eine Geschichte, die in den Sog des Medienzeitalters geriet. Ist es kleinlich zu fragen, wie viel diese Form der kollektiven Verehrung noch mit der realen Erfahrung Anne Franks und dem Wortlaut ihres Tagebuches, mit dem, was sie persönlich beschäftigt hat, zu tun hat? Hanno Loewy, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts (des “Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung des Holocaust” in Frankfurt am Main) spricht von einer mythischen “Universalisierung” und moralischen Vermarktung der Anne Frank, mit der Gefahr, dass viele, die sich mit ihr emotional identifizieren, rasch – zu rasch – sich entsühnt fühlen. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, beklagt, dass Annes Geschichte unter den Händen geschäftstüchtiger Strategen zum Rührstück zu verkommen drohe, zum geradezu rituell gehandhabten Betroffenheitstext; jüdisches Schicksal wird nun aus der Stigmatisierung in die Auserwähltheit gerückt.
Anne Frank selbst hat sich widersprüchlich dazu geäußert, was sie nach der erhofften Befreiung aus ihrem Versteck mit den Aufzeichnungen tun wolle. Zum einen erstrebte sie einen publizistischen Beruf, wollte nach dem Krieg ein Buch über ihr Leben im Hinterhaus veröffentlichen; zum anderen wollte sie dafür sorgen, dass niemand das Tagebuch in die Hände bekomme.
Wahrscheinlich hätte sie nicht der Fassung zugestimmt, die zunächst ihr Vater zusammenstellte – und zwar aus einer Version von drei Heften, einer veränderten Abschrift auf losen Blättern und schließlich einzelnen ausformulierten Geschichten. Die Gründe für die harmonisierenden und Familienprobleme aussparende Redigierung durch Otto Frank sind durchaus verstehbar; man muss sich auch die Qualen vorstellen, als er, der einzig Überlebende der Familie, das Tagebuch seiner Tochter las. Doch tritt erst aus den gesamten Tagebüchern, wie sie in einer kritischen Ausgabe des “Niederländischen Staatlichen Instituts für Kriegsdokumentation” seit 1988 vorliegen, die wirkliche Anne Frank voll in Erscheinung: Eine durch die Erfahrung von Leid und Angst gezeichnete Frühvollendete, die sich zugleich durch einen unsentimentalen Realismus und skeptischen Humor auszeichnet, deren frühreife Lebenserfahrung nicht geglättet und harmonisiert ist. Sie scheut sich nicht, die problematischen Familienverhältnisse zu benennen, setzt sich mit ihrer Sexualität auseinander, blickt tapfer in den Abgrund (die Kunde von den Massenmorden und Vergasungen hat das Versteck längst erreicht); sie weiß radikal zu formulieren – etwa, was die Deutschen und Deutschland betrifft. Durch eine neue Übersetzung wurden auch die unverzeihlichen Retuschierungen der ersten Übersetzerin beseitigt. Aus der enttäuscht-unerbittlichen Feststellung etwa: “Es gibt keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden” war die besänftigende geworden: “Eine größere Feindschaft als zwischen diesen Deutschen und den Juden gibt es nicht auf der Welt”. Aus Anne Franks Notiz: “Ich habe wieder etwas gelernt, Bordell und Kokotte, ich habe ein extra Büchlein dafür angeschafft”, machte die Übersetzerin: “Für Fremdwörter und Aussprüche habe ich mir ein besonderes Heft angelegt.” Dies nur pars pro toto – das “Gesamte” ergäbe eine lange Liste von Verfälschungen.
Wenn wir uns heute mit dem Tagebuch der Anne Frank beschäftigen, dann nicht mehr in Form einer die unverfälschte Offenheit meidenden, aus einem restaurativen Zeitgeist heraus besänftigten, geglätteten, aus uneinheitlichen Versionen zu einer geschönten Einheit kompilierten Fassung, sondern mit einer Geschichte, die nun – und damit gewinnt das Wort von Albrecht Goes eine neue Bedeutung – ein literarisches Meisterwerk darstellt, “das ohne Zutat die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit”.
Das literarische Meisterwerk schließt freilich die tief greifende Herausforderung ein, aus dem Bannkreis der “Literarisierung” immer wieder herauszutreten, um sich das ganze Ausmaß der Banalität des Bösen in ihrer gemeinsten Entartung zu vergegenwärtigen. Deshalb mischt die Ausstellung das Persönliche und Literarische mit Fakten und Dokumenten.
Die Leiden der Anne Frank – ein Leben in Angst vor dem Entdecktwerden, den Tod ständig vor Augen – kann man als Geschichte noch auf eine Weise mitfühlen, dass man mit der äußersten Dimension von Entwürdigung und Zerstörung nicht konfrontiert wird. Doch sollte die autobiographische Geschichte den Nachgeborenen dazu verhelfen, nicht nur von einer Geschichte angerührt zu werden, sondern darüber hinaus sich dem zu stellen, was sich der Literarisierung entzieht und nie historisiert werden darf: es betrifft die ungeschriebenen und unschreibbaren Kapitel des Tagebuchs. Eine in der Ausstellung zitierte Zeitzeugin der Massenvernichtung, die Auschwitz überlebt hat, spricht es aus: “Man bekam zunächst das Wort nicht über die Lippen. Es ist immer noch schwierig. Heute spreche ich es aus: ‘Vergast’. Denn es ist so.”
Über die Unmittelbarkeit des Grauens kann in einem Vortrag anlässlich der Vernissage wohl kaum reflektiert werden; sie ist Sache des lapidaren Berichts. Nachfolgend Hannah Pick, eine Kinderfreundin von Anne Frank und ihrer Schwester Margot, die ebenfalls in Bergen-Belsen war, aber der Vernichtung entging. Anfang 1945 sprach sie zum letzten Mal mit Anne Frank – durch einen Stacheldrahtzaun getrennt. “Das war nicht dieselbe Anne, die ich gekannt habe. Sie war ein gebrochenes Mädchen. … Sie fing sofort an zu weinen und erzählte mir: ‘Ich habe keine Eltern mehr!’ “¦ Sie dachte, ihr Vater sei sofort vergast worden “¦ Wir standen also da, zwei junge Mädchen, und wir weinten “¦ Dann sagte sie: ‘Wir haben überhaupt nichts zu essen hier, fast nichts, und wir frieren, wir haben überhaupt keine Kleider, und ich bin sehr mager, und man hat mich kahlgeschoren.’ “¦ An irgendeinem Zeitpunkt in den letzten Tagen stand Anne in eine Decke gehüllt vor mir.
Sie hatte keine Tränen mehr, ach, die hatten wir längst nicht mehr. “¦ Es war ein harter Winter, und sie war in eine einzige Decke gehüllt. Ich habe alles, was ich finden konnte, zusammengerafft, um es ihr zu geben, so daß sie wieder angezogen war. Zu essen hatten wir selbst auch nicht viel “¦ aber ich habe Anne etwas von unserer Brotration abgegeben. Es sind schreckliche Dinge passiert. Zwei Tage später bin ich hingegangen, um nach den Mädchen zu schauen. Sie waren beide tot!”
Doch kehren wir noch einmal zum “Tagebuch” zurück: Kurz nach dem Satz, mit dem die Bühneneinrichtung des Tagebuchs endet, Eintrag vom 15. Juli 1944 – “Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen” -, stehen Sätze, die wir beherzigen und in unser Gehirn fest einschreiben müssen, wollen wir uns nicht in der Apokalypse, die wir inzwischen selbst herstellen können, bewusstlos und widerstandslos einrichten: “Es ist mir nun mal unmöglich, alles auf der Basis von Tod, Elend und Verwirrung aufzubauen. Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit. Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird, dass wieder Ruhe und Frieden in die Weltordnung kommen werden.” Solcher Mut, solche Kraft fällt uns aber nicht zu, dafür müssen wir einstehen, dazu müssen wir uns aufraffen.
Mit Günter Eich gesprochen:
“Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind.
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen
gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!”