Rezension zum Buch von Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020

24. November 2021 | Von | Kategorie: Rezensionen, Amerika

Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020, Bielefeld (Transcript) 2021, 642 Seiten

von Rainer Huhle

 

„Die Colonia Dignidad war nach innen eine kriminelle Gemeinschaft und nach außen eine international agierende kriminelle Vereinigung.“

Mit diesem lakonischen Satz eröffnet der Berliner Politikwissenschaftler Jan Stehle sein Buch über die „Colonia Dignidad“, in dem er dann auf über 600 Seiten alle Facetten dieser verbrecherischen Organisation ausleuchtet. Es ist keineswegs das erste Buch über die Colonia, auch auf dieser Webseite wurden schon mehrere vorgestellt.[1] Aber Stehles Buch ist nicht nur das bisher umfangreichste. Es stellt nichts weniger als die Summe des derzeit verfügbaren Wissens über diese kriminelle Vereinigung dar, das der Autor in vielen Jahren systematisch zusammengetragen, bewertet und geordnet hat. Warum dieses Wissen bis heute begrenzt ist, obwohl die 1961 gegründete Colonia offiziell bereits 1991 aufgelöst wurde, ist selbst ein gewichtiges Thema in Stehles Buch: Das lange fünfte Kapitel beschreibt ausführlich die unzureichenden, immer wieder stockenden Ansätze zur politischen und rechtlichen Untersuchung der Verbrechen der Colonia seitens der chilenischen wie auch der deutschen Behörden. Vor allem die deutsche Seite bemühte sich nach dem Ende der Diktatur fast ausschließlich um die auf dem Gelände der Colonia verbleibenden Sektenmitglieder, unterstützte deren Bemühungen um eine Nachfolgestruktur der Colonia Dignidad, einschließlich der hierarchischen Machtstrukturen und ihres finanziellen Unterbaus, und verhinderte so einen radikalen Neuanfang. Zur Aufklärung und Ahndung der begangenen Verbrechen trug sie hingegen nichts bei, im Gegenteil können bis heute selbst in Chile verurteilte Führungspersonen der Colonia in Deutschland vor Strafverfolgung sicher sein. Auch in Chile haben Justiz und die übrigen staatlichen Behörden längst nicht mit dem nötigen Nachdruck die Strafverfolgung und vor allem die Auflösung der Machtstrukturen der Colonia betrieben. Insofern ist auch Stehles gründliche Aufarbeitung der Colonia von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, auch wenn sie alle verfügbaren Quellen einbezieht, notwendigerweise ein Werk mit offenem Ende, wie der Autor gleich zu Beginn deutlich macht.

Das Buch ist in fünf große Kapitel gegliedert (neben einer Einleitung und einer Zusammenfassung). Im ersten Kapitel macht Stehle zunächst klar, was er unter dem titelgebenden Begriff „Der Fall Colonia Dignidad“ versteht: „… die Summe aller Vorgänge, inklusive der Verbrechen, die sich im Zusammenhang mit der ab 1961 von Siegburg nach Chile emigrierten Personengruppe um Paul Schäfer ereignet haben.“ (S.26) Damit ist von vornherein klar, dass die deutschen Wurzeln und fortwährenden Verbindungsfäden zwischen Deutschland und Chile Teil dieses „Falles“ sind. Die „Akteure“ dieses Falls, die Stehle im Lauf der Untersuchung näher in den Blick nimmt, teilt er in drei Gruppen: Die Mitglieder der Colonia samt ihrem Unterstützerumfeld; die „Aufklärer_innen“, einschließlich abgesprungener Mitglieder der Colonia; und die große Gruppe der diversen staatlichen Akteure in Chile und Deutschland. Ausführlich macht Stehle anschließend die Quellen transparent, auf die sich seine Untersuchung stützt, aber auch die, zu denen ihm der Zugang verwehrt worden ist bzw. von denen zu vermuten ist, dass sie vernichtet worden sind. Neben der Sekundärliteratur und der Presseberichterstattung sind das vor allem Quellen deutscher und chilenischer Behörden, solche der Colonia selbst, sowie Zeugnisse von Betroffenen und andern Zeitzeugen. Zu Recht hebt Stehle hier das vor einigen Jahren zugänglich gewordene „Geheimarchiv“ der Colonia hervor, das die systematische Informationsstrategie der Colonia u.a. durch eine riesige „Datenbank“ belegt, in der die Führungsriege der Colonia Informationen sowohl über Gegner wie über Verbündete sammelte. Ausführlich beschreibt der Autor auch die enormen Schwierigkeiten für ihn als unabhängigen Forscher, die Aktenbestände ausfindig zu machen und Zugang an sie zu erhalten. Trotz des Informationsfreiheitsgesetzes von 2006 waren die Schwierigkeiten dabei groß und der Autor nur teilweise erfolgreich. Es ist das besondere Verdienst Jan Stehles, dass er sich hier durch ständige Rückschläge nicht entmutigen ließ, mehrfach den Klageweg beschritt und in seiner langjährigen, mühseligen Forscherarbeit doch zu Ergebnissen kam, die wir ohne diese Hartnäckigkeit bis heute nicht hätten.

Im folgenden Kapitel beschreibt Stehle Entstehung, Rechtsformen und Eigentumsstrukturen der Colonia, wiederum mit Blick auch auf die deutschen Strukturen. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei einem oft vernachlässigten Aspekt: den komplexen Besitzverhältnissen. War die Colonia zu Beginn eine, man mag es kaum glauben, „gemeinnützige Organisation“ mit entsprechenden steuerlichen und sonstigen Vorteilen und praktisch ohne jede behördliche Kontrolle; so musste das bestehende große Vermögen nach dem Ende der Diktatur kunstvoll verschleiert werden, ohne dass die darauf basierenden Machtstrukturen wirklich zerstört worden wären. Dass die alte Regel „Follow the money“ im Fall der Colonia so eklatant missachtet wurde, ist eine der Ursachen für deren langes Leben.

Es folgen die beiden zentralen, umfangreichsten Kapitel des Buches, in denen der Autor die Verbrechen der Colonia und deren (unzureichende) juristische und politische Durchleuchtung analysiert. Schon die Sexualdelikte des Sektengründers Paul Schäfer in Deutschland, die ihn 1961 zur Flucht nach Chile und anschließend der Neugründung seiner „Gemeinschaft“ veranlassten, wurden nie wirklich juristisch aufgearbeitet. In Chile baute Schäfer mit seinen Getreuen dann mit der „Wohltätigen Erziehungsgesellschaft Würde“ (SBED) die perfekte Fassade für seine multikriminelle Vereinigung auf, in der zur Systematisierung der Sexualverbrechen Freiheitsberaubung, Kindesentführung, Zwangsarbeit, Psychoterror, Folter, Mord, Erpressung und Betrug kamen. Das ganze kriminelle System blieb während der 17-jährigen Pinochetdiktatur unangreifbar, auch dank weiterer Verbrechen wie dem Verschwindenlassen von Oppositionellen oder illegalem Waffenhandel. Viele dieser Verbrechen waren auch früher denunziert worden, manchmal sogar in großen Medien wie dem Spiegel oder dem Stern, doch mangels Konsequenzen und der Blockade weiterer Information gerieten sie meist auch schnell wieder in Vergessenheit. Stehle gibt nun auf rund 60 Seiten einen Überblick über die Verbrechen der Colonia, mit zahlreichen genau dokumentierten Fallbeispielen, überschreibt dieses Kapitel aber dennoch vorsichtig als „Der bisherige Kenntnisstand über die Verbrechen der Colonia Dignidad“, einmal mehr auf die mangelnde Aufarbeitung verweisend.

Das umfangreichste Kapitel ist einer minutiösen juristischen und parlamentarischen Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia gewidmet, dokumentiert u.a. in genauen umfangreichen Tabellen. In Chile gab es seit 1966, also schon wenige Jahre nach Gründung der Colonia, erste Strafverfahren: Eines gegen die Colonia, das bald eingestellt wurde, und eines gegen den aus der Colonia geflüchteten Wolfgang Müller wegen Verleumdung und Rufschädigung der Colonia, das diesem eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren einbrachte. Es dauerte viele Jahre nach dem Ende der Diktatur, ehe die chilenische Justiz einige der Hauptverantwortlichen des „Systems Colonia“ verurteilte. In Deutschland führte keine einzige Anzeige gegen Mitglieder der Colonia zu einem Hauptverfahren, nach unzureichenden Ermittlungen wurden alle Verfahren meist sehr bald eingestellt. 20 Jahre hingegen hielt die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Amnesty International und den Stern aufrecht, das die Colonia 1977 wegen der – erwiesenen – Behauptung angestrengt hatte, dass in der Colonia gefoltert wurde. Eingestellt wurde das Verfahren 1997 auch nur, weil es den Kläger, die Colonia, in der einstigen Rechtsform nicht mehr gab.

Parallel zu der Dokumentation der – völlig unzureichenden – juristischen Verfolgung der Colonia-Verbrechen dokumentiert Stehle auch systematisch die Ansätze für Untersuchungen durch die beiden Parlamente, die ebenfalls kaum Ergebnisse brachten. Die zahllosen Erkenntnisse über das Versagen der deutschen Regierung, insbesondere auch der deutschen Botschaft in Chile, streut er hingegen immer wieder in seine Darstellung der Akteure, der Verbrechen und der mangelden Aufklärung und Unterstützung der Opfer ein, am systematischsten in dem abschließenden Kapitel, in dem er „Fünf historische Phasen des Falls Colonia Dignidad“ unterscheidet, sowie in seiner Zusammenfassung, wo der deutschen Diplomatie erstmals ein eigenes Kapitel gewidmet ist. In seiner Darstellung der fünf Phasen des Umgangs mit Colonia von ihrer Entstehung in den fünfziger Jahren in Deutschland bis zu ihrer heutigen Gestalt als „Villa Baviera“, die also einen Zeitraum von ca. 70 Jahren umfassen, wird das ganze Elend dieses Umgangs, vor allem auf deutscher Seite, peinlich sichtbar. Stehle weist immer wieder im Detail nach, was die Justizbehörden und die deutsche Diplomatie – das Amt wie die Botschaften – wussten und wie sie dennoch nicht handelten. Die Begründungen dafür, oder auch die Gründe, mochten über die Jahre wechseln, das Ergebnis blieb unterm Strich das Gleiche.

Wer die Geschichte des Umgangs der westdeutschen Justiz und der wichtigen Bundesministerien mit dem Nationalsozialismus ein bisschen kennt – sie ist ja in den letzten Jahren in einer Reihe von verdienstvollen Einzelstudien, darunter auch „Das Amt“, also das AA, wissenschaftlich erforscht worden , der wird erschreckende Parallelen finden. Nur dass es hier nicht um die Verteidigung von Interessen ehemaliger NS-Funktionäre ging – Stehle räumt auch mit dem Gerücht von der Nazi-Verbindung der Kolonie auf -, sondern um eine kriminelle Struktur, die auf einem Verbrechen gegründet ist, das eigentlich in der Gesellschaft besonders tabuisiert ist, dem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Es ist gut, dass der Autor sich am Ende seiner Darstellung nicht in allgemeine Hypothesen über die Hintergründe der langjährigen Komplizenschaft mit den Verbrecher_innen der Colonia stürzt, sonder, getreu dem nüchternen, präzisen Duktus des gesamten Buches auch hier schlicht feststellt, was noch zu tun ist: 1. eine umfassende Durchleuchtung der Geschehnisse und Verantwortlichkeiten, z.B. durch eine Wahrheitskommission; 2. die Offenlegung sämtlicher noch verfügbarer Akten, nicht zuletzt bei den Geheimdiensten; 3. eine angemessene Entschädigung der Opfer; 4. eine adäquate juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia, mit Blick auf ihren Charakter als kriminelle Organisation, nicht als neutrale Organisation, in der Einzelne Verbrechen begingen; und 5. einen Umgang mit dem heutigen Gelände der Colonia, der in würdiger Weise der Erinnerung an die vielen verschiedenen Opfer gerecht wird. Letzteres setzt voraus, so Stehle, dass auch die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse der heutigen Führungspersonen in der „Villa Baviera“ transparent gemacht werden.

„Der Fall Colonia Dignidad” ist ein ebenso beeindruckendes wie bedrückendes Buch. Die ungeheure Stofffülle, die Jan Stehle hier in langjähriger Kleinarbeit zusammengetragen hat, macht es zu einem Nachschlagewerk für alle, die an diesem beschämenden Kapitel bundesdeutscher Geschichte näher interessiert sind. Auch wenn der Verlag dem Buch leider keinen Sach- oder Personenindex beigegeben hat, erschließt seine klare und detaillierte Gliederung diesen Fundus an zu einem erheblichen Teil bisher unerschlossenen Quellen dennoch gut. Sprachlich übt sich der Autor in wissenschaftlicher Zurückhaltung, auch da, wo einem als Leser das kalte Entsetzen kommen mag, formuliert aber präzise und ohne Scheu, wo es die Sache erfordert. Das Buch darf als die Summe unseres Wissens über die Colonia gelten und verlangt doch, wie Stehle in seiner Schlussbemerkung sagt, „weitere wissenschaftliche Erforschung“ der Colonia. Sein Buch wird die Ausgangsbasis für jede künftige solche Anstrengung sein.

 

 

[1] https://www.menschenrechte.org/de/2012/05/25/uberleben-in-der-colonia-dignidad-3/;
https://www.menschenrechte.org/de/2010/06/14/olvido-derechos-humanos-un-libro-sobre-la-colonia-dignidad/; https://www.menschenrechte.org/de/2006/03/15/bucher-colonia-dignidad/; https://www.menschenrechte.org/de/2013/03/27/pinochet-eine-taterbiografie/; https://www.menschenrechte.org/es/2010/06/14/el-olvido-de-los-derechos-humanos-un-libro-sobre-la-colonia-dignidad/;

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