Wie Menschenrechte und Arbeitswelt zusammengehen – Der Vorsitzende des NMRZ – Dr. Michael Krennerich – im Interview mit ver.di
(Quelle: Use-Letter, ver.di Bildung, Haus Brannenburg, Nr. 12/2014, 1.12.2014, abrufbar unter http://www.haus-brannenburg.de/newslettersolution/newsletter_12-2014.htm#Themen)Menschenrechte und Arbeitswelt gehen – zumindest im europäischen Kontext – für viele Beschäftigte inhaltlich nicht zusammen. Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?
Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass Arbeitsrechte und gewerkschaftliche Forderungen auf der einen Seite und Menschenrechte und menschenrechtliches Engagement auf der anderen Seite zwei unterschiedliche „Welten“ darstellen. Inhaltlich sind beide jedoch eng miteinander verbunden. Die Rechte auf Arbeit, auf gerechte und faire Arbeitsbedingungen sowie auf soziale Sicherheit sind fester Bestandteil des internationalen Menschenrechtskanons. Zugleich verbürgen und konkretisieren zahlreiche ILO-Konventionen, samt der dazu gehörenden Empfehlungen, ganz erheblich diese Rechte. Daher wäre es hilfreich, wenn Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen enger zusammenarbeiten und sich beide sowohl auf völkerrechtlich verbriefte Menschenrechte als auch auf ILO-Standards berufen würden.
Auch wenn Menschenrechte universell sind – muss man in der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Menschenrechten und Arbeitswelt zwischen Industrienationen einerseits und Entwicklungs-/Schwellenländern andererseits unterscheiden? Wenn ja – inwiefern?
Die Menschenrechte – wie auch die ILO-Standards – verankern im Bereich der Arbeit ganz grundlegende Rechte eines jeden einzelnen Menschen, wie die Verbote der Sklaverei, der Zwangsarbeit, der ausbeuterischen Kinderarbeit oder auch von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf. Auch die Gewerkschafts- und Streikfreiheit oder Forderungen nach Entgeltgleichheit und nach menschenwürdigen und sicheren Arbeitsbedingungen gehören dazu. All diese Rechte können nicht auf begründete Weise nur für einen Teil der arbeitenden Menschen eingefordert werden und für andere nicht. Zu grundlegend sind diese Rechte für die Menschenwürde. Die Menschenrechte stellen daher universelle, an der Menschenwürde orientierte Prüfmaßstäbe und Handlungsgebote dar, die auf die besonderen Zustände in den jeweiligen Ländern anzuwenden sind. Unterschiede vor Ort zeigen sich dann hinsichtlich der menschenrechtlichen Brisanz der Probleme und hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen, die Probleme anzugehen und zu überwinden.
Wo liegen die aktuellen Herausforderungen und Probleme in diesem Kontext – sowohl international gesehen als auch Deutschland betreffend?
Gut dokumentiert sind die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen in vielen Teilen der Welt – beispielsweise in der Landwirtschaft bei der Ernte von Baumwolle, Kaffee, Kakao, Zuckerrohr und Tabak, in Fabriken und Betrieben bei der Herstellung von Teppichen, Textilien, Sportartikeln und Spielzeug oder auch in Minen beim Abbau von Bodenschätzen. Mitunter arbeiten die Menschen dort sogar unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen. Auch ansonsten bilden Hungerlöhne, überlange Arbeitszeiten, hohes Arbeitssoll, Fertigungen im Akkordmarathon und ungenügende Sicherheitsmaßnahmen den Arbeitsalltag in vielen Betrieben weltweit ab. Dabei besteht in Entwicklungsländern die zusätzliche Schwierigkeit, dass in der gesamten Wirtschaft im großen Stil informell gearbeitet wird.
Solche Zustände sind eine gewaltige Herausforderung, und zwar nicht nur für die Staaten, denen völkerrechtlich die Hauptverantwortung für die Umsetzung der Menschenrechte zukommt, sondern auch für die jeweiligen Gesellschaften, für Wirtschaftsunternehmen sowie für die internationale Gemeinschaft als Ganze. Sie alle beeinflussen im Positiven wie im Negativen die Umsetzung der Menschenrechte im Bereich der Arbeit. Die politischen Entscheidungsträger in Deutschland und der EU, die weltweit tätigen deutschen Unternehmen und wir als Verbraucher müssen uns daher der Mit-Verantwortung für die Arbeitszustände in anderen Ländern stellen.
Und zugleich müssen wir uns den menschenrechtlichen Problemen in der Arbeitswelt hierzulande zuwenden. Sie reichen von extremen Beispielen wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung von Menschen, teils verbunden mit Menschenhandel, bis hin zu alltäglichen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Arbeit, etwa von Frauen, älteren Menschen oder Migrantinnen und Migranten. Selbst verfassungskonforme Regelungen können menschenrechtlich umstritten sein. So kollidiert etwa das generelle Streikverbot in Deutschland für alle Beamtinnen und Beamten (gerade für jene, die keine hoheitlichen Funktionen ausüben) mit der Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention.
Wer nimmt sich als NGO dieses Themenkomplexes an? Amnesty steht für die Themen Folter, Meinungsfreiheit, Todesstrafe … zum Komplex MR und Arbeitswelt kennt man kaum Akteure.
Weltweit gibt es – neben Gewerkschaften – schier unzählige Organisationen, Netzwerke und Bewegungen, die sich für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte einsetzen, deren Engagement aber hierzulande öffentlich kaum wahrgenommen wird. Selbst unter den im bundesweiten Netzwerk „Forum Menschenrechte“ zusammengeschlossenen 53 Organisationen, die insgesamt zum gesamten Menschenrechtsspektrum arbeiten, sind der breiten Öffentlichkeit nur einige große bekannt. Dazu zählt nicht zuletzt die von Ihnen erwähnte Organisation Amnesty International. Umso wichtiger ist, dass inzwischen auch Amnesty zu wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten arbeitet und zuletzt etwa die menschenunwürdigen Bedingungen für Wanderarbeiter auf den Baustellen für die WM 2022 in Katar scharf kritisiert hat.
Wie kann man ein so komplexes Thema wie Menschenrechte und Arbeitswelt für die (gewerkschaftspolitische) Bildungsarbeit aufbereiten? Was sollen/müssen Arbeitnehmer wissen, um zu erkennen und ggf. zu handeln? Welche Didaktik liegt grundsätzlich der Menschenrechtsbildung zugrunde?
Ich glaube, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben ein feines Gespür dafür, was gerechte und ungerechte, menschenwürdige und -unwürdige Arbeitsbedingungen ausmachen. Daran kann die Bildungsarbeit ansetzen und für aktuelle Problemlagen und Unrechtserfahrungen, vor allem von besonders „verletzlichen“ Gruppen, sensibilisieren. Bei der Menschenrechtsbildung, auch in Betrieben, geht es daher nicht einfach nur um die Vermittlung von Menschenrechtswissen, sondern immer auch um die Stärkung von Menschenrechtsbewusstsein. Um ein besseres Verständnis der Ursachen und Folgen von Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Arbeit. Um eine kritische Sichtweise auf die Arbeitswelt und größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Zugleich kann Bildungsarbeit Wege aufzeigen, wo und wie sich die Menschen für die Rechte in und bei der Arbeit einsetzen können.
Wie sieht die Perspektive aus: Wird das Thema im Zuge fortschreitender Internationalisierung und Globalisierung akuter – im Sinne von bedrohten Menschenrechten in der Arbeitswelt? Wie kann dem entgegen gesteuert werden?
Ich habe schon den Eindruck, dass die sozialen Verwerfungen der wirtschaftlichen Globalisierung zusehends kritisch betrachtet werden. Allein ich bin skeptisch, ob die politischen Entscheidungsträger auf nationaler und internationaler Ebene fähig oder auch nur willens sind, regulierend und steuernd tatkräftig einzugreifen und die fortschreitende Globalisierung menschenrechtlich einzuhegen und zu gestalten.
Im Hinblick auf die Menschenrechte bieten momentan die „UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte“ immerhin eine Gelegenheit, Veränderungsimpulse anzustoßen. Sie nehmen die Staaten in die Pflicht, die Menschen vor Menschenrechtverstößen durch Unternehmen zu schützen und fordern die Unternehmen auf, die Menschenrechte nicht selbst zu verletzen. Vor kurzem fand die Eröffnungskonferenz zur Erstellung eines „Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte“ für Deutschland statt. In den zweijährigen Prozess sind u.a. verschiedene Regierungsressorts, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen eingebunden. Man darf gespannt sein!