Gemählich, Matthias: Frankreich und der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46, Berlin etc. (Peter Lang) 2018, 391 Seiten

28. Januar 2019 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit, Rezensionen

von Rainer Huhle

 

Zum 70. Jahrestag des Beginns des Nürnberger „Internationalen Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher“ (IMT) hat das Nürnberger Menschenrechtszentrum 2015 sich mit den vier Anklägern befasst, die damals die Beweise gegen die NS-Verbrecher zusammentrugen und sie in die Sprache eines teilweise erst entstehenden internationalen Strafrechts übertrugen.[1] Die Eröffnungsrede und überhaupt die Rolle des amerikanischen Anklägers Robert H. Jackson waren und sind relativ bekannt, obgleich auch hier immer noch viel im Detail zu klären ist. Über die britische, russische und französische Position im IMT wusste man weit weniger. Wir hatten das große Glück, für den Teil über die französische Anklage mit dem Nürnberger Historiker Matthias Gemählich einen der ganz wenigen wirklichen Kenner dieses Kapitels französischer Geschichte gewinnen zu können. Inzwischen hat Matthias Gemählich eine erste umfassende Gesamtdarstellung der französischen Rolle im IMT vorgelegt, und zwar von den ersten Überlegungen innerhalb der Regierung des „freien Frankreich“ des Generals de Gaulle über die – späte – Beteiligung an der Londoner Konferenz, die das Statut des Tribunals beschloss, die im kriegsgeschädigten Frankreich schwierige Zusammenstellung der französischen Vertretung in Nürnberg, die politische und juristische Konzeption der Anklage und die Rolle der französischen Richter bei der Urteilsfindung bis hin zu den Folgen des Prozesses für die gerichtliche und politische Aufarbeitung der Vergangenheit in Frankreich.

Frankreich war unter den vier Alliierten, die in Nürnberg zu Gericht saßen, der Juniorpartner, erst spät überhaupt zugelassen, und mit erheblichen logistischen Mühen kämpfend. Gemählich macht deutlich, dass die Rolle Frankreichs dennoch nicht unterschätzt werden darf, und dass die Vertreter Frankreichs in wichtigen Punkten eigenständige, zum Teil von anderen Mächten abweichende Positionen einbrachten. Im juristischen Bereich sträubten sich die französischen Vertreter vor allem gegen die amerikanischen Konzepte in der Anklage, die von einer umfassenden Verschwörung der Nazis ausgingen und gegen die Anklage wegen des Angriffskriegs, die erstmals in Nürnberg vorgetragen wurde. Für die französischen Juristen waren das unzulässige Vermischungen von rechtlichen und politischen Vorwürfen, die mit ihrem positivistischen Rechtsverständnis nicht vereinbar waren.  Im gleichen Geist hatten sie sich auch schon gegen alle von den anderen Mächten gelegentlich ins Spiel gebrachten Vorschläge gewehrt, die NS-Verbrecher ohne förmliches Verfahren zu bestrafen. Bemerkenswert ist dies insofern, als die französischen Ankläger am IMT durchwegs aus Mitgliedern der Résistance oder zumindest Gegnern des mit Nazi-Deutschland kooperierenden Vichy-Regimes bestanden. Im Gegenzug waren es die Franzosen, die am dezidiertesten die – ebenfalls neuartige – Anklage wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vertraten, wie sie etwa der Hauptankläger de Menthon schon in seiner Eröffnungsrede emphatisch vortrug. Dies ist insofern bemerkenswert, als gerade dieser Anklagepunkt durch das Londoner Statut ja erst konzipiert worden war (von einigen Vorläufern abgesehen). Die französischen Juristen hatten, so Gemählich, über den Gehalt dieses Anklagepunkts denn auch zunächst recht verschiedene Meinungen. Sie, und allen voran François de Menthon, konnten sich aber letztlich trotz Bedenken wegen einer möglichen Anwendung nachträglich formulierten Rechts auf die Notwendigkeit und Bedeutung dieses Anklagepunkts einigen. Denn alle damit erfassten Tatbestände waren ja ohnehin überall strafrechtlich erfasst, es schien ihnen aber notwendig, die NS-Verbrechen, die weit über den Katalog der bekannten Kriegsverbrechen hinausgingen, auch begrifflich von diesen zu unterscheiden.

Wie Gemählich zeigen kann, trugen die französischen Ankläger, trotz der prekären Bedingungen, unter denen sie im Vergleich vor allem zu den Amerikanern arbeiteten, auch umfangreiches und wesentliches Beweismaterial für die Anklagepunkte zusammen, für die sie nach der vereinbarten Arbeitsteilung zwischen den vier Anklägern zuständig waren. Anders als wiederum vor allem die Amerikaner, war für Frankreich auch die Präsentation von Schlüsselzeugen für die Verbrechen in den Konzentrationslagern wichtig.

Gemählich arbeitet aber auch die Divergenzen innerhalb der französischen Positionen heraus. Während z.B. der französische Ankläger für sämtliche Angeklagten die Todesstrafe forderte, waren es die beiden französischen Richter, insbesondere Donnedieu de Vabres, zweifellos der prominenteste Jurist auf der Richterbank, die konsequent für mildere Strafen stimmten. Über de Vabres eigenwillige Positionen ist im Zusammenhang mit seinem „neutralen“ Verhalten während der NS-Zeit oft spekuliert worden. Gemählich gelingt hier erstmals eine plausible Interpretation des Auftretens des Professors.

Abgerundet wird Gemählichs Darstellung der französischen Beteiligung am IMT durch einen Ausblick auf die Nachwirkungen des Prozesses für Frankreich. Dabei nimmt der Autor sowohl die – gescheiterten – Bemühungen um einen weiteren internationalen Prozess als auch die Prozesse, die Frankreich auf Basis des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in seiner deutschen Besatzungszone durchführte in den Blick, aber auch die Bemühungen um einen ständigen internationalen Strafgerichtshof, für den französische Diplomaten in der UNO früher als andere stritten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Arbeit von Matthias Gemählich nicht nur eine verwunderliche Forschungslücke mit hoher Kompetenz schließt, sondern auch unser Gesamtbild dieses Prozesses in wichtigen Punkten erweitert und differenziert.

[1] Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrg.): Die Reden der Hauptankläger im Nürnberger Prozess – Neu gelesen und kommentiert, Hamburg (EVA) 2015, s. https://www.menschenrechte.org/blog/2016/04/18/die-reden-der-hauptanklaeger-im-nuernberger-prozess-neu-gelesen-und-kommentiert/

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